Читать книгу Der Leichenfang - July Johnson - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеWidmung
Ich möchte dieses Buch meinem Mann und meiner Tochter widmen, die während der Erstellung in den letzten Jahren sehr viel Geduld mit mir hatten und vor allem meinem Mann, der während dieser Zeit auch viele Launen ertragen musste.
Sanft rauschten die Wellen an den Ostseestrand, die Sonne stieg leuchtend am Horizont empor und die ersten Möwen zogen ihre Kreise über den kleinen Fischerbooten, die nun unweit der Küste Richtung Heimat schipperten. Noch lag Boiensdorf in tiefer Ruhe, doch schon bald würde dieses malerische und idyllische kleine Fischerdörfchen von Touristen beherrscht werden, die emsig hin und her fuhren, sei es mit dem Auto oder mit dem Rad. Spätestens in zwei Stunden wäre die Ruhe am Strand vorbei und so entschloss sich Tamara, eine junge Frau aus Wismar, die sich hier an diesem malerischen Strand ein kleines Haus gekauft hatte, jetzt noch einen Spaziergang zu machen, solange sie noch für sich alleine war. Tamara Siewert war gerade dreißig Jahre jung und sie liebte das Alleinsein. Sie war Autorin und hatte sich auch genau aus diesem Grund das kleine Häuschen gekauft, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Hier in der Ruhe und der Abgeschiedenheit konnte sie stundenlang ihren Gedanken nachhängen und in aller Ruhe schreiben. Der Erfolg gab ihr Recht, seit sie hier draußen war, hatte sie bereits drei Romane veröffentlicht, die allesamt in den Bestsellerlisten weit oben zu finden waren.
Tamara stieß einen leisen Pfiff aus und schon war Finja an ihrer Seite, ihre weiße Schäferhündin, die sie immer auf Schritt und Tritt begleitete. Sie gingen durch den kleinen Heckenweg, der Tamaras Stück Strand vom Touristenstrom trennte und dann immer am Wasser entlang bis sie an eine seichte Stelle kamen. Hier war Tamaras Lieblingsplatz, hier konnte sie die Seele baumeln lassen, ihren Gedanken nachhängen und einfach auftanken. Und während Finja sich im Wasser tummelte, setzte sich Tamara auf einen umgestürzten Baumstamm, sie ließ ihre Füße ins Wasser hängen und schloss die Augen. Tief atmete sie die klare Morgenluft, diese Stille war einfach herrlich. Sie kam oft hierher, hier konnte sie ihren Erinnerungen an die Zeit nachhängen, als ihre Eltern noch lebten, sie konnte neue Inspirationen sammeln, wenn sie bei einem ihrer Romane mal nicht weiter kam und hier kamen ihr die besten Ideen für ihre Romanfiguren. Sie liebte diesen Platz nicht nur wegen seiner abgeschiedenen und versteckten Lage, auch konnte sie von hier aus ungestört die Touristen am unteren Strand beobachten, was ihr jedes Mal eine große Freude bereitete. Nicht selten kreierte sie hier neue Figuren und Helden für ihre Romane und Kurzgeschichten, auch unzählige Gedichte sind hier entstanden.
Auch in diesem Augenblick dachte sie an ihr neues Buch, sie war sich noch nicht sicher wie sie es schreiben sollte, immerhin, sie hatte zwar eine grobe Handlungsbeschreibung entworfen, doch war sie auch hier noch nicht wirklich sicher, ob ihr diese gefallen sollte oder nicht.
In der Ferne sah sie ein kleines Fischerboot, das gerade ein Netz einholte. So wie sich die Männer an Bord abmühten, musste es ein ganz besonders guter Fang sein und sie freute sich für den Fischer. Als das Netz an Bord war, brach plötzlich hektisches Treiben aus, Schreie drangen aus der Ferne zu ihr herüber, ohne dass sie etwas davon verstehen konnte.
Finja hatte ihre Wasserrunde beendet und so setzen die beiden ihren Weg fort, immer am Strand entlang, bis hin zum Campingplatz. Da Tamara immer noch keine Idee gekommen war, beschloss sie, am Nachmittag noch einmal hierher zurück zu kommen, wenn die Urlauber sich am Strand tummelten. Sie liebte es, den Menschen zuzuschauen, ihre Charaktere zu studieren und unheimlicher weise konnte sie immer genau vorhersagen, was als nächstes passieren würde, was die Leute sagen, wie sie reagieren würden und was sie absolut nicht mögen. Diese Gabe brachte ihr viel Bewunderung ein, vor allem von einem ihrer Freunde, Thorben, der als Polizist im nahe gelegenen Wismar arbeitete. Wie oft schon hatte er den einen oder anderen Fall mit ihr besprochen, wenn er und seine Kollegen absolut im Dunklen tappten. Des Öfteren schon wurde sie von der Polizei offiziell als Beraterin hinzugezogen, wenn sie sich gar zu sehr und zu lange im Kreise drehten. Sie bewunderten die Frau für ihre Gabe, Verbindungen zu sehen, die im Grunde genommen offensichtlich waren und doch im Verborgenen lagen. Natürlich zog die junge Frau auch hierbei ihren Nutzen, denn so bekam sie unzählige Inspirationen für ihre Geschichten und alle ihre Werke enthielten irgendwo ein Stück der hiesigen Polizeiarbeit. Oft saß sie nächtelang mit Thorben am Strand und sie sprachen über Fälle, über Verbrecher im Allgemeinen und ihre Figuren im Besonderen.
Tamara war bereits an der letzten Kurve vor dem unteren Strand angekommen, Finja trottete wie immer brav neben ihr her, als sie in der Ferne das Heulen von Sirenen vernahm. Sie blieb stehen und lauschte angespannt. Es war definitiv ein Polizeifahrzeug und es fuhr unverkennbar mit hohem Tempo in ihre Richtung. Sie ging weiter und als sie die Kurve hinter sich hatte, sah sie am Strand das kleine Fischerboot, welches vorher noch so weit vor der Küste lag. Sie wunderte sich, warum sie so schnell wieder zurückgekehrt waren, schließlich lief dieses Boot normalerweise frühestens in einer Stunde ein, um dann den frischen Fisch direkt vom Boot aus an die Touristen zu verkaufen. Das Boot gehörte einem alten Freund von ihr, Henning. Er war ein Fischer wie aus dem Märchenbuch, seine feste Gestalt und sein zerzauster Bart passten perfekt zu seinem wettergegerbten und vernarbten Gesicht. Henning hatte ihr schon oft geholfen, vor allem nach dem Tod ihrer Eltern war er ihr eine große Hilfe. Ihm hatte sie ihr Häuschen zu verdanken und ihm hatte sie es auch zu verdanken, dass sie mit dem Schreiben begonnen hatte. Wie oft schon war sie mit ihm hinausgefahren, wenn ihr jede Inspiration fehlte oder sie einfach nur mal komplett abschalten und zur Ruhe kommen wollte.
Normalerweise konnte diesen alten Seebären nichts aus der Ruhe bringen, doch nun herrschte hektisches Treiben auf und vor dem Boot und allen stand irgendwie die Angst ins Gesicht geschrieben. Sie sah, wie Henning sich am Bug abstützen musste, um vom Boot zu kommen, er zitterte und sein sonst so braunes Gesicht wirkte weiß. Tamara begann zu laufen, quer über die Salzwiesen, die eigentlich Naturschutzgebiet waren und nicht betreten werden durften. Sie hastete über die Wiesen, nur noch wenige Meter und sie war am Strand. Sie stürmte die letzten Meter bis zum Boot.
„Henning, um Gottes Willen, was ist denn passiert? Was ist denn los? Was ist mit Dir?“
Henning starrte sie mit leerem Blick an und schüttelte nur den Kopf. Sie ließ ihre Blicke durch die Runde schweifen, seine drei Männer standen mit ebenso leerem Blick vor dem Boot und starrten auf einen scheinbar imaginären Punkt auf dem Boot. Einer weißer als der andere, sie schauten so unwirklich aus, das Tamara ein kalter Schauer den Rücken herunter lief. Die Sirenen kamen immer näher und unwillkürlich trat die junge Frau einen Schritt näher ans Boot heran und schaute auf das Netz, welches die Männer vorher so mühevoll an Bord geholt hatten. Vereinzelt zappelte noch der eine oder andere Fisch im Netz, doch das, was sich zwischen den Fischen ihren Blicken offenbarte, entlockte ihr einen kleinen Schrei. Sie sah nicht viel, doch was sie dort sah, das ließ ihr das Blut in den Adern stocken. Eine junge Frau lag dort im Netz, begraben unter einer Vielzahl von Fischen aus den anderen Netzen. Sie war übersät von Wunden und wenngleich kein Blut mehr zu sehen war, so erinnerte der Anblick mehr an eine Schlachtung, denn an einen gewöhnlichen Mord.
Zwei Polizeifahrzeuge fuhren zum Strand herunter und Tamara erkannte im hinteren Fahrzeug ihren Freund Thorben. Innerlich atmete sie auf. Sie ging zu Henning hinüber und nahm schweigend seine Hand. Als wenn sie die Lage erkannt hatte, hatte sich ihre Hündin einige Meter entfernt an den Strand gelegt und beobachtete das Szenario mit Argusaugen.
Alles lief wie ein Film an Tamara vorbei, sie versuchte sich vorzustellen, wie die junge Frau wohl ums Leben gekommen war und so bekam sie nichts von dem mit, was um sie herum geschah. Erst als Thorben sie eine gute viertel Stunde später sanft an der Schulter rüttelte, kehrte sie in die Gegenwart zurück.
„Ist alles Ok bei Dir? Geht es Dir gut?“ wollte er wissen. Sie war unfähig zu antworten, sie nickte nur und hielt Hennings Hand noch fester, ohne zu bemerken, dass dieser bereits seit einigen Minuten versuchte, sich von ihr zu befreien.
„Sie lag einfach da, als wir das Netz einholten.“ Hörte sie ihn stammeln und seine Stimme zitterte, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte.
Die Beamten versuchten, beruhigend auf ihn einzureden, doch immer wieder stammelte er: „Sie lag einfach da…einfach so…auf meinem Boot…Oh mein Gott.“
Thorben nahm Tamaras Hand, sodass Henning endlich seine Hand frei bekam und sich wieder bewegen konnte. Der junge Beamte zog Tamara ein paar Meter weiter und schaute ihr tief in die Augen.
„Was kannst Du mir sagen? Hast Du irgendetwas mitbekommen?“
Plötzlich war sie wieder ganz da und schaute ihn mit festem Blick an.
„Nein, ich kann Dir nicht wirklich was sagen.“ Und so erzählte sie ihm, wie sie das Boot beobachtet hatte, als es das Netz einholte, wie sie die Sirenen gehört hatte und schließlich zu Henning hingelaufen war.
Thorben lauschte aufmerksam ihren Worten und er war sich sicher, dass sie auch diesmal etwas bemerkt hatte, was ihr nun durch die ganze Aufregung lediglich entfallen war.
Wenige Augenblicke später trafen sowohl die Kollegen von der Spurensicherung ein als auch der Leichenwagen, der die junge Frau in die Gerichtsmedizin bringen sollte.
„Darf ich Euch mal kurz stören?“ hörten sie die Stimme eines Kollegen von Thorben neben sich. Es war Frank, ein älterer Polizist, der schon seit Thorbens erstem Tag bei der Wismarer Polizei sein Partner war.
„Tamara, ich kann mir denken, dass dies alles ein wenig viel für dich war, aber dennoch würde ich Dich bitten, einmal einen Blick auf die Tote zu werfen, vielleicht hast Du sie schon einmal gesehen. Meinst Du, Du schaffst das?“
Ihre Blicke wanderten von Frank zu Thorben, der ihre Hand hielt und wieder zurück. Sie atmete tief ein, holte tief Luft und nickte entschlossen mit dem Kopf.
Gemeinsam gingen sie nun wieder zum Boot hinüber, wo alle Stimmen versiegten, als sie eintrafen. Die junge Frau lag bereits auf einer Trage und war mit einem Leichentuch abgedeckt. Auf ein Zeichen von Frank hin, zogen die Bestattungsmitarbeiter das Tuch vom Gesicht der jungen Frau und Tamara schaute ihr direkt in die Augen. Diese Augen waren jetzt noch von einer stechenden Klarheit, die vermuten ließ, dass sie noch nicht lange tot sein konnte. Die feinen Gesichtszüge waren von unzähligen Wunden entstellt worden und nur noch schwer zu erahnen. Die hohe Stirn, das weiche Kinn und die schöne Nase offenbarten ein Stück der ursprünglichen Schönheit dieser jungen Frau. Die sauber gezupften Augenbrauen waren noch zu erkennen, ebenso fiel Tamara auf, dass sie sich die Wimpern färben ließ und die Haare blond gefärbt hatte. Darunter war vereinzelt hier und da ein Ansatz mittelblonder Locken zu sehen. Ein Blick auf das Dekolleté der Frau ließ eine Brust OP vermuten, die gepflegten Finger und die sauber lackierten Nägel zeugten davon, dass es sich um eine Frau aus guten Kreisen handeln könnte. Nichts deutete auf einen Ehering hin, also war sie nicht verheiratet.
Und während die Blicke der umstehenden Beamten gebannt auf ihr ruhten, ließ Tamara alle Gesichter, die sie kannte, an ihrem geistigen Auge vorbeiziehen.
Schließlich schüttelte sie den Kopf und zog Thorben wieder auf die Seite. Sie teilte ihm ihre Gedanken mit und er musste gestehen, dass er noch gar nicht darauf geachtet hatte.
Die Beamten notierten sich noch die Personalien von Henning und seinen Männern und teilten ihm mit, dass sein Boot bis auf Weiteres erst einmal beschlagnahmt wäre, man müsse versuchen eventuell vorhandene Spuren zu sichern. Außerdem wurden die Männer darauf hingewiesen, dass sie sich zur Verfügung halten sollten, um beizeiten nach Wismar auf das Revier zu kommen und gegebenenfalls auch noch Fingerabdrücke und Speichelproben für einen Vergleich abzugeben.
Die Männer erklärten sich damit einverstanden und Tamara, die nun wieder voll und ganz bei sich war, bestand darauf, dass die Männer erst einmal mit zu ihr kommen sollten, um einen auf den Schreck zu trinken. Das hieß bei Ihnen immer einen starken Tee mit einem Schuss Rum.
Sie verabschiedete sich von Thorben und Frank und beide mussten ihr versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten. Also verabredeten sie, dass die beiden Beamten nach Feierabend auf ein Bier zu ihr kommen sollten.