Читать книгу Ein verhängnisvolles Wiedersehen - Junia Swan - Страница 6

1. Kapitel

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14 Jahre später

„Miss White! Miss White!“ Die Stimmen mehrerer Kinder schallten über die Wiese und ließen Jane anhalten. Sie drehte sich in ihre Richtung und lächelte. Ungefähr fünf Kinder zwischen sechs und neun Jahren rannten in ihre Richtung. „Nimm uns mit!“, „Wir wollen mitkommen!“, „Was machst du?“, „Wohin gehst du?“

Fragen über Fragen stürzten auf sie ein und sie konnte nicht anders, als zu lachen.

„Ich wollte für das Abendessen noch ein paar Beeren sammeln“, erklärte sie. „Ihr könnt mich gerne begleiten!“

Sie nahm eines der Kinder bei der Hand und reichte einem der älteren einen kleinen Korb. Ihr Leben und das ihrer Schützlinge hatte sich vor drei Jahren grundlegend verbessert, als Rose Townsend, die Countess of Hawthorne Hall, in dem Waisenhaus, dem sie als Leiterin vorstand, um Unterschlupf gebeten hatte. Ihre Kutsche hatte einst einen Schaden erlitten und musste repariert werden und das Waisenhaus von Plymouth war das einzige Gebäude im Umkreis von 3 Meilen. Während des Aufenthalts der Countess, hatte diese angesichts der Armut und des katastrophalen Zustands des Gebäudes, beschlossen ihr zu helfen. Sie hatte das Haus renovieren lassen und die Kinder sowie die Erzieherinnen, während der Arbeiten auf ihrem Landsitz in der Nähe von Par beherbergt. Als wäre das noch nicht genug gewesen, öffneten die Countess und ihr Mann, ihr Anwesen Hawthorne Hall jeden Sommer als Feriendomizil für alle Waisenkinder und ihre Erzieherinnen. Gerade verbrachte Jane mit ihren Zöglingen den Urlaub hier in den schönen Breiten von Gloucestire. Mit jedem Jahr wuchs die Anzahl der Feriengäste, denn Lady Townsend hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, das Elend der heimat- und elternlosen Kinder in ganz England zu verbessern und deren Leid zu mildern.

Jane atmete tief durch, sie liebte die warmen Tage im Freien, erfreute sich an der wunderschönen Natur.

„Miss White, ich habe Brombeeren entdeckt!“, hörte sie eines der Kinder rufen und alle machten sich sofort auf den Weg zu dem Finder. Nachdem sie alle reifen Beeren gepflückt hatten, spazierten sie weiter. Plötzlich durchbrachen laute Hufschläge die Stille und sie konnten in geringer Entfernung einen Reiter erkennen, der in halsbrecherischem Tempo zwischen den Bäumen hindurch galoppierte. Jane blieb erschrocken stehen und verfolgte den wilden Ritt, unwillkürlich legte sie eine Hand über ihr Herz. Im nächsten Moment hörten sie einen dumpfen Aufschlag, danach das Brechen eines Astes und einen Aufprall, gefolgt von einem kurzen Schrei, der in ein Stöhnen überging. Dann war es still. Die Kinder blickten Miss White mit großen Augen an. Sie benötigte zwei Sekunden, um sich zu fassen, dann rannte sie los. Das Pferd war nirgendwo mehr zu sehen, es hatte den Reiter abgeworfen, der mit blutendem Kopf bewusstlos auf dem Boden lag.

„Lauft schnell zum Haus und holt Hilfe! Lord Townsend ist sicher nicht weit. Wir brauchen mindestens einen starken Mann!“

Während die zwei älteren Kinder augenblicklich in Richtung Haus davon schossen, ging Jane neben dem Verletzten – seiner Kleidung nach zu urteilen ein Adliger – in die Knie und beugte sich über ihn. Mit einer Hand suchte sie seinen Puls.

„Könnt Ihr mich hören, Mylord?“, fragte sie leise, doch der Mann rührte sich nicht. Zum Glück schlug sein Puls regelmäßig. Vorsichtig tastete sie den Kopf ab. Auch hier meinte sie keinen Bruch zu entdecken, allerdings musste die Platzwunde genäht werden und würde eine Narbe hinterlassen. Sanft schlug sie mit einer Hand auf seine Wange.

„Mylord, wacht auf! Könnt Ihr mich hören?“

Seine Lider flatterten und er öffnete die Augen. Sein Blick war trüb, ein wenig verschleiert, klarte aber etwas auf, als er ihr Gesicht über dem seinen gewahrte. Diese Augen hätte sie unter tausenden erkannt. Ein Leben lang hatten sie Isabel bis in ihre Albträume verfolgt. Niemals hatte sie diese vergessen können.

„Ein Engel“, flüsterte er, „ich bin im Himmel.“

Dann sank er wieder zurück in die Bewusstlosigkeit. Jane zog ihre Hand zurück und starrte wie gelähmt auf den Mann vor sich. Es konnte nicht möglich sein … Was sollte ausgerechnet er an einem Ort wie diesem machen? Eisschauer rannen über ihren Rücken, während sie ihn ungläubig anblickte. Nein, sie musste sich irren …

Endlich hörte sie ein Pferd in ihre Richtung reiten und hob den Kopf.

„Hier sind wir!“, rief sie, erhob sich und winkte. Auch die Kinder schrien, um die nahende Hilfe auf sich aufmerksam zu machen.

Brent Townsend zügelte sein Pferd, sprang ab und hob das Kind aus dem Sattel, das vor ihm gesessen war und ihm den Weg gezeigt hatte. Er reichte die Zügel des Pferdes dem ältesten Buben und ging ebenfalls neben dem Verletzten in die Knie. Auch er befühlte Puls und Kopf.

„Winterthorne ... ich frage mich, was ausgerechnet er hier macht!“ Dies sagte er mehr zu sich, dann blickte er zu Jane, die ein paar Schritte zurückgewichen war.

„Ich werde seine Kopfwunde im Haus nähen. Wir müssen ihn nur irgendwie dorthin bringen. Meinen Sie, wir können ihn zu zweit auf mein Pferd heben?“

Jane zuckte zweifelnd mit den Schultern.

„Wir sollten es probieren.“

Brent packte den Mann unter den Achseln und hob ihn an. Mit vereinten Kräften bugsierten sie ihn über den Pferderücken. Nun hing er wie ein Sack Mehl über dem Tier.

„Für seinen Kopf ist das sicherlich nicht gut, aber irgendwie müssen wir ihn transportieren“, stellte der Earl fest und übernahm die Zügel. Langsam führte er das Pferd auf den Weg zurück und wies zwei der Kinder an, die Diener über den Vorfall zu informieren, damit in der Zwischenzeit die nötigen Vorkehrungen getroffen werden konnten. Jane folgte in kurzem Abstand, verstört von dem Eindringen des gehassten Mannes in ihre friedliche Welt. Endlich hatte sie es geschafft und ihr Leben verlief in ruhigen Bahnen – leider schien dieser Frieden nur von kurzer Dauer gewesen zu sein. Vielleicht gelang es ihr, Winterthorne aus dem Weg zu gehen und einfach so weiterzumachen, als wären die letzten Minuten nicht geschehen.

Rose Townsend kam ihnen beim Eingang schon entgegengelaufen und beobachtete, wie ihr Mann sowie drei Diener, den Bewusstlosen vom Pferd zogen und in Richtung Haus trugen. Sie beugte sich über Winterthorne und Jane sah, dass der Earl tadelnd die Stirn runzelte.

„Ich werde mich um ihn kümmern, Rose“, sagte er bestimmt. „Deine Hilfe wird im Moment nicht benötigt.“

Lady Townsend errötete und wich sogleich zurück.

„Miss White, dafür würde ich mich über Ihre Hilfe sehr freuen.“

Jane, die gehofft hatte, sich zurückziehen zu können, nickte. „Natürlich, Mylord.“

Nachdem sie Winterthorne auf einem Bett abgelegt hatten, eilte Brent, um Nadel und Faden zu holen. Jane blieb in einer Ecke des Zimmers stehen, so weit entfernt von dem Verletzten, wie möglich. Nachdem Brent zurückgekommen war, winkte er sie an seine Seite.

„Halten Sie seinen Kopf.“ Er rümpfte angewidert die Nase. „Himmel, er riecht, als hätte er das komplette Wirtshaus leergesoffen!“

Der Geruch war Jane ebenfalls in die Nase gestiegen und sie nickte zu den Worten des Earls. Gleichzeitig legte sie zögernd die Hände auf Winterthornes Schläfen, um ihn zu fixieren. Erinnerungen zuckten bei dieser Berührung durch ihre Gedanken und sie musste sich beherrschen, um nicht schreiend aus dem Raum zu laufen. Sie schloss die Augen und schluckte unbehaglich.

„Geht es Ihnen gut, Miss White?“, hörte sie die besorgte Stimme des Earls.

Jane nickte.

„Dann werde ich jetzt beginnen.“

Als er mit der Nadel in die Haut stach, zuckte Winterthorne schmerzvoll zusammen und Jane öffnete die Augen, um ihn besser umfassen zu können. Sie benötigte alle Kraft, um ihn festzuhalten. Er stöhnte und riss die Augen auf, blickte sie direkt an.

„Engel“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „wieso quälst du mich so?“

„Ihr habt eine Wunde auf dem Kopf“, erwiderte sie, „und müsst genäht werden.“

Schweiß trat ihm auf die Stirn und er schloss erneut die Augen. Soweit sie es beurteilen konnte, war er die restliche Zeit bei Besinnung. Er musste jeden Stich fühlen.

Endlich beugte sich Brent zurück und atmete tief durch.

„Geschafft“, stellte er fest.

Er flößte dem Mann noch etwas ein und erhob sich. Dabei machte er Jane ein Zeichen, ihm zu folgen.

„Wir haben uns ein Abendessen nun redlich verdient, meinen Sie nicht?“

„Ja, Mylord. Ich werde mich noch kurz frisch machen und pünktlich im Salon erscheinen.“

Der Earl nickte in Gedanken versunken und schlug die Richtung zu seinen Gemächern ein.

Als sie einander eine knappe Stunde später beim Abendessen gegenüber saßen, wollte die Countess wissen, wie es dem Verunglückten ging. Der Earl sah sie warnend an und Rose senkte den Blick.

„Ich denke, er hat noch einmal Glück gehabt, Rose“, erwiderte er unwillig auf ihre Frage. „Allerdings hat er eine Gehirnerschütterung erlitten und muss die nächsten Tage unbedingt das Bett hüten.“

„Ich werde mich natürlich um ihn kümmern“, meinte Rose hilfsbereit.

„Ich denke, das wirst du nicht tun. Miss White wird die Aufgabe der Krankenpflegerin übernehmen. Nicht wahr, Miss White?“

Rose errötete ein weiteres Mal und wandte den Blick ab während sich Jane bemühte, die Panik niederzukämpfen, die sie bei seinen Worten befallen hatte.

„Ehrlich gesagt, Mylord, denke ich nicht, dass ich für diese Aufgabe geeignet bin.“

Brent lächelte, legte beiläufig eine Hand über die seiner Frau, drückte diese zärtlich und meinte in Janes Richtung: „Diesbezüglich habe ich keine Bedenken. Sie scheinen mir die geborene Krankenschwester zu sein. Wenn Sie also so freundlich wären? Ich würde meine Frau nur ungern in der Gegenwart dieses Mannes wissen.“

Es schien, als wollte die Ladyschaft etwas sagen, unterdrückte den Drang jedoch und schwieg.

„Selbstverständlich, Mylord, wenn Ihr es wünscht, werde ich nach seiner Lordschaft sehen.“

Ein paar Minuten lang hing jeder seinen Gedanken nach.

„Ich frage mich ernsthaft, was Winterthorne ausgerechnet hier macht“, unterbrach der Earl die Stille.

„Nun, vielleicht wollte er uns besuchen. Ich weiß nicht, weshalb du ihn ...“ Rose brach ab. „Wir werden ihn fragen, wenn es ihm besser geht. Ich nehme an, er hat einen Grund.“

„Ich hoffe für ihn, dass es einen triftigen Anlass gibt ...“, brummte Brent. „Der Ruf dieses Mannes wirft ein überaus schlechtes Licht auf uns.“

„Ach, mach dir keine Sorgen“, munterte ihn Rose auf. „Er hat sich bisher überaus korrekt mir gegenüber verhalten.“

Brent schnaubte auf und Jane musterte das Paar für einige Sekunden interessiert. Es schien, als hätten die Herrschaften bereits früher nähere Bekanntschaft mit Winterthorne gemacht …

Er nannte sie Engel, immer wenn er erwachte und sie sah. Natürlich erinnerte er sich nicht an sie. Sie war eine von Tausenden gewesen, wenn es stimmte, was man sich von ihm erzählte und sie glaubte jedes Wort davon. Es hieß, Winterthorne wäre unersättlich, was die Befriedigung seiner Gelüste anging, keine Frau erregte für längere Zeit sein Interesse. Selbst sein Vater hätte ihn am liebsten enterbt, wäre er nicht sein einziger Sohn gewesen. So hatte Winterthorne mit Mitte dreißig das Erbe seines Vaters angetreten und dessen Titel übernommen. Doch auch die große Verantwortung, die nun auf seinen Schultern lastete, schien keinen Sinneswandel bei dem Mann herbeigeführt zu haben. Jane war überzeugt davon, dass er eine verloren Seele war. Nichts würde ihn jemals zur Umkehr bewegen!

Jane zögerte ihre Visite immer so weit hinaus, wie es ihr möglich war. Sie hoffte, dass er schlief, wenn sie am späten Abend nach ihm sah. An diesem Tag jedoch hatte sie Pech, er öffnete die Augen, als sie ins Zimmer trat.

„Mein Engel“, begrüßte er sie. „Wieso kommst du so spät? Ich habe dich bereits vermisst.“

„Mein Name ist White, Mylord. Ich würde es begrüßen, wenn Ihr mich Miss White nennt.“

Er machte eine abfällige Handbewegung.

„Du bist meine Retterin. Ich sehe nicht ein, dass ich dich nenne soll, wie all die anderen.“

Langsam hob er eine Hand und streckte sie ihr entgegen. In seine Augen war ein verführerischer Glanz getreten. Jane ignorierte die Hand und seinen Blick.

„Ich muss Euren Verband wechseln, wenn Ihr gestattet.“

Er ließ seine Hand fallen.

„Ich gestatte es“, meinte er huldvoll und lächelte amüsiert.

Sie musste sich überwinden, um weiter auf ihn zu zutreten. Als sie ihn erreicht hatte, hob sie die Hände zu den Leinenbinden. Ihre Brüste waren auf seiner Augenhöhe und sie wusste, dass er darauf starrte.

„Engel“, sagte er, „meinst du nicht, du könntest mehr für mich tun, als mir den Verband zu wechseln?“

Jane errötete und wich zurück.

„Ich weiß nicht, weshalb Ihr denkt, dass Ihr die Erfüllung der Träume sämtlicher Mädchen seid. Für mich seid Ihr das jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Ich pflege Euch nur, weil mich der Earl darum gebeten hat. Deswegen lautet meine Antwort: Nein. Ich werde nicht mehr für Euch tun, als ich muss. Je früher Ihr genesen seid, desto eher reist Ihr ab und dies ist mein Begehr!“

Nun lachte er herzlich.

„Ausgezeichnet, Engel, welch eine großartige, keusche Rede! Ich könnte mir einbilden, dass mein Verlangen nach dir, soeben um das Doppelte angeschwollen ist, im wahrsten Sinne des Wortes.“

Jane lief nun dunkelrot an. Wie konnte er es wagen, in ihrer Gegenwart von Verlangen und derlei Dingen zu sprechen. Sie ließ den Verband fallen und trat zurück.

„Wenn Ihr nicht augenblicklich schweigt, werde ich gehen und Eure Wunde nicht säubern.“

Winterthorne lächelte noch immer, doch er nickte.

„Kein Wort wird mehr über meine Lippen kommen“, versprach er und sie begann, die Wunde zu reinigen.

„Ich frage mich, ob wir einander schon einmal begegnet sind“, meinte er nach einer halben Minute.

„Wo sollte das gewesen sein?“, erwiderte sie. „Ihr habt, abgesehen davon, versprochen still zu sein!“

Als sie fertig war, räumte sie alles auf und wandte sich der Tür zu.

„Gute Nacht“, wünschte sie und wollte schnell entschwinden.

„Moment! Ich kann ohne Gutenachtkuss nicht einschlafen“, rief er ihr hinterher, doch sie drehte sich nicht noch einmal zu ihm um und knallte die Tür hinter sich zu.

Jane kämpfte einen erbitterten Kampf in ihrem Inneren. Am liebsten wäre sie abgereist und hätte alles, insbesondere Winterthorne, hinter sich gelassen. Doch sie konnte ihre Kinder nicht hier zurücklassen, abgesehen davon wären diese über eine verfrühte Abreise schrecklich enttäuscht. Diese Kleinen hatten in ihrem kurzen Leben schon so viel durchmachen müssen, dass sie ihnen weiteren Kummer um jeden Preis ersparen wollte. Die einzige Hoffnung, die ihr blieb war, dass der Earl of Kingstone Oak, bald genesen war und das Townsendsche Anwesen verließ. Als sie ihn wenige Tage später im Salon erblickte, war ihre erste Reaktion, auf dem Absatz umzukehren. Dies hätte sie auch gemacht, wenn der Earl sie nicht bereits entdeckt und „Mein Engel“, in ihre Richtung gerufen hätte. Jane setzte ein gezwungenes Lächeln auf und fügte sich in ihr Schicksal. Zum Glück betraten in diesem Moment der Earl und die Countess den Raum und lenkten Winterthorne ab. Tief beugte er sich über Roses Hand. „Mylady, es ist mir eine Ehre. Ihr könnt nicht ahnen, wie sehr ich mich nach dieser Begegnung gesehnt habe.“

Rose lächelte ein wenig verhalten und warf Brent einen beschwichtigenden Blick zu. Dieser tat einen Schritt nach vorne.

„Winterthorne, wie ich sehe, seid Ihr genesen. Vielleicht könnt Ihr uns heute über den Grund Eures überraschenden Besuchs unterrichten.“

„Oh, aber natürlich kann ich das“, lächelte Winterthorne. Alle drei schienen Janes Anwesenheit vergessen zu haben. Diese nutzte die Gunst der Stunde, sich langsam in Richtung Tür zurückzuziehen.

„Einerseits wollte ich mich nach dem Wohlergehen der werten Countess erkundigen“, erklärte der Earl of Kingstone Oak.

„Zu gütig“, murmelte Rose.

„Das Euch nicht das Geringste zu interessieren hat“, stellte Brent kühl fest, doch Winterthorne ignorierte seinen Einwand.

„Wie Ihr wisst, suche ich Ausschweifungen jeglicher Art, je ausgefallener, desto besser. Ich habe mich an unser letzte Gespräch erinnert.“

Jane hatte dir Tür fast erreicht und warf einen schnellen Blick in Richtung der Herrschaften. Die Countess war rot angelaufen.

„Das war ein Missverständnis!“, stieß Rose entsetzt hervor.

„Auch, dass Ihr noch nie so wundervoll geküsst worden seid, wie von mir?“

„Ja, auch das! Ich wollte meinen Mann ärgern. Das ist auch schon alles. Es war ein unerfreuliches Ereignis und wir sollten es nicht wieder erwähnen!“

„Meine Frau hat recht“, mischte sich nun auch der Earl ein. „Die Vorlieben, die Ihr habt, sind uns ein Gräuel. Wir möchten weder etwas damit zu tun haben, noch davon wissen. Ich verbiete, dass in Anwesenheit der Frauen, über derlei Themen geredet wird.“

Als der Earl von den Frauen gesprochen hatte, war nun die Aufmerksamkeit zu Jane zurückgekehrt, die mutlos die Luft aus den Lungen weichen ließ. Fast hätte sie es geschafft.

„Miss White, bitte verzeihen Sie die Themenwahl unseres Gastes“, entschuldigte sich nun Townsend bei ihr. Jane nickte nur und machte eine abwehrende Geste.

„Wollen wir nun zum Essen schreiten?“

Lord und Lady Townsend gingen voran, Winterthorne bot Jane seinen Arm. Mit größtem Vergnügen hätte sie diesen abgelehnt, doch die Höflichkeit stand in Widerstreit zu ihren Wünschen. So ließ sie sich von dem Mann ihrer Albträume zur Tafel geleiten.

Wenn Jane es bis zu diesem Moment nicht begriffen hätte, wäre ihr während des Essens klar geworden, dass Winterthorne kein gern gesehener Gast auf Hawthorne Hall war. Allerdings schien ihn das nicht zu stören, er verteilte seinen Charme großzügig unter den Frauen und ignorierte Townsends finstere Miene. Alle sehnten den Tag herbei, an dem er das Anwesen endlich wieder verlassen konnte.

Jane saß mit zweien ihrer Mädchen auf einer Lichtung und band Blumenkränze, als Winterthorne aus dem Dunkel des Waldes trat und auf sie zuging. Als sie den Mann erkannte, erhob sie sich schnell und befahl den Mädchen, zum Haus zurückzulaufen. Unter keinen Umständen wollte sie die Kinder in der Nähe dieses Wüstlings wissen.

„Mein Engel“, sagte er und ging direkt auf sie zu. „Ich bin hier, um mich zu verabschieden.“

Erleichtert atmete Jane aus. Endlich!

„Auf Wiedersehen!“, sagte sie und wollte sich von ihm abkehren, um ebenfalls zum Gutshaus zurückzugehen. Doch seine Hand, die sich plötzlich auf ihre Schulter gelegt hatte, hielt sie zurück. Erschrocken zuckte sie zusammen und wandte sich um. So schnell, dass sie nicht begriff wie ihr geschah, hatte er sie zu sich herumgedreht und in seine Arme gezogen.

„Zumindest einen Abschiedskuss“, flüsterte er und presste seine Lippen auf die ihren. Bilder der Vergangenheit überlagerten die der Gegenwart: Sein Mund, der versucht hatte, den Lebenssaft aus ihr zu saugen, die Hände, die jeden Zoll ihres Körpers mit Feuer versengt, seine Augen, die ihren Anblick in sich aufgenommen hatten, als wollten sie Jane verschlingen, seine Begierde, die ihre Unschuld geraubt hatte. Es war unbeschreiblich, doch sie konnte, damals wie heute, seine Unersättlichkeit spüren, dieses fordernde Ziehen einer Sucht nach der Erfüllung seiner Lust. Es war nicht sie, die er küsste, sie war nur das Gefäß, das er brauchte, um seine Sehnsüchte zu befriedigen. So fest sie konnte, stieß sie ihn von sich. Mit gerunzelter Stirn und schwer atmend, gab er sie frei.

„Ihr widert mich an“, spukte sie aus und verzog abfällig den Mund. „Es ekelt mich vor Euch, Mylord. Ihr seid kein Mann mehr, sondern ein Wilder, ergeben Euren dunklen Gelüsten. Man kann es in Eurem Kuss schmecken und in Euren Augen sehen. Ein Tier nur seid Ihr, in Menschengestalt. Wagt es nie wieder, in meine Nähe zu kommen, noch mich zu berühren!“

Ohne ihn noch einmal anzusehen, fuhr sie herum und stürzte von ihm fort. Er starrte ihr nach. Das erste Mal seit langer Zeit war er wirklich sprachlos. Das erste Mal seit mindesten zwanzig Jahren spürte er einen Stich in seinem Inneren, der ihm bewies, dass er noch lebte. Mit ihren Worten hatte Jane einen Ort getroffen, von dem er nicht mehr angenommen hatte, dass er noch existierte.

Zum Glück war Winterthorne abgereist, ohne ihr noch einmal zu begegnen. In Jane stieg Erleichterung auf, ihm entkommen zu sein und ihn nie mehr wieder sehen zu müssen. Der restliche Sommer verging angenehm und entspannt auf Hawthorne Hall. Mit neuer Kraft kehrte sie mit ihren Schützlingen nach Plymouth zurück. Dank der Unterstützung von Lord und Lady Townsend, hatte das Schuljahr nun auch Einfluss auf den Rhythmus im Waisenhaus. Einige der älteren Kinder verbrachten einige Wochen in London, um dort in unterschiedlichen handwerklichen Fertigkeiten unterwiesen zu werden. Sie kehrten mit leuchtenden Augen und neuer Hoffnung zurück und Jane fühlte tiefe Dankbarkeit in sich aufsteigen. Ja, vielleicht gelang es sogar, einigen dieser Kinder eine Existenz zu sichern!

Je mehr Zeit verging, desto besser konnte sie die Begegnung mit Winterthorne vergessen und die Erinnerungen an ihn tief in ihrem Inneren verschließen. An jenem Ort, der schon anderes Vergangene beheimatete, die Erlebnisse, die zu schmerzhaft waren, um an sie zu denken.

Weihnachten kam und ging, das neue Jahr brach an, Schnee bedeckte Wiesen und Wälder. Das Meer war kristallklar und schon sein Anblick ließ einen frösteln. Trotzdem genoss Jane den Winter. Sie liebte das lodernde Feuer im Kamin, das die Kälte verdrängte und eine behagliche Atmosphäre schuf. Die Wangen der Kinder waren rot, wenn sie von draußen ins Innere kamen und die Kälte abschüttelten, die sich an sie geklammert hatte. Ja, ihr Leben hatte sich zum Guten gewendet!

Ein verhängnisvolles Wiedersehen

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