Читать книгу Ein verhängnisvolles Wiedersehen - Junia Swan - Страница 8
3. Kapitel
ОглавлениеTatsächlich ging ihm die Arbeit nach einiger Zeit leichter von der Hand, was ihm wiederum ermöglichte, sich öfter seinen Gedanken hinzugeben. Da er diese aber bewusst von einer speziellen Richtung ablenken wollte, suchte er die Gesellschaft der Kinder. Er gewöhnte es sich an, mit ihnen am Nachmittag für ein bis zwei Stunden zu spielen. Dafür erfand er verschiedene Spiele, manchmal für drinnen, öfter für draußen. Er veranstaltete Schneeballschlachten und Geländespiele, Spurenlese- und Schneeschaufelwettbewerbe und die Kinder blickten ihn mit glänzenden Augen an. Er meinte so etwas wie Liebe in ihnen zu entdecken und dies rührte ihn. Genau genommen traf es ihn und sein Herz befreite sich zögerlich von den Ketten, in die es gelegt worden war. Miss White ging ihm nach wie vor aus dem Weg, doch hin und wieder warf sie ihm einen anerkennenden Blick zu.
Es war still im Haus und James legte die letzten Scheite für diesen Tag in den Kamin. Er wusste, dass Miss White gleich in diesen Raum kommen würde, um das Licht zu löschen. James wartete und stellte mit leichtem Befremden fest, dass er sich nach ihrer Gegenwart sehnte. Ein merkwürdiger Gedanke. Er meinte, sich nicht mehr an eine Zeit erinnern zu können, während der diese Gefühle möglich gewesen wären. Als sie nun den Raum betrat, fühlte er gleichzeitig Trauer in sich aufsteigen. Trauer darüber, dass sie ihn vom ersten Moment an abgelehnt hatte. Jane hielt in der Bewegung inne und musterte ihn abschätzend.
„Was hecken Sie jetzt wieder aus, Miss White? Mir schwant Übles.“
Seine Worte entlockten ihr ein Lächeln.
„Diesmal nichts Übles. Außer, Ihr habt Euren Dachboden lieb gewonnen.“
James machte eine abfällige Handbewegung.
„Durchaus nicht. Sollte meine Probezeit jemals zu Ende gehen, würde ich ihn nicht vermissen.“
„Nun, sie ist zu Ende. Wenn Ihr wollt, zeige ich Euch Euer Zimmer.“
„Ein Zimmer? Womit habe ich das verdient? Lassen Sie es doch bitte nur die Kartoffelkammer sein, zu viel Luxus verdirbt den Charakter.“
„Wie ich höre, habt Ihr in den letzten Wochen viel gelernt.“
War es möglich und sie neckte ihn?
„Soviel, wie niemals zuvor in meinem Leben.“
Sie griff nach der Lampe und drehte sich zur Tür.
„Also kommt, Mylord, Euer Zimmer wartet.“
Er blickte auf ihren Rücken, als sie vor ihm durch den Gang schritt, ließ seine Augen über ihre Taille wandern. Wie gerne würde er seine Hände nach ihr ausstrecken, sie an sich ziehen, ihren Körper fühlen, seine Nase in ihren Haaren vergraben. Lust fuhr in seinen Körper und ließ ihn erschauern. Aber sie war eine normale Frau und mit normalen Frauen klappte es schon lange nicht mehr. Wirklich erregen konnten ihn nur mehr abnormale Praktiken, nicht der sanfte Schwung eines milchweißen Nackens. Seine Gedanken gingen auf Wanderschaft.
Jane war stehengeblieben und öffnete eine Tür. Ein schmaler Raum bot sich seinem Blick dar, mit einem einfachen Bett, einem Tisch, einem Stuhl, einer schmalen Kommode und einem kleinem Fenster. Eine Nacht in diesem Bett und er wäre wieder ein ganzer Mensch. Er drehte sich zu ihr und blickte sie an. Als hätte sie etwas in seinen Augen erkannt, zuckte sie zurück. Schnell entzündete sie eine Kerze.
„Hier könnt Ihr wohnen“, sagte sie mit zitternder Stimme, wandte sich um und floh aus seiner Nähe. Hitze ballte sich in ihm zusammen und er fluchte leise, als er seine Handflächen feucht werden fühlte. Frauenkörper schossen durch seinen Geist und er wusste, dass es nun kein Halten mehr gab. Er stürzte aus dem Haus, sperrte hinter sich ab, sattelte ein Pferd und ritt nach Plymouth davon.
Am nächsten Tag beim Frühstück konnte er Jane nicht in die Augen blicken. Er fühlte sich, als hätte er sie betrogen, was totaler Schwachsinn war, denn er war Miss White in keiner Weise verpflichtet. In der letzten Nacht war er wie ein Rasender über die nächstbeste Dirne hergefallen, einem inneren Zwang folgend, den er bereits für abgeschüttelt gehalten hatte. So konnte man sich irren! Die Kinder suchten seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er wollte sich auf sie konzentrieren. Ein Rückfall in mehreren Wochen. Es könnte durchaus schlimmer sein, versuchte er sich zu beruhigen. Als er den Kopf hob, sah er, dass Miss White ihn musterte. Er versuchte ein argloses Lächeln, das kläglich misslang. Sie drehte sich von ihm weg.
Der Schnee taute und der Frühling hielt Einzug im Land. Die Kinder verbrachten nun fast ihre gesamte Freizeit im Freien. James hatte begonnen, mit ihnen im Wald hinter dem Haus ein Baumhaus zu errichten. Er hatte zwar keinen blassen Schimmer, wie so etwas ging, doch er hatte mittlerweile zu improvisieren gelernt. Diese neue Fertigkeit wandte er nun an. Die ersten Seile waren befestigt und mit Hölzern verbunden. Kreative Menschen konnten den Gedanken dahinter sicherlich erahnen. Er stand, in der Betrachtung seiner Arbeit versunken da und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollten. Gerade hatte die Essensglocke zum Abendessen geläutet und die Kinder waren eilig zum Haus gerannt. James wollte noch die Werkzeuge einsammeln und im Schuppen verstauen, hatte sich aber dann in seinen Ideen verfangen.
„Ihr leistet hervorragende Arbeit, Mylord“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm und er wandte sich um. Miss White stand einige Schritte entfernt und betrachtete ebenfalls das Ergebnis ihres Schaffens. Sie trug ihre blonden Haare wie immer in einem strengen Knoten und er versuchte sich vorzustellen, wie sie aussehen würde, wenn sie offen über ihre Schultern fielen. Um sich abzulenken, blickte er nun auch wieder auf das Holzgebilde.
„Ich habe das Gefühl, es macht den Kindern Spaß, mit den Händen etwas zu gestalten.“
„Zweifellos. Sie haben Euch in ihr Herz geschlossen.“
Er atmete tief ein.
„Ich wünschte, das würde auch für andere Personen dieses Haushalts gelten.“
Fast konnte er spüren, wie sie erstarrte. Als suchte sie Halt, schlang sie ihre Finger ineinander.
„Mylord, ich habe doch bereits klar ausgedrückt, dass ...“
„Haben Sie, Miss White. Träumen mag doch noch gestattet sein.“
Streng schüttelte sie den Kopf.
„Haben Sie eigentlich einen Vornamen? Mir scheint, er wäre das bestgehütete Geheimnis weit und breit.“
„Er ist kein Geheimnis, hat Euch aber nicht zu interessieren.“
„Vielleicht wollen Sie das. Ich sehe das anders. Nur zu, Ihr Vorname wird mich schon nicht aus der Bahn werfen.“
Kurz blickte sie ihn abschätzend an.
„Batseba“, sage sie schnell und hätte sich im nächsten Moment dafür ohrfeigen können. Wie konnte sie nur den Namen jener Frau nennen, die der König David so sehr begehrte, dass er ihren Mann ermorden ließ, um sie heiraten zu können?
„Batseba?“, wiederholte er überrascht. „Ungewöhnlich.“
Mehr sagte er nicht dazu. Anscheinend war er, was biblische Geschichten anbelangte, nicht sehr bewandert.
„Mhm. Wie dem auch sei, es ist Zeit für das Abendessen.“
„Sie lenken ab, Bats...“
„Miss White.“
„Ja, Miss White, Sie lenken ab. Lassen Sie mir die Hoffnung, dass ich eines Tages ein kleines Stückchen Ihres Herzens besitzen darf?“
„Niemals!“ Vehement schüttelte sie den Kopf. „Mein Herz ist euch gegenüber verschlossen, merkt Euch das!“
„Ich kann es nicht verstehen. Was habe ich getan, um diese Gnadenlosigkeit zu verdienen?“
„Ihr seid, wer Ihr seid, Mylord und daran werden auch Jahre im Waisenhaus nichts ändern. Euer Kern ist schlecht. Es ist nichts Gutes in Euch! Das, was Ihr hier macht, werdet Ihr nicht durchhalten. Irgendwann kommt Euer wahres Ich wieder hervor und Ihr werdet schlimmer sein, als zuvor! Gott bewahre uns vor diesem Tag!“
Tränen schimmern in ihren Augen, stellte er fest, während die Wucht ihrer Worte ihn gleichzeitig mit voller Kraft traf. Er hielt die Luft an, um dem ungewohnten Schmerz in seinem Inneren keinen Raum zu geben, beobachtete wie in Trance, dass sie sich umwandte und zum Haus zurück lief. Was hatte sie gesagt? Sein Kern war schlecht? Wenn auch sie das dachte, weshalb kämpfte er dann dagegen an? Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit suchte wieder Fuß in ihm zu gewinnen. Nein, er würde nicht aufgeben, würde ihr beweisen, dass sie sich irrte! Er atmete tief durch und griff nach dem Werkzeug, um es an seinen Platz zu räumen.
Um Miss White aus dem Weg zu gehen, hatte sich James sofort nach dem Abendessen in sein Zimmer zurückgezogen. Die Geräusche im Haus verstummten langsam und Stille senkte sich herab. Plötzlich konnte er leise Schritte den Gang entlang huschen hören und er richtete sich lauschend auf. Sein Hemd hatte er bereits gelöst und aus dem Bund der Hose gezogen. Wahrscheinlich machte Batseba ihren abendlichen Rundgang. Er entspannte sich, nur um erschrocken in die Höhe zu fahren, als es leise klopfte. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde die Tür geöffnet und Moira huschte in sein Zimmer. Überrascht blickte er sie an und stellte mit Unbehagen fest, dass sie bereits ihr Nachthemd trug. Er erhob sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Moira, ist etwas geschehen, oder weshalb suchst du mich auf?“
Das Mädchen lächelte.
„Ich habe gehört, James, dass du das Abenteuer suchst. Ist das wahr?“
„Das geht dich, auch wenn es stimmen sollte, nichts an. Wenn das alles ist, solltest du sofort in dein Zimmer zurückkehren.“
Mit verführerischem Blick machte sie einen Schritt auf ihn zu, dabei zog sie einen Schmollmund. Herr im Himmel, wie alt war diese Göre? So weit er sich erinnern konnte, um die sechzehn Jahre.
„Du musst wissen, ich bin auch immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Ich bitte dich, führe mich in die Freuden der Lust ein!“
Entsetzt wich er einen Schritt zurück.
„Niemals! Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen!“
„Aber warum nicht?“ Trotzig hielt sie seinem Blick stand.
Er verengte die Augen.
„Erstens habe ich kein Interesse an Kindern und zweitens“, er machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln, „ist das, wonach du verlangst, die Hölle auf Erden! Wenn du jetzt damit beginnst und zwar auf diese Weise, wirst du nur mehr schwer davon loskommen. Deine Lust wird dich verschlingen. Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche!“ Ihre Augen wurden groß und Tränen schimmerten darin. „Und jetzt schau, dass du hier rauskommst, bevor du es bereust!“
Die letzten Worte hatte er zornig gezischt und sie fühlte so etwas wie Angst aufsteigen. Ohne noch etwas zu sagen, wirbelte sie herum und floh aus dem Raum. James ließ sich erschöpft nach vorne fallen und stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. Beruhige dich, alter Junge, versuchte er sich gut zuzureden, doch ihr Bild stieg immer wieder vor seinem geistigen Auge auf. Er konnte sich an die Rundungen erinnern, die sich unter dem Stoff ihres Nachthemdes abgezeichnet hatten, die aufreizende Unschuld in ihren Augen. Kinder interessieren dich nicht, sagte er zu sich selbst. Aber sie ist kein Kind mehr!, schrie etwas in ihm. Sie ist dir anbefohlen und du hast Batseba versprochen, niemanden unter diesem Dach zu berühren. Mit einer Faust schlug er auf den Tisch ein. Du bist verdorben, dein Kern ist schlecht. Miss Whites Worte hallten in ihm wider. Er riss die Tür zu seinem Zimmer auf und stürzte auf den Flur, gerade in dem Moment, als Miss White in den Gang einbog. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.
„Aus dem Weg!“, befahl er drohend und sie wich augenblicklich vor ihm zurück.
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, drängte er sich an ihr vorbei und hinaus ins Freie. Sein Pferd war schnell gesattelt und Plymouth nicht weit.
Jane folgte ihm zur Tür und blickte ihm nach, als er das Gelände in schnellem Galopp verließ. Sie seufzte, dann schloss sie die Tür hinter ihm ab. Zufälliger Weise hatte sie den Wortwechsel zwischen ihm und Moira durch die nur angelehnte Tür verfolgt. Sie war dabei gewesen, ihre letzte Runde zu drehen, als sie die Stimmen hörte. Sie war überaus erleichtert gewesen, als sie seine Worte vernommen und er das Mädchen des Zimmers verwiesen hatte. Kein Wunder, dass er nun aufgewühlt war.
Abgesehen davon, kam ihr seine Abwesenheit wie gerufen. Auf diese Weise hatte sie die innere Ruhe, den heutigen Jahrestag in gewohnter Tradition zu beenden. Aus ihrem Zimmer holte sie eine besondere Kerze und ging damit in den Aufenthaltsraum, wo sie diese entzündete und auf den Tisch stellte. Langsam setzte sie sich auf einen Stuhl und blickte in das flackernde Licht. Dreizehn Jahre waren vergangen, seit jenem Tag. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrem Sohn und eine unendliche Traurigkeit machte sich in ihr breit. Ihre Ersparnisse waren nach ihrer Flucht knapp gewesen und so hatte sie große Teile der Strecke zu Fuß zurückgelegt. Sie aß nur wenig, sammelte, was der Wald ihr bot. Die Nächte waren länger und kälter geworden. Sie schlief in Mauernischen. Bei Tageslicht setzte sie ihren Weg fort, nur weg von diesem Mann, nur weg von diesem Ort. In einem Armenhaus hatte sie im Frühling unter schrecklichen Bedingungen ihr Kind zur Welt gebracht. Ein perfektes kleines Wesen, mit rosigen Wangen und blondem Haar. Sie schloss das Kleine sofort in ihr Herz, wusste aber, dass die Schwierigkeiten nun erst richtig begannen. Durch Zufall schnappte sie auf, dass es in der Nähe von Plymouth ein Waisenhaus gab. Da sie nicht weit davon entfernt war, fasste sie einen Entschluss. Sie würde ihr Kind dorthin bringen und erklären, dass sie es gefunden hätte. Vielleicht hatte sie Glück und man gab ihr dort Arbeit. So könnte sie immerhin in Williams Nähe bleiben.
Das Waisenhaus war bereits damals baufällig gewesen, als sie Ende Mai an die Tür klopfte. Eine alte Frau hatte ihr geöffnet und sie fragend angeblickt.
„Ich habe diesen Knaben gefunden“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Können Sie ihm Unterschlupf gewähren?“
„Es tut mir leid, es ist alles belegt.“ Die Frau wollte die Tür schließen, doch Jane stellte einen Fuß dazwischen.
„Bitte!“, sie zog eine dünne Kette unter ihrem Kleid hervor – die letzte Erinnerung an ihre Mutter. „Ich zahle dafür! Er soll nicht sterben!“
Die Frau blickte unschlüssig auf das Schmuckstück, dann auf Jane.
„Außerdem biete ich Ihnen gegen Kost und Logis meine Hilfe an.“
„Sie wollen hier arbeiten?“, vergewisserte sich die Frau. „Ich kann Sie nicht bezahlen.“
„Wie gesagt, etwas zu Essen und ein Strohsack in einer Ecke, würden mir ausreichen.“
Die Frau überlegte ein paar Minuten, dann nickte sie.
„Ich bin Mrs Cook, die Leiterin.“
„Jane White.“ Das erste Mal verwendete sie nur einen Teil ihres Nachnamens.
„Ich bin alt und kann Hilfe mit den Rackern dringend brauchen. Kommen Sie herein, Miss White.“
Jane trat vorsichtig ein und blickte sich um. Der Zustand des Hauses erschreckte sie. Mrs Cook führte sie auf den Dachboden und deutete auf einen Strohsack.
„Hier können Sie fürs Erste schlafen. Wir werden in der nächsten Zeit eine Kammer für Sie richten.“
„Vielen Dank!“, sagte Jane und presste ihren Sohn schützend an sich.
„Die Kette“, sagte die alte Frau und hob eine Hand. Jane legte den Säugling auf den Strohsack und löste das Pfand von ihrem Hals. Ohne darüber nachzudenken was sie tat, reichte sie dieses der Frau, die den Schmuck sogleich in ihre Tasche gleiten ließ. Dann hob Jane William wieder auf. Da streckte Mrs Cook die Arme nach ihm aus.
„Das Kind können Sie nun mir überlassen.“
In diesem Moment zerriss Janes Herz und sie zögerte kurz. Darum bemüht, nicht zu weinen, legte sie das Kind in die Arme der anderen.
„Ich denke, wir werden schnell einen Platz für ihn finden. Es gibt viele Paare, die einen Säugling adoptieren möchten.“
„Aber ...“, stammelte Jane – so hatte sie sich die Sache ganz und gar nicht vorgestellt.
„Was, Miss White? Wollen Sie dem Kind ein gutes, warmes Zuhause verwehren?“
Jane schluckte.
„Nein“, flüsterte sie und konnte die Tränen gerade noch so lange zurückhalten, bis die Frau mit ihrem Kind gegangen war. Sie ließ sich auf den Strohsack fallen und presste ihr Gesicht dagegen, um ihr Schluchzen zu dämpfen.
An jenem Tag hatte sie ihre Arbeit in dem Waisenhaus begonnen. Als Mrs Cook sie ungefähr eine Woche später in den Wald schickte, um Beeren zu sammeln, ahnte sie nicht, dass sie den kleinen William niemals wieder sehen würde. Denn in der Zwischenzeit hatte ein Ehepaar ihn mit sich genommen. Wohin wusste Jane nicht, auch den Namen der Adoptiveltern erfuhr sie nie. In den Wochen danach lernte sie, dass körperlich anstrengende Arbeit der einzige Weg war, um sich von der inneren Qual abzulenken. Sie schleppte und hackte Holz, versuchte, die Kinder aufzumuntern. Sie tat alles um nicht zur Ruhe zu kommen. Bis irgendwann die Erinnerung an ihren Sohn verblasste, sein kleines Gesicht vor ihrem inneren Auge verschwamm und sie nicht mehr in Tränen ausbrechen musste, wenn sie an ihn dachte. Trotzdem betete sie jeden Abend für ihn und hoffte, dass er sein Glück finden würde. An das schmerzliche Ziehen in ihrem Inneren hatte sie sich längst gewöhnt.
Heute ist er dreizehn Jahre alt geworden, dachte sie und schloss die Augen. Wo er wohl gerade war? Ob es ihm gut ging? Ein Klopfen gegen die Fensterscheibe ließ sie zusammenzucken, sie riss die Augen auf und versuchte zu erkennen, wer vor dem Haus stand. Winterthorne, natürlich. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch sie musste einige Stunden hier gesessen sein. Jane erhob sich und wischte die Tränen von den Wangen. Sich sammelnd, zündete sie eine Gaslampe an und hauchte das kleine Licht der Erinnerungskerze aus. Dann ging sie, um ihm zu öffnen. Er blickte sie besorgt an.
„Batseba, was ist ...“
„Miss White“, verbesserte sie und verschloss die Tür hinter ihm.
„Miss White, geht es Ihnen gut? Ihr seid noch wach? Ich dachte schon, ich würde heute im Freien übernachten müssen.“
Jane zuckte die Achseln und wandte sich ab.
„Nichts, dass Euch belasten müsste, Mylord. Gute Nacht.“
Gerade als sie die erste Stufe hinaufsteigen wollten, hielt seine Hand sie zurück.
„Bleiben Sie noch einen Augenblick. Bitte.“
Unschlüssig wandte sie sich ihm zu.
„Ja?“
Erst jetzt bemerkte sie seine desolate Erscheinung. Unglück schien ihm geradezu ins Gesicht geschrieben zu sein.
„Ich brauche Sie. Nur eine kurze Weile.“
„Ihr habt mich nicht zu brauchen, Mylord. Ich bedeute Euch nichts und Ihr mir nicht.“
Ihre Worte waren hart, doch er wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Es gab niemanden auf dieser Welt, der ihm wichtig war und ihre Abneigung ihm gegenüber war offensichtlich.
„Gut“, murmelte er und wandte sich ab. „Ich kann verstehen, dass Sie mich nicht ertragen. Es geht mir genauso. Ich kann mich ebenfalls nicht ertragen. Gute Nacht.“
Er ging in Richtung seiner Kammer davon und sie blickte ihm aufgewühlt nach. Wider besseren Wissens folgte sie ihm. Als er ihre Schritte hinter sich hörte, wandte er sich ihr erneut zu, nachdem er die Tür zu seiner Kammer aufgestoßen hatte. Dann griff er nach ihr, zog sie in seine Arme und bettete den Kopf an ihre Schulter.
„Retten Sie mich, verdammt noch einmal, Batseba! Retten Sie mich!“
Noch bevor sie reagieren konnte, zog er sie in sein Zimmer und gab der Tür einen Schubs, damit diese ins Schloss fiel.
„Lasst mich sofort los!“, fauchte Jane und stemmte sich gegen ihn. Doch sein Brustkorb war dank der harten Arbeit, hart wie Stahl geworden. Er war damals als junger Mann nicht so stark gewesen wie heute und hatte sie trotzdem zwingen können. Angst packte sie und diese schreckliche Lähmung, die sie unfähig machte zu kämpfen, setzte ein. Sie stand starr wie ein Stock in seiner Umarmung. Plötzlich sank er tiefer, ohne den Griff zu lockern. Sein Gesicht presste sich an ihren Bauch, seine Schultern zuckten. Verwirrt stellte sie fest, dass er weinte. Er klammerte sich an sie wie ein kleines Kind. Ihre Anspannung löste sich und sie legte beruhigend eine Hand auf seinen Hinterkopf.
„James“, flüsterte sie sanft. „James. Was quält Euch so?“
„Das wissen Sie!“, kam es gedämpft von ihrem Bauch. „Heute kam Moira zu mir und machte mir ein Angebot.“
Jane hielt den Atem an.
„Mein Gott, sie ist noch ein Kind! Verdammt, ein Kind, das Schutz braucht. Sie kommt zu mir und weckt die Bestie.“
In seiner Verzweiflung klammerte er sich noch fester an sie. Jane schwieg.
„Ich weiß, es ist falsch auch nur einen Gedanken ...“ Er brach ab und drückte sie ein wenig von sich fort, dann hob er den Kopf und sah ihr in die Augen. „Aber ich habe es gedacht. Ich wollte sie um jeden Preis.“
Die Stille zwischen ihnen war drückend. „Verdammt, ich wollte ihr das Nachthemd vom Leib reißen und diesen jungen Körper mit meinem begraben. Es ist krank und ich bin so entsetzt von mir! Ich glaube, Sie hatten recht, als Sie sagten, mein Kern wäre schlecht. Er ist schlecht. Schwarz wie die Hölle und ich kann nichts dagegen tun!“
Jane setzte sich auf den Bettrand, dann nahm sie sein Gesicht zwischen ihre Hände.
„Ihr tut bereits etwas dagegen, Mylord. Noch vor einigen Monaten hättet Ihr sicherlich nicht widerstanden. Doch heute habt ihr es getan. Ihr könnt nicht erwarten, dass sich Eure Gedanken innerhalb eines halben Jahres ändern, wenn sie über zwanzig Jahre lang solch sündige Wege gegangen sind.“
In seine Augen trat eine Hoffnung, die sie berührte.
„Meinen Sie wirklich, mein Engel?“
Jane nickte. „Ihr seid bisher weiter gekommen, als ich es jemals von Euch erwartet hätte. Gebt Euch noch nicht auf! Ich hatte es getan, doch vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht gibt es tatsächlich noch ein kleines Fünkchen Hoffnung. Ihr seid ein starker Mann, Mylord. Hört nicht auf zu kämpfen!“
Er hielt ihren Blick fest und es war Jane unmöglich zu erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging. Langsam richtete er sich auf und wandte sich von ihr ab. Es schien, als würde er einen inneren Kampf ausfechten. Nach einer Weile atmete er tief durch und drehte sich zu ihr. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er sie betrachtete.
„Ich danke Ihnen, Miss White. Gute Nacht.“
Jane erhob sich und knickste automatisch, dann drehte sie sich um und eilte aus dem Raum. Sie wusste nicht weshalb, doch sie weinte, als sie endlich die Tür ihres Zimmers hinter sich schließen konnte.