Читать книгу Ein verhängnisvolles Wiedersehen - Junia Swan - Страница 7

2. Kapitel

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Jane kontrollierte, ob alle Türen versperrt waren, legte einen letzten Scheit Holz in den Kamin und schickte sich an, in den ersten Stock zu steigen, um in jedes der Kinderzimmer einen Blick zu werfen und sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Sie hatte ungefähr die Hälfte der Treppe erreicht, als heftig gegen die Tür geklopft wurde, was sehr ungewöhnlich für diese Uhrzeit war. Unbehaglich raffte sie ihr Wolltuch enger um ihre Schultern und stieg wieder in das Erdgeschoß hinab.

„Ja?“, fragte sie durch die geschlossene Tür.

„Ich suche Miss White. Ist sie hier?“

Jane erkannte die Stimme und ein eisiger Schauer ließ ihren Körper frösteln. Winterthorne.

„Wer ist da?“

„James Winterthorne, Earl of Kingstone Oak. So öffnen Sie doch! Ich brauche dringend Ihre Hilfe.“

Die Gedanken rasten in ihrem Kopf. Was wollte er von ihr? Weshalb konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?

„Habt Ihr einen Termin, Mylord?“

Durch die Tür konnte sie ihn erbittert auflachen hören.

„Hören Sie, wer auch immer Sie sind, es geht um Leben und Tod! Miss White muss mich empfangen!“

Um Leben und Tod? Nun, diese Ankündigung beunruhigte Jane doch ein wenig. Zögernd drehte sie den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf. Winterthorne lehnte am Türrahmen, Schneeflocken wirbelten im Hintergrund und legten sich auf seine rechte Schulter, die keinen Platz unter dem Dach gefunden hatte.

„Das wurde aber auch Zeit! Habe ich es mir doch gedacht, dass Sie es selbst sind.“ Ohne darauf zu warten, dass sie ihm Platz machte, trat er ein, was sie zu einem schnellen Rückzug veranlasste. Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, rieb er sich die Hände und blickte sie an.

„Also, Mylord, was gibt es Wichtiges, das nicht warten kann?“

Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln.

„Könnten Sie mir wohl eine Tasse Tee anbieten? Ich bin recht erfroren.“

Unwillig stemmte Jane die Hände in die Hüften.

„Wir sind keine Herberge, sondern ein Waisenhaus. Da Ihr das Alter derjenigen, denen hier Schutz gewährt wird, bei Weitem überschritten habt, sehe ich keinen Grund, Euch zu bewirten.“

Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht und er sah sie ernst an.

„Sie haben recht. Es tut mir leid, dass ich Sie zu so später Stunde überfalle. Der Grund ist … Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.“

Er blickte sich in dem dunklen Gang um. Jane bemerkte, dass er müde und erschöpft wirkte und dies stimmte sie etwas milder.

„Vielleicht gibt es einen Ort, der besser für ein, sagen wir, persönliches Gespräch geeignet ist?“

Jane versuchte das Plaid noch enger um ihren Körper zu schlingen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, welch große Angst sie davor hatte, mit ihm allein zu sein.

„Miss White?“

Ihre Aufmerksamkeit kehrte zu ihm zurück.

„Folgt mir, bitte. Wir können uns in den Aufenthaltsraum setzen.“

„Danke.“

Schweigend schritt er hinter ihr den Gang entlang. Es schien, als wäre all sein künstliches Gebaren von ihm abgefallen. Jane öffnete die Tür und ließ ihn eintreten, dann ging sie zum Kamin, legte einen weiteren Scheit nach und entzündete eine Öllampe. Winterthorne öffnete seinen schweren Mantel und legte ihn über einen Stuhl und sie deutete ihm, sich zu setzen. Dann verließ sie den Raum, um ihm in der Küche einen Tee zuzubereiten. Ihre Hände zitterten, als sie das Wasser aufgoss. Was hatte ihn wohl dazu bewogen, sie aufzusuchen? Alles in ihr wollte fliehen. Alles stehen und liegen lassen und verschwinden, so, wie sie es schon einmal gemacht hatte. Doch fünfundzwanzig Kinder vertrauten ihr und konnten nicht einfach zurückgelassen werden. Sie seufzte tief und kehrte in den Aufenthaltsraum zurück. Winterthorne hatte sich in der Zwischenzeit einen Stuhl ans Feuer gezogen und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Regungslos blickte er in die Flammen. Als er ihre Schritte hörte, wandte er sich zu ihr um und ein erfreutes Lächeln teilte seine Lippen.

„Danke!“, sagte er und nahm die Teetasse entgegen.

Jane rückte ebenfalls einen Stuhl näher, allerdings war sie besorgt darauf bedacht, genug Abstand zu ihm zu wahren.

„Nun, Mylord, wie kann ich Euch helfen? Ich hatte gehofft, mich klar ausgedrückt zu haben, was weitere Zusammentreffen zwischen uns anbelangt.“

„Keine Sorge, das haben Sie. Mir ist bewusst, dass Sie nicht sonderlich erfreut über mein Auftauchen sind.“

Er hob den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen.

„Ich habe versucht, Ihre Worte zu vergessen. Sie zu vergessen, doch Sie gehen mir nicht aus dem Kopf. Niemals zuvor in meinem Leben, hat mir jemand derlei Dinge an den Kopf geworfen.“

Jane zuckte mitleidlos mit den Schultern.

„Nun ja, Ihr habt sie verdient. Trotzdem sehe ich keinen Grund, weshalb Ihr nun hier seid. Wenn Ihr möchtet, lasse ich mir weitere Wahrheiten, Eure Person betreffend, einfallen.“

Ihre Worte zauberten erneut ein Lächeln auf sein Antlitz, das die Lachfältchen um seine Augen zur Geltung brachte. Wüsste sie nicht, wer er war, würde er fast sympathisch wirken. Er hob abwehrend die Hände.

„Halt, halt, meine liebe Miss White. Ich weiß nicht, ob ich so viele schonungslose Offenbarungen meine Person betreffend, im Augenblick ertragen kann. Doch wenn Sie so gütig wären, sie mir in geringen Dosen zu verabreichen, bin ich dieser Kur gegenüber nicht abgeneigt.“

Er wartete auf eine Antwort, doch Jane schwieg beharrlich. Winterthorne drehte sich von ihr fort und starrte wieder in die Flammen, dann räusperte er sich.

„Der Grund, weshalb ich hier bin ist folgender ...“ Mit gespreizten Fingern strich er sich fahrig durchs Haar. Jane bemerkte, dass seine Hand zitterte. Verwundert fragte sie sich, was einen Mann wie ihn dazu brachte, Schwäche zu zeigen. Wieder hob er den Kopf und suchte ihren Blick. Qual flackerte in seinen Augen.

„Ich brauche Ihre Hilfe, Miss White.“

„Das habt Ihr bereits gesagt. Ich frage mich, wobei.“

„Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen ...“

Nun lachte sie ungläubig auf.

„Mylord, ich bitte Euch! Ihr habt alles bekommen, was Ihr jemals haben wolltet. Welcher Aspekt Eures Lebens war jemals schwer?“

Kurze Verblüffung zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab.

„Sie kennen mich überraschend gut. Woher?“

Jane errötete und erhob sich von ihrem Stuhl.

„Über keinen anderen Mann wird so viel gesprochen, wie über Euch.“

Sinnend folgte er ihrer Bewegung, als sie sich ein paar Schritte von ihm entfernte.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie auf derlei Geschwätz etwas geben.“

„Oh, da habt Ihr recht – nicht einen Pfifferling! Würden sich meine Erfahrungen mit dem Gerede nicht decken. Aber, zurück zu Euch. Was wollt Ihr? Sagt es gerade heraus, so wie Ihr es bisher immer gemacht habt. Seit wann interessieren Euch Kollateralschäden?“

Ein weiteres Mal runzelte er überrascht die Stirn.

„Meine Güte, Engel, was haben Sie zum Abendessen getrunken?“

Sie wusste, dass er einen Scherz machen wollte, doch sie fand nichts an dieser Situation witzig.

„Mylord, wenn Ihr nicht sprechen wollt, ist es mir einerlei. Ich bitte Euch nur, dieses Haus zu verlassen, damit ich mich zur Ruhe begeben kann.“

„Schon gut.“ Er erhob sich, ging ein paar Schritte und stellte sich vor das Fenster. Er blickte hinaus, obwohl er sicherlich nicht viel erkennen konnte. Fenster waren in solchen Situationen überaus praktisch – man wirkte nicht allzu blöd, wenn man ins Leere starrte.

„Da Sie mich so gut zu kennen scheinen, dürfte Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass ich ...“

Er brach ab und wandte sich zu ihr um.

„Es ist wie ein Fieber. Es hat mich befallen, als ich vierzehn Jahre alt war und nie mehr losgelassen. Es ist, als wollte es mich verschlingen. Wenn ich tue, was es verlangt, wird es umso schlimmer. Wenn ich nicht nachgebe, quält es mich bis zur Besinnungslosigkeit. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen, verstehen Sie?“

Jane blickte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

„Nein, ich verstehe kein Wort. Wenn Ihr Fieber habt, solltet Ihr einen Arzt ...“

„Ich sagte, wie ein Fieber“, unterbrach er sie ungeduldig. „Sie müssen mir zuhören! Da hilft kein Arzt, keine Arznei. Alles, was ich brauche ist ...“

Jane blickte ihn mit großen Augen fragend an.

„Oder besser gesagt, es sind – Plural – Frauen, Frauen, Frauen. Immer mehr Frauen. Die ganze Zeit. Ich denke nur an sie. Nein, ich denke an ihre Körper und wie ich sie berühre ...“

„Mylord!“

Jane errötete heftig und wandte sich ab. Sie konnte ihn nicht länger ansehen.

„Verzeihen Sie, dass ich in Ihrer Gegenwart so unverblümt spreche. Doch ich muss es tun, damit Sie verstehen, was ich meine. Bitte, Engel, sehen sie mich an!“

Es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, sich ihm nun zuzuwenden.

„Es ist eine Krankheit, ich bin davon überzeugt. Sie frisst mich auf. Die ganze Zeit denke ich daran. Auch jetzt: Ich überlege, wie ich Ihnen die Kleider vom Körper reiße und Sie sich mir entgegenstrecken ...“

„Aus! Schweigt! Sofort! Ich kann das nicht mehr hören! Es interessiert mich nicht und ich will damit nichts zu tun haben! Verschwindet, Ihr besessener ...“

Mit zwei langen Schritten war er bei ihr und packte sie bei den Oberarmen. Er drehte sie zu sich und zwang ihren Blick in seinen.

„Ja, das ist es, ich bin besessen und das zerstört mich! Ich möchte mich davon abwenden und bitte Sie, mir dabei zu helfen!“

In seinen Augen spiegelte sich blanke Verzweiflung.

„Wieso kommt Ihr zu mir? Ich kann Euch nicht helfen!“

Jane versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, doch er ließ sie nicht los.

„Doch, Engel, Sie haben schon einmal mein Leben gerettet und Sie können es ein weiteres Mal tun! Bitte, geben Sir mir eine Chance! Ich möchte mich verändern, ich möchte ein Mann werden, der eine Frau lieben kann. Bitte, helfen Sie mir dabei!“

Stumm maßen sie einander und Jane konnte ihr Herz vor dem Flehen in seinen Augen nicht verschließen. Sie seufzte und er lockerte seinen Griff.

„Und wie stellt Ihr Euch das vor? Was soll ich tun?“

„Lassen Sie mich hier für sich arbeiten. Ich werde Ihnen mit den Kindern helfen.“

Zweifelnd schüttelte Jane den Kopf.

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

„Die beste Idee überhaupt“, prahlte er, schon wieder selbstsicherer. „Die Arbeit wird mir diese Gedanken aus dem Kopf scheuchen.“

Sie trat einen Schritt zurück und er ließ die Hände fallen. Einige Minuten lang dachte sie fieberhaft nach. Vielleicht hatte er recht und körperliche Arbeit würde ihn ablenken.

„Gut. Allerdings unter folgenden Bedingungen:“

Winterthorne atmete erleichtert aus.

„Erstens, in diesem Haus finden keine unzüchtigen Handlungen statt. Wenn es Euch nach einer Frau gelüstet, müsst Ihr nach Plymouth reiten.“

„Das versteht sich von selbst.“

„Ihr haltet Eure Hände fern von allen Personen, die in diesem Haushalt leben und arbeiten.“

„Das verspreche ich.“

„Auch von mir.“

„Wie Sie wünschen.“ Seine Augen glitten langsam über ihren Körper und sie fühlte sich nackt.

„Solche Blicke sind ebenfalls strengstens verboten.“

Sofort lenkte er seine Aufmerksamkeit zurück zu ihrem Gesicht.

„Es wird mir schwerfallen. Aber sei´s drum. Keine Blicke.“

Zustimmend nickte er ihr zu.

„Wenn ich nur einen Grund zu beanstanden finde, verlasst Ihr dieses Haus auf der Stelle.“

„Für einen Engel sind Sie sehr streng.“

„Ich bin kein Engel und ich möchte, dass Ihr mich nicht mehr so nennt.“

„Ist das auch eine Bedingung?“

„Ja.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.

„Gnadenlos, doch ich gebe nach. Sie bestimmen die Regeln.“

„Genau und nun zeige ich Euch, wo Ihr wohnen werdet.“

Sie trat in den Gang und öffnete die Tür zu einer kleinen Kammer. Dort holte sie eine Bettdecke, Leintücher und ein Kopfkissen heraus und reichte ihm dieses Wäschepaket. Dann stieg sie ihm voran, die Treppen hinauf, bis zum Dachboden. Dort stieß sie eine Tür auf und Staub wirbelte um den schwachen Kerzenschein. In einer Ecke lag ein Strohsack, auf den sie nun zuging.

„Euer Bett, Mylord“, erklärte sie, wobei sie seinen Titel genüsslich betonte.

Fassungslos starrte er auf seine zukünftige Schlafstätte.

„Sie sind erbarmungslos, Miss White“, stellte er fest und legte den Wäschestapel ab.

„Ihr könnt morgen Staubwischen, Myloooord“, bot sie freundlich an, wobei sie erneut seinen Titel herausfordernd in die Länge zog.

„Hören Sie auf, mich so zu nennen“, knurrte er. „In Anbetracht der Stellung, die ich in Ihrem Haushalt einnehmen werde, genügt James vollkommen.“

„Oh, aber nur, wenn wir nicht unter uns sind, Mylord!“, erwiderte sie, drehte sich um und ging auf die Tür zu. „Geruht wohl, Hoheit!“

Mit einem hämischen Grinsen zog sie die Tür hinter sich zu.

Fast hätte Jane ein schlechtes Gewissen gehabt, als sie die Treppe vom Dachboden hinab stieg. Allerdings nur fast. Der Dachboden eignete sich hervorragend dafür, aus einem Nichtsnutz einen Mann zu machen. Im Winter würde er entsetzlich frieren und im Sommer gnadenlos brutzeln. Wenn er überhaupt so lange durchhielt. Sie rechnete bereits morgen mit seiner Abreise. Eine Nacht dort oben würde ihm vollkommen reichen.

Leise machte sie ihren Kontrollrundgang und zog sich dann in ihr Zimmer zurück. Erst jetzt bemerkte sie ihre Müdigkeit, die sich angesichts der ungewöhnlichen Ereignisse vorübergehend zurückgezogen hatte. Sie entkleidete sich, wusch sich und schlüpfte in ihr Nachthemd. Dann kroch sie unter die Bettdecke. Nicht lange und sie schlief tief und fest.

James fluchte, während er sich auf dem Strohsack zusammenrollte. Er spürte die Kälte unter das Bettlaken kriechen und seine Füße in Eisklumpen verwandeln. Doch was hatte er erwartet? Dass Miss White ihn mit offenen Armen empfing, ihn in eine warme Bettdecke wickelte und den Tee servierte? Sie hatte ihrer Abneigung gegenüber ihm, mit klaren Worten Ausdruck verliehen. Es war ihm ein Rätsel, weshalb sie in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft, eine derartige Ablehnung ihm gegenüber empfinden konnte. Wahrscheinlich hatte er dies seinem Ruf zu verdanken – er war ihm wieder einmal vorausgeeilt. Wenn er ehrlich war, war sein Leumund immer noch besser, als die Dinge, die er tatsächlich getan hatte und für die er sich immer mehr schämte. Es war eine Scham, tief in ihm vergraben, die er bisher erfolgreich ignoriert hatte. Allerdings hatte sie unangenehm zu pulsieren begonnen, als er sich des Abgrunds bewusst geworden war, den er schon fast ganz hinabgestürzt war. Ihm war klar, dass er auf diese Weise nicht mehr weitermachen konnte. Lieber würde er erfrieren, als sich schon aufzugeben! Er schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Doch die Kälte machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er sich zitternd erhob und den Dachboden verließ. Im Aufenthaltsraum glomm noch die Asche und James stellte ein paar Scheite in die Glut. Nicht lange und die ersten Flammen züngelten an ihnen empor. Er griff nach seinem Mantel, wickelte sich darin ein und setzte sich auf den Stuhl vorm Kamin. Seine Füße legte er auf jenen Stuhl, auf dem Miss White vorhin gesessen war. Als seine Gliedmaßen wieder auftauten, fühlte er ein schmerzhaftes Kribbeln und schloss erschöpft die Augen. Er ließ den Kopf auf die Lehne zurücksinken und konnte endlich einschlafen.

Das erste, was Jane am nächsten Morgen, nachdem sie sich angekleidet hatte, machte, war auf den Dachboden zu steigen und nachzusehen, ob Winterthorne noch da war. Wie erwartet hatte er sein Lager verlassen und sie konnte ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. Wie vermutet, hatte er beim geringsten Widerstand aufgegeben. Nachdem sie die Kinder geweckt hatte, machte sie sich auf den Weg in die Küche. Die Köchin war bereits damit beschäftigt, Wasser auf dem großen Ofen zu erhitzen und kleine Brötchen zu backen. Sie grüßte die Leiterin freundlich und setzte mit geübter Routine ihre Arbeit fort.

Die Kinder, welche dafür eingeteilt waren die Tische zu decken, schwirrten schon emsig durch den Speisesaal. Hier war der Lärmpegel um einiges höher, als in der ruhigen Küche.

„Guten Morgen, Miss White“, grüßten sie artig, als sie Jane erblickten.

„Guten Morgen, ihr Lieben“, erwiderte sie den Gruß und ging weiter zum Aufenthaltsraum. Wenn sie Glück hatte, war noch Glut im Kamin und sie könnte ohne Probleme ein neues Feuer schüren. Wenn nicht, musste sie … Mitten in der Bewegung hielt sie inne und starrte auf die zusammengesunkene Gestalt vor der Feuerstelle. Fast hätte sie vor Schreck aufgeschrien, konnte sich aber gerade noch beherrschen und schluckte ihre Reaktion herunter. Leise schlich sie näher und bekam fast ein wenig Mitleid, als sie Winterthorne in dieser unangenehmen Position schlafend vorfand. Dunkle Ringe zeichneten sich deutlich unter seinen geschlossenen Lidern ab. Jane biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Wie es aussah, hatte sie ihn unterschätzt. Er hatte die Flucht noch nicht ergriffen. Offensichtlich hatte er in der Nacht noch einmal geheizt, denn es war reichlich Glut vorhanden. Vorsichtig legte sie Holz nach und richtete sich auf. Als sie sich umdrehte, traf ihr Blick direkt auf seinen und sie zuckte zusammen. Ein wenig schlechtes Gewissen war dabei, doch sie verdrängte es. Immerhin war er der Mann, der ihr Leben ruiniert hatte. Er verdiente kein Mitgefühl. Müde strich er sich mit einer Hand durch die Haare und zog seine Füße vom Stuhl.

„Wie ich sehe, seid Ihr noch hier“, meinte sie und stemmte die Fäuste in die Hüfte.

„Angesichts Ihrer Gastfreundschaft tatsächlich ein bemerkenswerter Umstand“, erwiderte der Earl trocken. „Ich frage mich, womit ich Ihre Missbilligung erregt habe. Ihr müsst mich bis auf die Knochen hassen.“

Jane lächelte süßlich. „Wie es aussieht, war sie noch nicht abschreckend genug. Für nächste Nacht würde ich den Stall vorschlagen. Dort ist es dank der Schafe immerhin wärmer.“

„Vielleicht findet sich ja doch noch irgendwo eine kleine Kammer, die nicht täglich benötigt wird?“

„Wenn Ihr die Probezeit überlebt habt, werde ich darüber nachdenken.“

„Die wie lange dauert?“

„Das hängt von meinem Gutdünken und Eurer Läuterung ab.“

Er lachte auf.

„Ich habe gewusst, dass Sie die Richtige für mein Anliegen sind!“

Jane verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. Mit einem Stöhnen stand er auf und streckte sich.

„Muss ich während der Probezeit hungern, oder werfen Sie mir ein paar Brotkrumen unter den Tisch?“, fragte er und fluchte leise, während er seinen Nacken massierte.

„Ihr werdet nicht verhungern, Mylord. Kommt, ich zeige Euch, wo Ihr Euch frisch machen könnt. In zehn Minuten erwarte ich Euch im Speisesaal. Der Gong wird geläutet, damit Ihr wisst, wann es so weit ist.“

„Vielen Dank, E..., Miss White.“

Sie warf ihm einen rügenden Blick zu und öffnete die Tür zum Waschraum der Buben.

„Wenn Ihr etwas benötigt, fragt eines der Kinder. Sie werden Euch helfen.“

„Vielen Dank, Miss White.“ Er verbeugte sich ironisch und blickte ihr nach, als sie davon ging.

Er kam etwas zu spät und alle Augen richteten sich auf ihn, als er die Tür hinter sich schloss. Jane erhob sich und klatschte in die Hände, damit das aufgeregte Getuschel der Kinder verstummte. Als Ruhe eingekehrt war, sagte sie: „Ihr Lieben, wir haben für die nächste Zeit einen neuen Mitarbeiter. Sein Name ist James und er wird helfen, wo Not am Mann ist.“

Nein, er würde nicht erblassen, angesichts der Tatsache, dass sie ihn als einfachen Arbeiter vorgestellt hatte! James! Herr im Himmel, die Frau hatte Nerven! Nun blickte sie ihn direkt an und deutete auf einen Stuhl, der an der Stirnseite eines Tisches stand. Auf allen anderen Stühlen saßen Kinder unter, schätzungsweise, acht Jahren.

„James, wenn Sie bitte dort Platz nehmen würden.“

„Gerne, Miss White“, erwiderte er und versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

„Nun“, meinte er, als er sich gesetzt hatte und in die Runde blickte, „meinen Namen kennt ihr bereits. Jetzt verratet mir eure!“

Jane war überrascht von seiner Reaktion auf ihre Demütigung. Er hatte sie hingenommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wie es aussah, konnte er mehr einstecken, als sie erwartet hatte. Oder, es stimmte, was er ihr berichtet hatte und er war derart verzweifelt, dass er einfach alles machen würde, um seine Krankheit loszuwerden. Als die Kinder an seinem Tisch lachten, drehte sie den Kopf in seine Richtung. Wie es aussah, schien er sich mit seinen Tischgenossen bestens zu unterhalten. Als das Frühstück beendet war, scharten sich auch die Kinder der anderen Tische um ihn. Moira, eines der älteren Mädchen, warf ihm schmachtende Blicke zu. Hoffentlich ergaben sich auf dieser Linie keine Komplikationen! Jane klatschte wieder in die Hände und es wurde augenblicklich still.

„Ich freue mich sehr, dass unser neuer Mitarbeiter bei euch so gut ankommt. Doch ihr wisst, dass es nun Zeit für die Schule ist. Begebt euch nun bitte an eure Plätze! Eure Lehrerinnen warten sicher schon.“

Als die Horde davon gestoben war, erklärte Jane, den Kindern nachblickend: „Seit uns Lady Townsend unterstützt, gehen die Kinder regelmäßigem Unterricht nach, was ihnen neue Hoffnung gibt. Es gibt verschiedene Programme und die älteren Kinder verlassen uns für einige Wochen, um in unterschiedlichen Berufen ausgebildet zu werden. Zwei unserer ältesten Kinder haben bereits Arbeit gefunden und leben selbstständig. Dies sind Erfolge, von denen ich vor wenigen Jahren nicht einmal zu träumen gewagt hätten.“

Sie drehte sich zu ihm und blickte ihn an. „Ich hoffe, Euch ist bewusst, dass jedes dieser Kleinen Fürchterliches durchgemacht hat. Es ist kein Spiel, für das Ihr Euch hier entschieden habt, Mylord. Geht sorgsam mit den kleinen Seelen um!“

Winterthorne nickte. „Vielleicht ist es mir ebenfalls möglich, etwas zu dem Wohlergehen der Kinder beizutragen.“

Jane runzelte zweifelnd die Stirn, dabei klopfte sie mit dem Zeigefinger auf ihre Lippen.

„Wir werden sehen und nun an die Arbeit. Füllt das Holz neben allen Kaminen im Haus auf! Ich denke, die Vorräte gehen zu Neige. Überprüft bei Gelegenheit, ob noch genügend Holz in Scheiten vorhanden ist. Wenn nicht, lautet Eure heutige Aufgabe: Holz hacken. Ich hoffe, Ihr wisst, wie man das macht.“

Winterthorne blickte sie entgeistert an. „Natürlich nicht“, sagte er. „Aber so schwer kann es ja nicht sein.“

Jane unterdrückte eine sarkastische Bemerkung. „Die Axt soll Euch der Stalljunge geben, wenn Ihr sie benötigt.“

Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, ließ Jane ihn stehen.

Als hätte es Miss White geahnt, musste dringend für Nachschub gesorgt und Holz gespalten werden. Die maßgeschneiderte, aber nicht sehr praktische Kleidung, die er trug, war dazu nicht geeignet. Er musste sich dringend passenderes Gewand besorgen. Allerdings nicht jetzt, denn es lagen dicke Stämme vor ihm im Schnee, die darauf warteten, zerkleinert zu werden. Obwohl es eiskalt war, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Die ihm gestellte Aufgabe entpuppte sich als um einiges schwieriger, als erwartet und er kämpfte stundenlang bis er den Schwung heraußen hatte. Jeder Teil seines Körpers schmerzte, als er humpelnd ins Haus zurückkehrte. Morgen musste das Holz in den Schuppen gestapelt werden. Diese Instruktion hatte er direkt von dem Stalljungen erhalten und James knirschte verdrießlich mit den Zähnen. Als er Miss White beim Abendessen beobachtete, sah, wie sie lächelte, regte sich das erste Mal an diesem Tag das wohlbekannte Verlangen in ihm. Er deutete es als Fortschritt, dass er sage und schreibe mehre Stunden lang nicht an einen Frauenkörper gedacht hatte. Wie es schien, wusste Miss White, was sie tat. Obwohl er ihr auf diesem Gebiet nicht wirklich viel Erfahrung zurechnete. Vielleicht war es aber auch der weibliche Instinkt, der ihr in diesem Fall zu Hilfe kam. Weiter kam er in seinen Überlegungen nicht, denn einer der Buben wollte wissen, weshalb er so merkwürdig gekleidet war.

„Hier sind noch zwei Decken. Ich denke, damit dürftet Ihr die nächste Nacht überstehen.“ Sie reichte ihm die genannten Dinge. „Eine Waschschüssel samt Krug würde ich vorerst nicht empfehlen. Ich nehme an, das Wasser würde gefrieren. Ihr könnt weiterhin den Waschraum der Jungen verwenden.“

„Zu gütig“, meinte Winterthorne. Ihm graute vor der nächsten Nacht. „Ich bräuchte auch noch angemessene Kleidung.“

„Ich bin sicher, Ihr werdet in Plymouth fündig werden. Gute Nacht.“

Todmüde sank er auf den Strohsack. Er fühlte sich schmutzig, zerschlagen und vollkommen erledigt. Der Gedanke an eine Frau war reiner Luxus, den er sich aufgrund seiner Erschöpfung aber nicht gönnen wollte. Mit letzter Kraft wickelte er sich in den Decken ein und schloss die Augen. Er war zu schnell eingeschlafen, um die Kälte seiner Umgebung zu bemerkten.

Mit klammen Fingern, goss er sich am nächsten Morgen im Waschraum der Buben, eine Schüssel voll lauwarmen Wassers ein. James meinte, in seinem ganzen Leben noch nicht so gefroren zu haben, wie in den letzten beiden Tagen. Abgesehen davon war er überzeugt, sich zuvor auch niemals so erschlagen gefühlt zu haben. Er teilte Miss White mit, dass er zwecks Kleiderkauf am Vormittag abwesend sein und seine Arbeit nach dem Mittagessen wieder aufnehmen würde, was er dann auch machte. Die neue Kleidung fühlte sich ungewohnt auf seiner Haut an. Ihr Stoff war dick und schwer und kratzte bei manchen Bewegungen. Als er sich im Spiegel betrachtete, erkannte er sich kaum wieder. Aus dem feinen Earl war ein einfacher Mann geworden, dessen Fingerspitzen durch die Kälte gerötete waren. Sein Haar stand wirr um seinen Kopf – es vermisste die Pflege seines Kammerdieners. James seufzte. Für die meisten Ziele mussten Opfer gebracht werden. Es war nur recht und billig, dass die Schule des Lebens ihn derart hart zur Brust nahm.

Jane hielt die Luft an, als sie ihn am Nachmittag erblickte. Sie war zur Scheune gegangen, um nach seinen Fortschritten zu sehen und hatte ihn im ersten Moment nicht erkannt. Er wirkte verändert, stärker und männlicher, so schien es ihr. Verbissen stapelte er Holzscheite aufeinander.

„Mylord, wie ich sehe, kommt Ihr voran.“

„James“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Den Earl haben Sie bereits hinübergebracht.“

Sie lachte auf und er hielt in seiner Arbeit inne. Mit dem Unterarm fuhr er sich über die schweißnasse Stirn. „Herrgott, ist das anstrengend!“

„Die ersten Tage sind die schlimmsten. Ihr werdet Euch daran gewöhnen. Wenn Ihr durchhaltet.“

„Sie rechnen noch immer damit, dass ich aufgebe?“

Lässig stützte er sich an einem Balken ab und betrachtete sie. Jane zuckte mit den Achseln und wich seinem Blick aus.

„Ich denke, Miss White, ich muss Sie enttäuschen. Ihre Kur schlägt an. Bis zu diesem Moment habe ich tatsächlich vergessen, dass es so etwas wie Frauen überhaupt gibt.“

Amüsiert beobachtete er, wie sich ihre Wangen röteten.

„Dann will ich Euch nicht weiter stören“, meinte sie. „In einer Stunde gibt es Abendessen. Seien Sie pünktlich!“

„Sehr-wohl-Miss-White“, stieß er mit abgehakter Stimme hervor und salutierte. Kurz blickte er ihr nach, dann bückte er sich, um mit seiner Tätigkeit fortzufahren.

Ein verhängnisvolles Wiedersehen

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