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Kapitel 1

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Die Sonne war aufgegangen und die Hunde kündigten den neuen Tag an, indem sie an der Bettdecke zogen und winselten. Thor reagierte wie jeden Morgen prompt.

Normalweise ließ Dylan ihn walten. Er sagte nichts, wenn sich sein Partner aus dem Bett erhob, schweigend im Bad verschwand und sich anschließend ebenso geruhsam anzog. Aber die Distanz zwischen ihnen wurde von Tag zu Tag größer. Jeden Morgen hoffte Dylan, dass sich die Lage änderte, aber nichts geschah.

Er drehte sich auf die Seite und beobachtete, wie Thor sich in ein T-Shirt kleidete und es über die Lederhose strich. Sein feuchtes Haar kringelte sich auf dem Rücken. Dylan roch Aftershave. Die Sehnsucht in ihm war kaum auszuhalten. «Warum teilen wir uns eigentlich das Bett, wenn du mich sowieso ignorierst?»

Thor sah sich erstaunt um. «Schlaf weiter, es ist noch früh», raunte er.

«Ja, ich will schlafen, aber mit dir!», tönte Dylan. «Und du kannst mir nicht weismachen, dass es an der Fußfessel liegt, dass du dich mir entziehst.»

«Was willst du, Perk?»

«Sex!», keifte Dylan.

«Du hast zwei gesunde Hände, wenn du es so nötig brauchst.» Thor drehte sich wieder um und schloss den Kleiderschrank.

«Das ist nicht dasselbe!», schimpfte Dylan und richtete sich auf. «Seit wir aus Amerika zurück sind, läuft überhaupt nichts mehr zwischen uns, schon gemerkt?»

Thor stand regungslos im Raum und drehte ihm den Rücken zu.

«Warum antwortest du nie, wenn es was zu klären gibt?»

«Du streitest, du klärst nicht.» Thor schüttelte den Kopf. «Da hat es keinen Sinn, zu diskutieren. Das macht es nur schlimmer.»

Entnervt fasste sich Dylan an die Stirn. Mit nötiger Sorgfalt massierte er seine Schläfen. Es beruhigte ihn nur bedingt.

«Ich versuche, mich zusammenzureißen, wirklich», beteuerte er. «Aber da ist diese Wut in mir: Am liebsten würde ich um mich schlagen und mich besaufen.»

«Ich bin auch wütend», antwortete Thor. «Mehr als du denkst.»

***

‹Kafé og Galleri Saarheim›, so prangte es in schnörkeligen Lettern über den breiten Fenstern der ehemaligen Kneipe. Zumindest das äußere Erscheinungsbild hatte Formen angenommen. Aber im Inneren der Räume herrschte Chaos. Dylan bahnte sich einen Weg durch Tapeziertisch und Leiter. Es roch nach Farbe und Putzmitteln. Thor hockte in der hinteren Ecke des großen Zimmers, das als Ausstellungsraum für seine Bilder fungieren sollte. Mit bloßen Händen entfernte er die Leisten vom Boden. An einigen Stellen war der Teppich herausgerissen. Überall lagen Staub und Dreck. Dylan versuchte, nirgends anzustoßen.

«Hei», grüßte er. Nachfolgend unterdrückte er ein Husten, denn die Luft war zum Schneiden dick und stickig.

«Was willst du hier, Perk?», raunte Thor, ohne sich umzudrehen. Mit einer schnellen Bewegung zog er die nächste Fußleiste von der Wand.

«Ich bin noch immer dein Partner, auch wenn du es auf körperlicher Ebene anscheinend vergessen hast», erwiderte Dylan schnippisch. Demonstrativ sah er sich um. «Ich bin hier, um zu helfen.»

Thor stieß ein dunkles Lachen hervor. «Du?»

«Ja, warum nicht?», entgegnete Dylan postwendend.

«Hast du schon mal Wände gestrichen oder tapeziert?», hakte Thor nach. Er rieb die Handflächen über die Oberschenkel. Staubige Abdrücke blieben auf seiner dunklen Jeans zurück. In seinen Haaren saßen helle Farbreste.

«Nicht unbedingt.»

«Kannst du Fliesen oder einen Teppich verlegen?», wollte Thor wissen. Nebenbei fasste er an den Bodenbelag und zerrte ein Stück davon ab.

«Na ja …» Dylan wand sich auf der Stelle und lächelte.

«Kannst du Lampen und Armaturen auswechseln?»

«Das nicht.»

«Was willst du denn hier?» Thor drehte sich um. «Wenn du nichts kannst, stehst du im Weg.»

Dylan hob die Hände an. «Ich kann es lernen!»

Thor kam auf die Beine. «Dafür fehlt uns die Zeit», sagte er. «Der Teppich muss heute raus und ich erwarte die Lieferung für das Parkett, das ich selbst nicht verlegen kann.»

«Nein?»

Thor hob die Schultern an. Nachdenklich sah er durch den Raum. «Ich will, dass es anständig wird und es gibt zu viele Ecken hier. Das sollte ein Fachmann machen.» Er zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. «Das Problem ist, dass wir keine Handwerker finden.»

Dylan stutzte. «Nein?»

«Niemand ist scharf darauf, Thor Fahlstrøm zu helfen.»

«Oh, fuck, echt jetzt?»

Thor nickte still.

Dylan stemmte die Hände auf die Hüften und blickte sich um. Die Galerie war stark verwinkelt und es gab zwei Stufen, die in den vorderen Bereich des Cafés führten. Rund um den Tresen mit integrierter Anrichte und Küche war der Boden gefliest. Die Tatsache, dass die Renovierung ins Stocken geriet, nur weil keine norwegische Firma bereit war, Thor zu helfen, war ernüchternd.

«Dann holen wir uns Leute aus England», beschloss Dylan. «Das wird teurer aber sicher nicht schlechter.»

«Wer soll das bezahlen, Perk?», erwiderte Thor. «Ich bin jetzt schon am Limit.»

«Ich unterstütze dich», versicherte Dylan.

«Dein Geld nehme ich nicht», sagte Thor. Nicht zum ersten Mal.

Dylan seufzte. «So viel haben wir in Amerika gar nicht ausgegeben.» Er dachte an sein eigenes Vermögen, das trotz der Auszeit gestiegen war. Die Einnahmen von Plattenverkäufen waren weitergelaufen. «Du hast doch sicher Rücklagen», meinte er demzufolge.

«Ich bin pleite, Perk», verdeutlichte Thor mit Nachdruck. «Die Renovierung kostet und ich bekomme keinen Kredit. Dazu musste ich eine satte Geldstrafe begleichen.»

Dylan erstarrte. «Pleite?», wiederholte er. Ein kleiner Schock übermannte ihn. Doch augenblicklich verstand er, weshalb Thor nicht mehr versuchte, sich gegen die Sanktionen aufzulehnen. Er war in Geldsorgen und tat alles dafür, um aus der misslichen Lage herauszukommen. «Das wusste ich nicht», fügte Dylan hinzu und rätselte laut. «Aber du hast das Wohnmobil verkauft. Das war einiges wert. Wo ist das Geld?»

«Ich dachte, ich lande im Knast», erklärte Thor. Er drehte sich einem Beistelltisch zu und drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus. «Ich habe es sicher angelegt.»

«Okay, aber Aktien kann man verkaufen, oder nicht? Das Geld ist nicht weg.»

Thor fasste an seinen Bart am Kinn. Eine verlegene Geste. Er machte wenige Schritte über den Teppich und ließ sich mit der Antwort Zeit.

«Ich habe keine Aktien gekauft», gestand er schließlich. Vor dem Fenster zum Hinterhof blieb er stehen und blickte hinaus.

«Sondern?», bohrte Dylan nach.

«Ich habe das Geld Mr. Miller übertragen», sagte Thor mit ruhiger Stimme, nahezu belanglos. In Dylan sorgte die Antwort jedoch für eine Überraschung.

«Mr. Miller?», wiederholte er perplex und fasste sich an die Brust. «Etwa … für die Ranch?»

Thor drehte seinen Kopf und sah ihn an. Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht. «Ja.»

«Samt Lore?»

«Samt Stallungen und Lore.»

«Holy shit!» Dylan griff sich an die Stirn. Sein Herz machte einen erfreuten Sprung, kaum dachte er an das Haus in Nevada, in dem sie während ihres Amerikaaufenthalts mehrere Monate gelebt hatten. «Das ist der Wahnsinn!» Er gluckste vor Freude. «Du glaubst nicht, wie sehr mich das freut.»

Thor zwinkerte. Mit einer Hand strich er zärtlich über Dylans Wange. Eine sinnliche Geste, ein Zeichen der Zuneigung. Dieses Empfinden in Wort zu fassen, fiel ihm schwer, doch es war klar, dass er die Ranch aus einem bestimmten Grund gekauft hatte.

«Vielen Dank.» Dylan ergriff die Hand und hauchte einen Kuss darauf.

«Schon gut», erwiderte Thor und zog die Hand zurück.

Trotzdem brachte die Neuanschaffung Beklemmung mit sich.

«Jetzt versteh ich das Ganze», sprach Dylan leise.

Thor wiegelte ab. «Mr. Miller kam mir preislich entgegen, aber es fehlt noch ein letzter Abschlag. Zudem fallen Kosten an. Das Anwesen wird weiterhin von einer Person kontrolliert und instand gehalten. Die Tiere müssen versorgt werden.» Sein Gesicht erlangte die bekannte Härte zurück.

Dylan nickte. Ihm war bewusst, was es hieß, die Ranch in Schuss zu halten, einschließlich der Pflege der Hühner und der Stute Lore. «Sobald du wieder reisen darfst, fahren wir hin, okay?»

«Ja», sagte Thor knapp, aber sein Gesichtsausdruck signalisierte, dass bis dahin noch einige Zeit vergehen musste.

***

Es war der 17. Mai: ein besonderes Datum in Norwegen. Dylan stand extra früh auf, um den Nationalfeiertag mit all seinen Feierlichkeiten mitzuerleben. Er verspürte Aufregung, denn an diesem Tag war die ganze Nation auf den Beinen. In Oslo wurde das Event mit einer stundenlangen Parade und der Aufwartung des Königshauses vor dem Volk gebührend gefeiert.

Er hatte sich in Schale geworfen: Mit einem dunklen Jackett und Seidenhemd, nur die schwarze Jeans war ein bequemes Kleidungsstück, denn er rechnete damit, mehrere Stunden auf den Beinen zu sein.

«Du willst wirklich nicht mit?», fragte er Thor zum wiederholten Mal.

«Nei.» Fahlstrøm saß im Wohnbereich, rauchte eine Zigarette und sah seinen Partner mit finsterer Entschlossenheit an.

«Aber du liebst doch dein Land.»

«Ich kann mein Land auch lieben, ohne Fähnchen zu schwingen. Außerdem darf ich nicht den ganzen Tag durch die Stadt rennen.» Mit einem Fingerzeig auf seine Fußfessel erinnerte er daran, dass er sich nur in einem begrenzten Umfeld zu einer festgelegten Zeit fortbewegen durfte.

«Wenn du dich in der Nähe des Cafés aufhältst, wird es niemand merken.»

«Ich habe ‹nein› gesagt», erwiderte Thor.

«Dann eben nicht!» Dylan hob die Nase in die Höhe und steckte Geldbörse und Handy ein. «Keine Ahnung, wann ich wiederkomme …»

Thor lachte dunkel. «Vermutlich erst, wenn du einen Sonnenbrand hast.» Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. «Pass auf die Russ auf.»

Dylan stutzte, denn er hatte einiges über den Nationalfeiertag gelesen: Dass es Straßensperrungen gab, meterlange Umzüge aller Schulklassen, dass die Menschen Waffeln und Eis im Überfluss konsumierten, dass man sich am Schloss Sitz- und Stehplätze kostenlos reservieren konnte, um dem König aus nächster Nähe zuzuwinken, aber von den Russ hatte er noch nie zuvor gehört.

«Das sind die Schulabgänger», erklärte Thor mit einer Stimmlage, als würde er von der Mafia sprechen. «Während der Umzüge benehmen sie sich noch gesittet, aber danach …»

Dylan grinste. «Kann ich mir vorstellen, dass die feiern. Das stört mich nicht. Außerdem hab ich Erik dabei.»

«Dann pass erst recht auf.» Thors Tonfall blieb konzentriert. Während Dylan überlegte, ob er sich die Worte zu Herzen nehmen sollte, klopfte es an der Tür, die sich kurz darauf öffnete.

«Können wir los?», fragte Erik. Er lugte lediglich mit dem Kopf durch den Türspalt. Wollte er etwas verbergen? «Später fahren die Bahnen nicht mehr nach Plan.»

«Ich bin bereit.» Dylan hob die Hand zum Abschied, zwinkerte Thor zu und zog die Tür weiter auf. Er betrachtete Erik in voller Montur und sofort entwich ihm ein bewundernder Pfiff. «Wow, du siehst abgefahren aus!»

Erik steckte in einer norwegischen Tracht, der sogenannten ‹Bunad›. Dazu gehörten nach Tradition nicht nur Hose, Weste, Hemd und Schal, sondern auch ein Hut und ein Jackett.

Die gold-schwarz gemusterte Weste war aus Seide und besaß silberne Knöpfe. Die Jacke aus schwarzer Wolle war halblang und ebenfalls mit Manschettenknöpfen ausgestattet. Das weiße Hemd hatte einen Stehkragen, um den sich ein blauer Seidenschal rankte.

«Ja, findest du?» Erik grinste bescheiden. Nach wie vor hielt er Abstand. Befürchtete er vonseiten Thors einen negativen Kommentar?

«Sicher!» Dylan zückte sein Handy, öffnete die Fotoapp und drückte auf den Auslöser. «Das senden wir an Tony. Der wird sich ärgern, dass er nicht eher angereist ist.»

Sie nahmen den Mietwagen und fuhren die Sognsveien hinab bis zur Haltestelle Sognsvann. Dort angekommen reihten sie sich in die Ansammlung von Menschen ein, die per T-Bane in die Stadt fahren wollten. Da die Station gleichzeitig die Endstation war, ergatterten sie sogar einen Sitzplatz. Aber nach wenigen Zwischenstopps füllte sich die Bahn. Dylan kam ins Staunen. Die meisten Menschen trugen norwegische Fahnen mit sich. Rucksäcke, Taschen, Kinderwagen und sogar Hunde waren festlich mit den drei Farben, angeordnet mit einem blauen Kreuz, weißer Kontur auf rotem Grund, geschmückt.

Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr Leute samt Flaggen erspähte er auch auf den Gehwegen.

Am Schlosspark stiegen sie aus. Die Straßen waren weitläufig gesperrt. An jeder Ecke standen Sicherheitskräfte. Die ersten Parademärsche schoben sich bereits durch die Innenstadt.

Sie kamen schleppend voran, was nicht an den Menschenansammlungen lag, sondern daran, dass Dylan sich fortwährend umsah oder stehen blieb. Zum Glück war Erik an seiner Seite. Der wusste, wo sie entlangmarschieren mussten.

Die Karl Johans Gate war zu einer festlichen Allee geschmückt. Fahnen hingen von den Häusern. Beidseits der Straße gab es Absperrungen, die die Schaulustigen zurückhielten. Dicht an dicht standen die Menschen – Einheimische ebenso wie Touristen – , um einen Blick auf die Schüler zu erhaschen, die in geübter Formation, ebenfalls zünftig gekleidet, samt Lehrer und Spielmannszug, den Weg über die Hauptstraße Richtung Schloss nahmen.

Staunend blickte Dylan auf die lange Straße, in der die Farben der norwegischen Flagge dominierten.

«Wahnsinn!», schrie er. Mehrfach hob er sein Handy, um Fotos zu machen. Eine Schulklasse folgte der nächsten, ein Lied ging in ein anderes über. Gelächter und Jubelschreie erklangen und er ließ es sich nicht nehmen, selbst die Fahne zu schwingen.

Erik beobachtete das Treiben gelassener. Vermutlich hatte er die alljährliche Feier schon häufiger miterlebt. Nachdem sie den Festmarsch eine Weile verfolgt hatten, griff er nach Dylans Hand. «Kein 17. Mai ohne den König!», verkündete er.

Dylan gluckste vor Freude. Bereitwillig ließ er sich von Erik durch die Massen schleusen. An der Absperrung zum Schlossplatz zückte der ein Schriftstück. Das wurde von einem Wachmann gescannt. Folglich durften sie den Platz betreten. Auch dort standen die Menschen dicht gedrängt, doch ebenso hatten sie von hier aus eine gute Sicht auf den Balkon des Schlosses.

Staunend ließ Dylan die Eindrücke auf sich wirken. Die Königsfamilie, samt Oberhaupt, Prinz und Prinzessin, sowie deren Kinder winkten der jubelnden Menge zu. Ein ergreifender Augenblick, den er ebenfalls mit dem Handy einfing. Für einen kurzen Moment war er den Tränen nahe.

«Danke!», warf er Erik zu. «Danke, dass du mich mitgenommen hast.» Sein Blick schwirrte zurück. Auf dem Vorplatz des Schlosses war eine neue Schulklasse angekommen. In einem Kreis und bei traditioneller Musik führte sie einen Tanz vor. Dylan klatschte zum Takt.

Das Treiben und der nicht endende Festzug waren so fesselnd, dass er das erste Mal auf die Uhr sah, als zwei Stunden vergangen waren und sein Nasenrücken spannte. Nun wusste er, was Thor gemeint hatte. Die Sonne schien ungnädig auf sie nieder und es gab weit und breit kein schattiges Plätzchen. Zudem hatte er Durst und auch etwas Hunger. Erstaunt war er ebenfalls, weil es kaum Buden gab, die irgendwelche Speisen oder Getränke vertrieben.

«Können wir nicht irgendwo einen Imbiss nehmen?»

Erik winkte ab. «Die meisten Leute nehmen sich was zu essen und trinken mit», erklärte er. «Außerdem ist Feiertag, die Läden haben zu. Wenn du Glück hast, begegnet dir ein Eisverkäufer und einige Geschäfte verkaufen süßes Gebäck in den Straßen.» Er zog eine Sonnenbrille hervor und reichte sie Dylan, der sie dankbar entgegennahm und aufsetzte.

«Abgesehen davon, sollten wir hier keine Wurzeln schlagen.» Auf Eriks Gesicht schlich sich ein verheißungsvolles Lächeln. Erneut fasste er nach Dylans Hand. «Ich kenn ein besseres Plätzchen.»

Dylan hatte sich mitziehen lassen. Zurück zur Straße, entlang der Karl Johans Gate, bis zu einem Haus aus rotem Backstein, in dem sich das Hard Rock Cafe von Oslo befand.

«Ich hab hier Beziehungen», verkündete Erik. Gezielt lotste er Dylan ins Gebäude. Sie betraten ein Treppenhaus, erklommen die Stufen bis zur zweiten Etage und gelangten kurz darauf in eine Wohnung, in der eine Party stieg. Auf einem Tisch reihten sich Speisen und Getränke – vornehmlich Würstchen, Waffeln und Alkohol in allen Facetten. Auch Erik, der den Gastgeber kannte, zog aus seinem Rucksack zwei Flaschen und stellte sie dazu. Dylan nahm eine Waffel in die Hand und betrat den Balkon. Von hier aus konnte er den Festmarsch noch besser verfolgen. Inzwischen liefen die Schulklassen der älteren Semester über die Straße.

Jugendliche in roten Anzügen brüllten unverständliche Parolen durch die treibenden Beats der moderneren Musik, die sie begleitete. Die Zuschauer quittierten die Rufe mit einem jubelnden: «Hurra!»

«Sind das die Russen?», fragte Dylan gespannt.

«Ja. Die in den roten Anzügen sind die Abiturienten und die in den blauen sind die Abgänger vom Wirtschaftsgymnasium.» Erik stand neben ihm auf dem Balkon, nippte an einer Flasche Bier und erklärte. «Der Russ-Umzug zum 17. Mai bildet den Höhepunkt der wochenlangen Abschlussfeiern, Mutproben und Späße.» Er schüttelte den Kopf und lachte. «Oh je, wenn ich an meinen Abschluss denke … Man hat meine Clique und mich fast eingebuchtet.»

«Was?» Dylan sah ihn fragend an.

«Wir sind mit einem alten VW-Bus umhergefahren, sternhagelvoll, haben randaliert und jugendfrei haben wir uns auch nicht verhalten.»

«Meine Güte!» Dylan grinste und hielt sich am Balkongeländer fest. Unweigerlich dachte er an Thors Warnung und war froh, dass er das Treiben aus angemessener Entfernung mitverfolgen konnte. Sobald das Thema auf Alkohol und Parties zu sprechen kam, fühlte er sich unwohl. Er wusste, woran das lag. Nach wie vor trug er die Angst mit sich, rückfällig zu werden. Bestimmten Reizen ging er lieber aus dem Weg.

«Was sind das für Kärtchen, die die Russ verteilen?»

«Eine Art Visitenkarte der Schulabsolventen. Darauf stehen Name und Kontaktadresse sowie originelle Sprüche», erwiderte eine Frauenstimme.

Dylan drehte sich perplex zur rechten Seite. Erik war verschwunden, stattdessen lehnte eine Frau neben ihm über der Balkonbrüstung. Sie hielt ein Sektglas in einer Hand und eine Zigarette in der anderen.

«Ach so …» Dylan visierte die Straße, dann wandte er sich komplett um. Durch das Balkonfenster sah er Erik mit einem Mann auf dem Sofa sitzen.

«Du kommst wohl nicht von hier?», fragte die Frau.

«Nein.» Dylan schüttelte den Kopf. «Ich bin mit Erik hier.»

«Mit Erik?» Die Frau lachte laut. «Seit wann lässt der sich anbinden?»

«Also eigentlich …»

Sie hörte ihm nicht mehr zu und verschwand im Inneren des Gebäudes. Dylan seufzte. Inzwischen stand er allein auf dem Balkon. Offensichtlich war er der Einzige, der sich noch für den Umzug interessierte. Aus der Wohnung dröhnten Gelächter und laute Stimmen. Von der Straße her drang die schallende Rap-Musik der Russ, die aus einer mobilen Stereoanlage hämmerte. Die ältesten Schulabgänger bildeten das Ende des barnetoget – was so viel wie ‹Kinderzug› hieß. Die starren Absperrungen wurden gelockert. Passanten reihten sich in die Schlange ein. Jetzt marschierte das Volk zum Schloss und Dylan fragte sich, ob die Königsfamilie noch immer auf dem Balkon stand, um die Bürger und Touristen zu begrüßen. Die Kinder und Jugendlichen, das lag auf der Hand, wurden an diesem Tag am meisten gefeiert.

Er rieb sich über das heiße Gesicht. Hatte er inzwischen einen Sonnenbrand? Warum hatte er nicht auf Thor gehört und sich dementsprechend eingecremt?

Zurück in der Wohnung registrierte er, dass Erik nicht mehr auf dem Sofa saß. Suchend blickte sich Dylan um. Die Frau vom Balkon reichte ihm ein Glas Sekt entgegen, das er nahezu entrüstet ablehnte.

«Oh, danke, ich trinke nichts.»

«Gar nichts?», fragte sie, wobei sich ihre Stimme anhob. Kurzerhand kippte sie den Inhalt des Glases in ihr eigenes, das demzufolge fast überschwappte.

«Nein. Habt ihr keine Cola oder sowas?»

Neben ihm lachte ein Mann laut auf. «Cola? Was bist du denn für einer? Heute ist Nationalfeiertag.»

«Ja, das weiß ich.» Dylan nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die brennende Nase.

«Ey, dich kenn ich aus dem Fernsehen!», tönte der Mann.

«Oh, nein, im Fernsehen bin ich eher selten», wehrte er ab.

«Du bist Dylan Perk, oder?», meldete sich die Frau wieder zu Wort. «Der Freund von Thor Fahlstrøm.» Sie kniff die Augen zusammen. «Stimmt es, dass der ein Café in der Stadt eröffnet?»

«Ja, das stimmt.»

«Dylan Perk, ja richtig!» Der Mann neben ihm torkelte heran und begutachtete ihn aus nächster Nähe. «Was? Einen Coffeeshop will Thor errichten?»

«Also ein Shop ist es weniger …» Dylan stoppte. Er sah, dass die Tür des Badezimmers aufging und Erik heraustrat. Dicht hinter ihm folgte ein Mann. Ihre Gesichter waren gerötet und sie hantierten auffällig an ihrer Kleidung herum. Erik lächelte verschmitzt. Sein Begleiter steuerte indes die Alkoholvorräte an und mixte zwei Drinks.

«Ihr entschuldigt mich?» Dylan ließ seine Gesprächspartner stehen und eilte in Eriks Richtung. «Dachte schon, du hast mich sitzen lassen.»

«Was?» Eriks blaue Augen leuchteten. «Dich doch nicht.» Mit einer Hand streichelte er Dylans Wange. «War nur eben für kleine Jungs … mit Bjarne.»

Der besagte Begleiter präsentierte die Drinks. Erik leerte sein Glas mit wenigen Schlucken. Dylan bewahrte Abstand. Der Geruch nach Alkohol war verlockend.

«Der Umzug ist vorbei», sagte er mit Nachdruck und hoffte, dass Erik nicken und das Ende der Party erklären würde, doch das Gegenteil geschah …

***

Der helle Streifen am Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. Dylan fuhr gemächlich, aber nicht, weil er in der frühmorgendlichen Dämmerung mit Wildwechsel rechnete, sondern weil Erik bei jeder kleinsten Erschütterung neben ihm im Beifahrersitz den Halt verlor und trotz Gurt zur Seite kippte.

«Gleich sind wir da», verkündete Dylan, nicht, ohne eine Erleichterung zu verspüren.

Die Feierlichkeiten waren beendet und er war standhaft geblieben, obwohl er stundenlang verlockenden Reizen ausgeliefert gewesen war. Nach zwei Hotdogs und vier Waffeln samt Heidelbeergelee hatte er erfolgreich die Reißleine ziehen können. Den Saufexzessen der Menschen in seiner Umgebung auszuweichen, war hingegen eine Herausforderung gewesen. Bier, Schnaps, Sekt und Wein – allem war er mehrfach und oftmals nur unter Protest entgangen. Noch nie zuvor hatte es sich als so umständlich erwiesen, an ein alkoholfreies Getränk zu kommen, ohne schief angesehen zu werden.

Und dann die Zügellosigkeit. Allen voran Erik mit seinen hemmungslosen Flirts. Ein paarmal hatte er ihn aus den Augen verloren und stets in Begleitung eines anderen jungen Mannes wiedergefunden.

Eskalation auf sämtlichen Ebenen. Das hätte Dylan den Norwegern nicht zugetraut.

Er hielt vor dem Carport, unter dem die beiden Jeeps standen, und langte neben sich. «Hey! Wir sind da.»

Da Erik sich nicht rührte, musste er ihn umständlich vom Beifahrersitz ziehen. «Nun werd wach!», forderte er ihn auf.

Erik stöhnte. Sein dünner Körper war schwer und Dylan schaffte es nur mit Mühe, ihn vorm Wagen auf die Beine zu stellen. Stützend krallte er sich in Eriks Hosenbund. «Wo ist eigentlich dein Hut?»

«Jeg vet ikke», flüsterte Erik mit geschlossenen Augen. «Vermutlich bei Bjarne.»

«Der Typ mit den langen Haaren?», rätselte Dylan. Während er mit der freien Hand den Wagen abschloss, hielt er Erik mit einem Arm fest.

«Mhm …»

«Den hab ich hier schon mal gesehen», fuhr Dylan fort. Er entsann sich an den Abend, an dem Erik Besuch von dem groß gewachsenen Mann bekommen hatte. In jener Zeit waren sie auf der Suche nach Thor gewesen. Erik hatte sich mit dem besagten Bjarne einem heißen Intermezzo hingegeben. Ein Verhalten, das Dylan nach wie vor nicht nachvollziehen konnte. «Den kennst du wohl schon länger.» Vorsichtig gab er Erik die Richtung an. Gemeinsam machten sie taumelnde Schritte.

«Den kenn ich aus meiner Zeit in Bergen.» Erik setzte einen Fuß vor den anderen. Ohne Hilfe wäre er haltlos hingefallen. Dylan stützte ihn kräftiger.

«Kommt der extra aus Bergen hierher, um zu feiern?»

«Nei …» Erik grinste breit. «… um mich zu sehen.»

Dylan stieß ein hölzernes Lachen aus. «Beim Sehen bleibt es wohl nie …»

Erik stolperte, doch er hielt sich wacker auf den Beinen. «Bist du neidisch?»

«Wohl kaum», zischte Dylan. Stockend nahmen sie weitere Meter auf sich, bis sie vor Eriks Haus stoppten.

«Ich könnte es dir nicht verübeln», säuselte Erik. Er legte beide Hände auf Dylans Schultern und hielt sich daran fest. «Oder läuft es wieder mit Thor?»

«Weniger», antwortete Dylan gedämpft und tat nichts gegen die Hände auf seinen Schultern, deren Daumen seine Halsseiten streichelten. Das Thema machte ihn betrübt, wenn nicht gar verlegen.

«Mein Angebot steht», sagte Erik. Seine Knie sackten weg, er fing sich schnell und krallte sich an sein Gegenüber. Eine Provokation? «Jederzeit», zischte er in Dylans Ohr.

Ein paar Sekunden harrten sie in der Umarmung aus. Dylan spürte Eriks mageren Körper an seinem. Er registrierte den warmen Atem an der Wange. Ein Moment der Schwäche suchte ihn heim. Es wäre eine Leichtigkeit gewesen, den Augenblick zu nutzen; Erik zu packen, ins Haus zu schieben und dort mit ihm eine heiße Nummer hinzulegen. Mit Sicherheit hätte er sich nicht gewehrt und eine Handlung dieser Art sogar begrüßt. Aber Erik war betrunken. Dylan wollte das weder ausnutzen noch sich dessen Reizen unbedacht hingeben. Warum um alles in der Welt gelangten sie immer an den Punkt, der Zweifel aufwarf?

Eine bloße Männerfreundschaft schien zwischen ihnen einfach nicht zu funktionieren.

Dylan befreite sich aus der Umarmung, denn Eriks Nähe dauerte zu lange an.

«Du solltest schlafen», sagte er. Mit den Fingerspitzen hielt er Eriks Körper auf Abstand.

«Ach ja …» Erik bog sich vor. Es fehlte nicht viel und ihre Lippen hätten sich berührt.

Dylan wich abermals aus. «Schaffst du es jetzt allein?»

Erik wankte. Das zweideutige Grinsen in seinem Gesicht verschwand nicht, doch er gab sich einen Ruck und machte einen Schritt in Richtung Tür. «Ja, selvfølgelig!» Er vergrub eine Hand in der Hosentasche und zog den Schlüsselbund hervor. «God natt!»

«Gute Nacht!» Dylan wartete, bis Erik aufgeschlossen hatte und im Haus verschwand. Das wilde Pochen seines Herzens ließ nach. Er marschierte über den Hof, blieb abermals stehen, drehte sich wieder um und starrte so lange auf das Fenster im Obergeschoss, bis er Erik erblickte, der winkte und die Vorhänge zuzog.

Dylan atmete auf. Auch um den letzten Reiz hatte er erfolgreich einen Bogen gezogen. Es reichte auf allen Ebenen. Er gähnte und freute sich auf das Bett. Als er den Blick jedoch in die Ferne richtete, sah er die Hunde, die auf dem Vorplatz liefen und im Eingang des anderen Hauses stand Thor. Wie lange schon?

«Du bist ja früh auf!», rief er ihm entgegen.

«Und du spät dran!», antwortete Fahlstrøm. Wie so oft kamen seine Worte ohne hörbare Wertung über seine Lippen; so emotionslos und ruhig, dass Dylan verunsichert reagierte. War Thor amüsiert oder verärgert über den zeitlichen Verzug?

«Du wusstest, dass wir den Tag feiern wollten.» Trotz der Erklärung marschierte Dylan langsamer. Warum zog Thor die Augenbrauen zusammen?

«Der Umzug endet normalerweise gegen 14 Uhr», sagte er.

Dylan hob die Schulter an. Vor der Treppe zum Haus blieb er stehen. «Ja. Aber wir waren noch bei einer Party von …» Er stoppte, da er realisierte, dass er gar nicht wusste, wie der Gastgeber, in dessen Wohnung er sich aufgehalten hatte, geheißen hatte. «Direkt an der Karl Johans Gate. Ich konnte vom Balkon aus über die Straße bis zum Schloss gucken.» Seine Stimme gluckste vor Begeisterung. «Ich habe den König gesehen und den Prinzen.» Er schwärmte. «Der sah richtig gut aus: mit weißen Handschuhen und schwarzem Zylinder.»

«Den Prinzen», wiederholte Thor unbeeindruckt. «Aha. Und danach?»

«Danach?» Dylan überlegte und rieb sich den Hinterkopf. Mehrfach blinzelte er, so müde war er. «Danach war in der kompletten Stadt Party angesagt. In allen Restaurants und Bars wurde gefeiert.» Musste er das wirklich erklären? Thor musste doch wissen, wie das Treiben am Nationalfeiertag ablief, denn er wohnte hier! «Und ich habe die Russ gesehen.» Dylan grinste breit. «Aber es ist nichts passiert.»

Nein, er erzählte mit Absicht nicht, wie laut und auffällig sich die Schulabgänger verhalten hatten. Er erwähnte nichts von den Saufgelagen und wilden Orgien, die er vor den Lokalen und in den Seitenstraßen beobachtet hatte. Das ansonsten so saubere und anständige Viertel um Aker Brygge und den Tjuvholmen hatte sich zu einer Partymeile transformiert.

Er hatte Schnapsleichen in Hauseingängen gesehen und Jugendliche in Schuluniform, die sich in den geschützten Häuserecken erleichtert hatten. Da war Fremdschämen angesagt gewesen.

But – so what? Er konnte erhobenen Hauptes hier stehen und versichern, als Einziger die Kontrolle über sich behalten zu haben.

Thor schien das nicht zu beeindrucken. «Hast du getrunken?», fragte er stattdessen.

«Nein!», schrie Dylan entrüstet. «Natürlich nicht!»

Dem ungeachtet kam Thor die Stufen hinab. Er stoppte vor Dylan, fasste mit einer Hand an dessen Hinterkopf, zog in zu sich heran und startete einen festen Kuss, der so eindringlich war, dass er schmerzte. Seine Zunge schob sich zwischen Dylans Zähne, er zwängte sie in die warme Mundhöhle und erforschte sie kurz und knapp.

Dylan riss sich los. «Bist du bescheuert?»

Thor trat zurück und bewegte den Mund, als ließe er den Kuss wie einen Wein im Abgang auf sich wirken. Schließlich nickte er. «Stimmt.»

«Was hast du denn gedacht? Dass ich mir die Birne dichtknalle? Aus der Phase bin ich raus.»

«Du musst aufpassen, Perk.»

«Ja, das weiß ich», erwiderte Dylan. «Ich bin auch nur geblieben, um auf Erik aufzupassen.»

«Erik?» Thor brach in donnerndes Lachen aus. «Du kannst mir glauben, der kommt jedes Jahr erst am nächsten Tag von den Festlichkeiten zurück: volltrunken und meist nicht allein. Der benötigt keinen Aufpasser.»

Dylan stockte der Atem. Für einen Moment war er sprachlos. In seinen Augen hatte Erik sehr wohl jemanden gebraucht, der auf ihn aufpasste. Ohne eine Begleitperson wäre er sicher viel früher in einer der Kneipen versackt. Er hätte mit Sicherheit noch mehr getrunken, noch mehr Flirts angefangen und vielleicht sogar die Orientierung verloren. Es war gut, dass er, Dylan, ihn begleitet hatte, oder?

Ein plötzlicher Zweifel stellte sich ein. Hatte Erik ihn womöglich an der Nase herumgeführt? Hatte er sich mit Absicht benommen, als benötigte er Hilfe? Nur, damit Dylan sich um ihn kümmerte? Ihn vom Komasaufen abhielt, ihn zu den Toiletten begleitete, ihn in den Menschenmassen suchte, ihn umarmte und umklammerte, ihn nach Hause brachte?

«Nun …» Dylan suchte nach Worten, denn Thor sah ihn noch immer herausfordernd an. «Bjarne war nicht die ganze Zeit dabei. Irgendjemand musste die Übersicht behalten.»

«Bjarne? Sein Stecher …» Thor schüttelte den Kopf. Eine Geste, die Dylan nicht nachvollziehen konnte.

«Ja, Erik lebt nicht monogam, das wissen wir beide», lenkte er ein. «Aber deswegen musst du unseren Ausflug nicht verurteilen.» Er hob die Hände an. «Was willst du eigentlich? Bist du eifersüchtig oder was ist los?»

«Du hast dich nicht herumzutreiben», antwortete Thor. «Das ist los!»

«Ach, willst du mir jetzt vorschreiben, was ich zu tun habe?», keifte Dylan.

«Du weißt, was passieren kann», erwiderte Thor. Von Dylans Wut ließ er sich nicht mitreißen. Abgesehen davon, hatte er nicht auch recht?

Gezwungenermaßen musste Dylan an die Schlägerei mit den Jugendlichen denken; an den Überfall in Las Vegas, bei dem er beinah vergewaltigt worden war. Ja, er hatte das Händchen dafür, in unangenehme Situationen zu geraten und so etwas in der Art wollte er tatsächlich nicht mehr erleben.

«Sehr aufmerksam von dir, mich daran zu erinnern, dass ich Scheiße gebaut habe!», gab er trotzdem zum Besten.

«Vergisst du anscheinend auch ständig», erwiderte sein Partner.

Dylan seufzte tief und beließ es dabei. Darüber zu streiten erschien ihm nicht sinnvoll, vor allem, da auch für Thor das Thema erledigt schien. Wortlos griff der nach den Hundeleinen und stieg in seine Boots. «Ich geh mit den Hunden», sprach er gedämpft.

Dylan fuhr sich über das erhitzte Gesicht. «Jetzt schon?»

«Der Tag ist angebrochen», erwiderte Thor und erinnerte ihn abermals daran, dass er länger außer Haus gewesen war als erwartet. Inzwischen war der helle Streifen am Horizont orange geworden. Die Luft hatte sich erwärmt. «Abgesehen davon wartet im Café eine Menge Arbeit auf mich.» Thor nahm die Hunde an die Leine und stiefelte die Treppe hinab, wohingegen sich Dylan am Geländer nach oben zog. «Ich komme später nach und helfe dir.» Die Müdigkeit zwang ihn zu einem erneuten Gähnen.

«Wird nicht nötig sein, Perk.»

***

Der Klingelton seines Handys weckte ihn. Wieder hatte er verschlafen und diesmal lag es nicht nur daran, dass er des Nachts keinen Schlaf gefunden hatte.

Innerlich rügte er sich, denn Stunden waren vergangen, die er an der Seite seines Partners hätte verbringen können – anstatt im Bett.

Es war Emma, die anrief. Unverzüglich nahm er das Gespräch entgegen. «Ja?»

«Entschuldige die Störung», meldete sie sich.

«Oh, du störst nicht.» Er schob die Bettdecke zur Seite, richtete sich auf und bemühte sich, nicht verschlafen zu klingen. «Es ist hoffentlich nichts passiert?»

«Nein!», versicherte sie sofort.

«Okay.» Er atmete erleichtert aus und unterdrückte ein Gähnen. «Tut mir leid, es wurde spät gestern … der Nationalfeiertag …»

«Oh, ja!» Sie klang fröhlich. «Hast du dir den Festzug angesehen?»

«Ja, der war großartig», erwiderte er. Träge rutschte er an die Bettkante. «Der ganze Tag war … besonders …» Mit Wehmut dachte er daran, dass das Event vielleicht noch schöner gewesen wäre, hätte Thor ihn begleitet. «Wenn du ihn sprechen möchtest», fuhr er in Gedanken an seinen Partner fort. «… er ist in der Stadt, bei den Renovierungsarbeiten.»

«Es freut mich, zu hören, dass er weiterhin so tüchtig ist, aber nein, ich wollte dich sprechen», antwortete sie. Eine Pause folgte, bevor sie ihr Anliegen erläuterte. «Ich wollte mich entschuldigen. Bei unserem letzten Gespräch habe ich dich oft unterbrochen und nicht aussprechen lassen, dabei hattest du allen Grund, mir von deinen Sorgen zu berichten.»

«Oh!» Ihre Ehrlichkeit erstaunte ihn, trotzdem wehrte er ab. «Das ist nett von dir, aber du hattest recht. Du bist seine Bewährungshelferin und nicht mein Kummerkasten.»

«Du hast eine schwere Zeit hinter dir.»

«Das stimmt, aber das Schlimmste ist überstanden. Ich muss einfach lernen, mich nicht ständig in den Mittelpunkt zu stellen.» Es erschreckte ihn, das von sich zu geben, obwohl er inzwischen wusste, dass er bisweilen übertrieb und seine Gefühlsausbrüche zu intensiv ausfielen.

«Kinder von Alkoholikern haben oftmals Probleme mit der Selbstkontrolle», gab sie zu denken. Er seufzte daraufhin, denn es war niederschmetternd, wie leicht sie ihn durchschaut hatte. Eine Antwort fand er nicht.

«Dylan? Bist du noch dran?»

«Ja, ja, natürlich …» Er fuhr sich über das Gesicht.

«Du bist aber weiterhin in Behandlung, ja?», vergewisserte sie sich. «Es ist eine schwierige Zeit für Thor. Da ist es wichtig, dass du ihm stärkend zur Seite stehst und nicht daran zerbrichst.»

«Ich komme klar», sprach er leise.

«Ist jemand für dich da?», fragte sie nochmals.

«Also, hier in Norwegen habe ich keinen Therapeuten, aber meine Freundin Carol kommt bald zu Besuch … Sie ist Ärztin.» War das die Antwort, die sie hören wollte? Machte er sich mit diesen Tatsachen nicht etwas vor?

«Das ist gut», sagte sie.

«Ja …» Das Gespräch stockte, obwohl er das Gefühl hatte, dass sie weitere Fragen hatte, sich damit aber zurückhielt. Sie war weder seine Psychiaterin noch seine Freundin, der er mehr anvertraut hätte. Aber zu diesem Zeitpunkt schien alles gesagt. Abgesehen davon wollte er den Fokus nicht an sich reißen. Primär ging es um Thor. Um seine Auflagen, um die Abwendung seiner Haftstrafe …

«Wie gesagt, ich wollte mich nur entschuldigen.»

«Vielen Dank.»

«Dann erhol dich schön.» Sie lachte gestelzt. «Wir sehen uns in den nächsten Tagen.»

***

Über seine Lippen schlich sich ein Seufzen, das in seinem Unterbewusstsein zu einem nachdrücklichen Stöhnen heranwuchs. Obgleich ihm klar war, dass das, was er just erlebte, nicht wahr sein konnte, ging er dem Drang gedankenlos nach. Er ächzte, er bebte, er zitterte … Holy shit, das war gut … Das imaginäre Bild vor seinen Augen machte das Geschehen vollkommen … Mit zackigen Bewegungen spannte er die Gesäßmuskeln an, rhythmisch rieb er sein erigiertes Geschlecht auf der Matratze … so hart, so wild … so geil … Das war nicht real, es war nicht echt … doch er gab dem Druck nach, er ließ es laufen … Für einen Bruchteil von Sekunden wurde alles schwarz. Dylan vergaß zu atmen, zu denken, zu fühlen …

«Perk?»

Er registrierte die Hitze in seinem Unterleib, den schwitzigen Rücken, seine unstete Atmung …

«Perk?»

… die plötzliche Nässe zwischen den Beinen.

«Perk, hörst du mich?»

Erschrocken riss er die Augen auf. Verstohlen spähte er zur Seite. Thor sah ihn prüfend an. «Alles in Ordnung mit dir? Du warst unruhig.»

«Ja, ja!» Wie eine Flunder lag er auf dem Bauch und atmete ins Kissen. Nicht real … Es war alles nicht echt … «Ich hatte nur einen Traum.» Langsam drehte er sich auf den Rücken. Es war morgens, die Sonne schien, Thor war angezogen. Sein Starren riss nicht ab. Nichts war zwischen ihnen geschehen … rein gar nichts …

«Was Negatives?» Oh, wie konnte er fragen. Dylan hatte das Gefühl, dass ihm die Erlösung ins Gesicht geschrieben stand.

«Ich … kann mich nicht mehr genau erinnern …», redete er sich raus, dabei schossen ihm augenblicklich die imaginären Bilder ins Gedächtnis. Thor auf ihm, über ihm, in ihm, so begierig wie noch nie.

Kaum merklich führte er die Hand unter der Bettdecke zwischen seine Beine. Seine Vermutung bestätigte sich. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Noch schneller sprang er aus dem Bett. «Sorry …» Kopflos hastete er ins Badezimmer. Das Verlangen in ihm war verschwunden. Er fühlte sich erschöpft und leer, selbstverständlich befriedigt, aber längst nicht glücklich …

Verbissen warf er die Unterhose in den Wäschekorb. Wie unter Zwang folgte die Reinigung von Händen und Glied. Ein merkwürdiges Gefühl wummerte unter seiner Brust. Dylan fühlte sich schuldig, aber auch verletzt und allein.

Da er im Bad keine frische Wäsche vorfand, marschierte er nackt ins Schlafzimmer zurück, nicht ohne sich die Hand vor die Blöße zu halten.

Thor saß noch immer auf dem Bett. «Bist du nicht zu alt für einen feuchten Traum?», meinte er.

Verflucht nochmal, warum wusste er wieder, was tatsächlich geschehen war?

Hörte Dylan einen Vorwurf heraus? Ohne seinen Partner anzusehen, widmete er sich dem Schrank, in dem er mittlerweile mehr als die Hälfte in Beschlag genommen hatte. Mit zittrigen Fingern zog er eine frische Unterhose aus dem Regal. «Kann nichts dafür, dass du die Fußfessel mit Abstinenz gleichsetzt.»

Gedämpft vernahm er Thors tiefes Durchatmen. «Willst du das jetzt ausdiskutieren?», meinte er grimmig. «Wer trägt denn das Scheißteil den ganzen Tag am Fuß? Du oder ich?»

Dylan hielt inne. Plötzlich fühlte er sich nicht nur schäbig, sondern auch traurig. Thor hätte im Gefängnis sitzen können – für Monate. Stattdessen hatte man ihn mit einem Überwachungsinstrument ausgestattet. War das nicht eine Gabe? Mussten sie tatsächlich darüber streiten? Pikiert drehte er sich um. «Reg dich bitte nicht auf.»

«Ich reg mich nicht auf!», donnerte Thor. «Du regst mich auf!» Er erhob sich vom Bett und schritt zur Tür.

«Lass uns das klären», flehte Dylan. «Bitte!»

Thor sah ihn nicht mehr an. «Ich bin mit Erik auf der Baustelle.»

***

Am Nachmittag fuhr Erik mit seinem Wagen vor. Thor stieg wortlos aus – wie jeden Tag. Dylan hatte ihr Kommen am Fenster verfolgt.

«Und? Wie lief es?» Das fragte er auch täglich und Thor erwiderte immer dasselbe, bevor er in der oberen Etage verschwand. «Muss erstmal duschen …»

Erik entlud derweilen ein paar Müllsäcke. Bislang war es unmöglich gewesen, einen separaten Container für den Bauschutt zu erhalten. Es war, als sträubten sich die Firmen, das Unterfangen von Thor Fahlstrøm zu unterstützen.

Dylan lief auf die Einfahrt zu und half beim Entladen der Müllbeutel.

«Seid ihr vorangekommen?», fragte er nebenbei. «Thor erzählt mal wieder nichts.»

Erik wischte sich über die Stirn. Seine dunkle Jeans trug staubige Flecken. Auch das war nichts Neues. Jeden Tag kamen sie von der Baustelle: dreckig und erschöpft.

Dylan versetzte es jedes Mal einen quälenden Stich, denn Thor tolerierte Erik als Helfer an seiner Seite.

«Die Wände sind fertig gestrichen, ja.» Erik hob die Hände an und präsentierte Blasen und blutige Schnitte. «Der alte Teppich ist draußen, aber frag nicht, wie wir das Parkett verlegen wollen. Damit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Und nächste Woche kommt Tony, dann werde ich weniger Zeit haben.»

Dylan reagierte bestürzt, als er Eriks Handflächen sah.

«Meine Güte, das sieht schlimm aus.» Ehe er die lädierten Hände berühren konnte, zog sie Erik zurück und zwängte sie in die engen Hosentaschen.

«Nicht so tragisch.» Er trat auf der Stelle und wich dem Blick aus.

«Ihr habt noch immer keine Handwerker gefunden, die sich der Sache annehmen?»

Erik schüttelte den Kopf. «Ich hab es heute sogar in Stavanger versucht. Die Leute dort scheinen weniger voreingenommen. Aber der lange Anfahrtsweg …» Ein resigniertes Seufzen folgte.

«Es kann doch nicht angehen, dass keine Firma bereit ist, euch zu helfen!», schimpfte Dylan. Sein Gegenüber hob die Schultern an.

«Es ist ja nicht nur die Ablehnung», berichtete er. «Viele Betriebe nehmen vor dem Sommer keine neuen Aufträge an.»

Dylan stutzte. «Wieso das?»

«Fellesferie», erklärte Erik. «Ab Juli sind die meisten Norweger im Urlaub. Die Städte sind wie ausgestorben. Die Anzahl der Arbeiter ist begrenzt, viele Geschäfte geschlossen und die Straßen leer.»

Dylan lachte verstört. «Das ist doch verrückt.»

Erik grinste. «Nein, das ist Norwegen.»

***

Thor blieb an diesem Tag länger im Obergeschoss und keine Geräusche erklangen aus den Räumen, sodass Dylan nach dem Rechten sah. Sein Partner lag samt Straßenkleidung auf dem Bett und war eingeschlafen. Seine Hände waren staubig, seine Wangen eingefallen und sein Haar zu einem Zopf gebunden. Trotzdem hatten sich hartnäckige Strähnen daraus gelöst. Dylan sah Thor stillschweigend an und verspürte nicht zum ersten Mal Mitleid.

Wie fühlte es sich an, abgelehnt zu werden, und das über Jahre hinweg? Wie erging es ihm mit dem Wissen, in die Stadt zu müssen, in der er nicht erwünscht war?

Dylan war das Gefühl von Ablehnung nicht fremd, hatte er ähnliche Erfahrungen in seiner Kinder- und Jugendzeit gemacht. Aber er hatte sich durchgeboxt und mit dem Erreichen des Erwachsenenalters zumindest einen Namen geschaffen, den man, trotz einiger Eskapaden, mit etwas Positivem verband. Man mied ihn nicht mehr. Dylan Perk wurde stets mit offenen Armen empfangen.

Thor hingegen hatte schon immer ein einsames und wunderliches Leben geführt. Es schien, als hatte er sich mit den Jahren mehr und mehr von der Gesellschaft abgekapselt. Er wusste, dass es nach wie vor Anhänger gab; Fans von Wooden Dark, aber die waren ihm in der momentanen Lage nicht von Nutzen.

Die Auflage – etwas Gemeinnütziges auf die Beine zu stellen und in der Bevölkerung Fuß zu fassen – musste er allein bewältigen.

Bei der Errichtung des Cafés mit integrierter Galerie konnte ihm kein Fan helfen. Bei der Mission, den blutbefleckten Namen Thor Fahlstrøm zu einem Begriff zu machen, den die Menschen nicht mehr fürchten mussten, war sein Ansehen in der Black Metal-Szene nicht von Bedeutung.

Letztendlich musste er den Weg allein bestreiten – wie so oft. Thor trug sein Leid still und beherrscht, ohne zu klagen. Nur durch seine Anwesenheit konnte Dylan symbolisieren, dass er Freunde an seiner Seite hatte, die an ihn glaubten; dass jemand da war, der ihn liebte und in jeder Lebenslage unterstützte.

Dylan blickte durch den Raum. Die Bettwäsche war schlicht, die Wände kahl, der Schreibtisch antik und der Computer veraltet. Thor hatte sich nie etwas aus der modernen Welt gemacht und das spiegelte sich in der Einrichtung des Hauses wider. Auf der Ablage stapelten sich ungeöffnete Briefe. Lediglich das Handy war neu, doch das war Thor aufgedrängt worden. Samt Fußfessel musste er es bei sich tragen, damit er kontrollierbar war.

Auch diese Tatsache musste an seinem Gemüt zerren wie ein unbändiger Orkan. Eigentlich konnte Dylan froh sein, dass sein Partner den Frust nicht offen auslebte. Doch war es förderlich, den Ballast in sich hineinzufressen? Zu schweigen, anstatt zu brüllen, so wie Dylan es getan hätte?

Sein Blick heftete sich auf ein vergilbtes Telefonbuch. Ob die enthaltenen Nummern aktuell waren?

Er griff danach, denn zu verlieren hatte er nichts. Im Erdgeschoss setzte er sich auf das Sofa und blätterte darin herum. Es musste doch eine Firma geben, der es egal war, was die Leute tratschten? Irgendwo musste jemand sein, der helfen konnte, oder?

Bei den ersten zwei Firmen, die er anrief, sprang ein Anrufbeantworter an. Es war später Nachmittag und niemand zu erreichen. In Norwegen machten die Menschen zeitig Feierabend, das hatte er inzwischen begriffen. Und vermutlich hatte Erik schon sämtliche Handwerker der Umgebung abgeklappert. Trotzdem ließ ihm der Zustand keine Ruhe. Es war bedrückend genug, dass Thor ihm verbot, bei den Renovierungsarbeiten zu helfen. Ohne Zweifel hatte er zwei linke Hände; auch machte er gern einen Bogen um körperliche Arbeit und Dreck, aber hatte er bei ihrer Reise durch Amerika nicht bewiesen, dass er gewillt war, zu lernen?

Ein Polizeiwagen fuhr vor und Dylan unterbrach das Studieren der Telefonbucheinträge. Arvid kam auf das Haus zu, gemächlich und mit ernstem Blick. In der dunklen Polizeiuniform machte er eine gute Figur und die sommerlichen Temperaturen hatten einen bräunlichen Teint in sein Gesicht gezaubert, in dem der grau melierte 3-Tage-Bart dominierte.

Dylan öffnete und hob eine Hand zum Gruß. «Hei!»

Arvid nickte ihm zu und blieb auf der Schwelle stehen. «Wie läuft es?»

«Ganz gut, denke ich.»

«Es gibt keine Probleme? Thor fährt morgens in die Stadt und abends zurück?», fügte Arvid fragend hinzu.

Dylan bestätigte es. «Das funktioniert. Keine Umwege, wie abgemacht.»

«Gut.» Arvid sah an ihm vorbei. «Er hat einen Antrag gestellt für die Teilnahme von Wooden Dark bei einem Festival. Vermutlich klappt das, wenn er sich strikt an die Abmachungen hält.»

«Das wird er, bestimmt.»

Arvid rieb sich den Bart. «Finanziell sieht es übel aus …» Es klang wie eine Frage anstatt einer Feststellung.

Notgedrungen musste Dylan nicken. «Die Renovierung kostet. Und das Strafgeld war heftig …»

«Das hat er sich selbst zuzuschreiben.»

«Klar, aber …»

«Hat er inzwischen mit der Bewährungshelferin gesprochen?», wollte Arvid wissen.

Dylan schüttelte den Kopf. «Nein, aber ich bin am Vermitteln.»

«Ohne vernünftiges Gutachten sieht seine Zukunft düster aus», erklärte der Bruder von Thor; und das nicht zum ersten Mal.

«Das weiß ich», zischte Dylan. Er wand sich. «Doch du kennst ihn ja. Es ist verdammt schwer, ihn von seiner Meinung abzubringen … Und dann der Ärger mit dem Café!» Er biss sich auf die Unterlippe.

«Habt ihr noch immer keine Handwerker gefunden?», erkundigte sich Arvid.

«Nein – und die Osloer Bevölkerung trägt auch nicht viel dazu bei, dass sich das ändert.»

«Habt ihr es schon bei Lasse Bjørnson versucht? Der vermittelt Leiharbeiter.»

Dylan hob die Schultern an. «Keine Ahnung. Erik hat rumtelefoniert und ich kenne hier niemanden.» Er stutzte. «Obwohl, Bjørnson? Hat der etwas mit Fay Bjørnson zu tun?»

«Möglich, dass sie in der Firma hilft. Soll ich dir die Nummer raussuchen?»

Dylan winkte ab. «Hab ein Telefonbuch hier und zur Not Internet.» Die Sachlage schien geklärt und trotzdem lag eine eigenartige Stimmung in der Luft. «Danke, dass du mal nach dem Rechten guckst», fügte er abschließend hinzu.

Arvid lächelte schief. «Als ob ich das zu meinem Vergnügen mache.»

«Er ist dein Bruder …»

«Ja, und gerade deswegen möchte ich, dass er nicht wieder Scheiße baut!» Arvid wurde laut. «Wir hängen da alle mit drinnen und ich will, dass die Sache ein für alle Mal vorbei ist und Ruhe einkehrt!»

«Denkst du, ich will das nicht?», erwiderte Dylan ebenso aufgebracht.

«Dann sorg dafür, dass er sich am Riemen reißt und endlich zur Vernunft kommt!»

«Du weißt, dass das nicht einfach ist!»

Arvid zog die Notbremse. Vielleicht war er ähnliche Dialoge gewohnt und er ließ sich von der aufgestauten Wut nicht mitreißen. Zudem ging ein Funkspruch ein und hinderte ihn daran, etwas zu erwidern. Er drehte sich weg, bediente das Funkgerät, das zuvor an seiner Diensthose geklemmt hatte und führte ein knappes Gespräch in Norwegisch. «Ein Einsatz», erklärte er. «Wir sehen uns!» Schnellen Schrittes begab er sich zum Polizeiwagen und brauste davon.

«Was war los?», tönte es plötzlich. Thor war lautlos herangetreten und spähte hinaus.

«Ach nichts … Arvid wollte nur gucken, ob alles okay ist», erwiderte Dylan. Sorgsam betrachtete er seinen Partner. Thor sah müde aus, obwohl er mittlerweile geduscht hatte. Sein Gesichtsausdruck glich der einer starren Maske.

«Der soll sich um seinen eigenen Mist kümmern», knurrte er verbissen. Mit groben Bewegungen schenkte er sich Kaffee ein und begab sich ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch setzte.

Dylan folgte. Kommentarlos klappte er das Telefonbuch zu. Es war besser, Thor nicht zu sagen, dass er ungefragt nach Hilfe suchte. Umständlich stopfte er das dicke Verzeichnis unter die Ablage des hölzernen Tischs, der mit Papieren und Gegenständen vollgemüllt war. Eigentlich war Thor ein ordentlicher Mensch, doch wenn es um Briefverkehr und Formalitäten ging, zeigte sich seine Abneigung darin, dass er etwaige Schriften ignorierte. Zudem war er tagsüber mit der Renovierung der Kneipe beschäftigt. Aufräumarbeiten blieben unerledigt. Das starre Gerüst, das im Hause Fahlstrøm geherrscht hatte, geriet mehr und mehr ins Wanken.

«Du könntest mal aufräumen», zeterte Dylan demzufolge. Anstatt das Telefonbuch erfolgreich zwischen den Utensilien verschwinden zu lassen, quoll ihm ein störender Stapel postwendend entgegen. Zettel, Briefe und Zeitschriften rutschten ihm durch die Finger, dazwischen Zigarettenschachteln, Feuerzeuge und Kugelschreiber. «Shit», fluchte er und ließ alles auf den Boden gleiten.

«Das ist ein Haus, kein Museum», entgegnete Thor.

«Kein Grund, um nicht mal auszumisten», erwiderte Dylan. Er beugte sich vor, schob den Haufen zusammen und stutzte. Zwischen seinen Händen ruhte eine Musikzeitschrift. Auf dem Cover sah er ein Bild von sich. «Wow!», staunte er. «Dass du ein Klatschblatt hast mit einem Bericht über uns?» Schnell blätterte er auf die Seiten, die einen Artikel über ihn und seine Band RACE präsentierten. Doch die Fotos und Fakten waren veraltet. Viel war seitdem passiert …

Abrupt hielt er inne. «Das ist nicht die Zeitschrift, die dir damals der Reporter vom ARCH gezeigt hat, oder?»

«Doch, Perk, das ist sie.»

Dylan schluckte bewegt. Er klappte die Seiten wieder zusammen und richtete das Augenmerk auf das Titelbild. Was er sah, kam mit Beklemmung einher. Diese Zeitschrift, die er just in den Händen hielt, hatte den Stein ins Rollen gebracht. Abgelutschte Latexfotze … Das waren die Worte gewesen, die Thor über ihn hatte fallen lassen, als ihm das Coverbild von dem Sänger von RACE einst unter die Augen gehalten worden war.

«Deine Beleidigung damals hat mich echt getroffen», gestand Dylan. Noch immer drehte sich ihm der Magen um, wenn er an die Beschimpfung dachte. Sie war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen; wie die Aufforderung zum Krieg, der mit dem folgenden Black-Festival eingeläutet worden war. Bis jetzt konnte Dylan nicht ausnahmslos glauben, dass alles nur Provokation gewesen war; dass Thor die Worte bewusst gewählt hatte, um ihn aus der Reserve zu locken. Obgleich aus ihnen ein Paar geworden war, hatte er die üble Nachrede niemals vergessen.

«Du musst schlecht von mir gedacht haben, sonst hättest du nicht derartig über mich hergezogen.»

Thor schüttelte den Kopf.

«Nei, Perk. Als ich das Foto sah, hatte ich nur einen Wunsch: Meinen Schwanz so tief in dir zu versenken, dass dir die Tränen kommen.»

Perplex sah Dylan auf und ihre Blicke trafen sich.

«Oh.»

Vorsichtig schob er die Zeitschrift auf den Tisch. Herzklopfen; bis zum Anschlag. Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen.

«Also wolltest du mich einzig kennenlernen, um mich zu ficken?», fragte er mit heiserer Stimme.

«Vermutlich …»

Dylans Blick schwirrte durch den Raum. Bei der nächsten Frage konnte er Thor kaum in die Augen sehen. «Aber du liebst mich nicht nur wegen meines Aussehens, oder?»

«Was meinst du?», hakte Fahlstrøm nach und Dylan bemerkte die innere Unruhe in sich wachsen. Er fürchtete die Antwort und trotzdem fragte er.

«Liebst du meinen Körper und meinen Geist?»

«Mit Haut und Haaren …» Thors Blick nahm ihn gefangen und wanderte geradewegs zum Zentrum seiner Lust.

Dylan hielt einen Moment inne. Was er hörte und erlebte, verunsicherte ihn. Seit dem Ende ihrer Reise waren sie sich nicht mehr nah gewesen. Zurück in Norwegen hatte sich Thor von ihm abgewandt; nicht nur auf verbaler Ebene, sondern auch körperlich. Jeden Tag und jede Nacht hatte Dylan gehofft, dass sich der Zustand ändern würde, aber es schien, als hätte man Thor mit der Fußfessel ebenfalls einen Keuschheitsgürtel angelegt. Das elektronische Überwachungsinstrument stand wie eine Mauer zwischen ihnen, die Dylan rasend machte.

War nun der Moment gekommen, um die Hürde zu überwinden?

Ob sein Handeln richtig war, wusste er nicht, aber in diesem fragwürdigen Augenblick gab es für ihn nur eine Antwort.

Er stand auf.

Mit flatternden Fingern und klopfendem Herzen fasste er sich ans Hemd. Knopf für Knopf öffnete er es. Da Thor ihn nicht daran hinderte, zog er es aus und ließ es hinter sich zu Boden gleiten.

Er löste den Gürtel der Hose, öffnete den Knopf und den Reißverschluss; ebenfalls mit nervösen Fingern. Kein Protest, keine Ermahnung.

Er schob die enge Lackhose samt Shorts über seine schmalen Hüften.

Thor unterbrach ihn nicht und so strich er die Kleidungsstücke vom Körper, bis er vollkommen nackt war.

Wie eine Statue stand er nun da. Makellos und zur Salzsäule erstarrt. Nur sein Atmen ging stoßweise. War es richtig, was er tat?

Thor blickte ihn unverhohlen an und sagte nichts … Doch sein Blick wanderte. Sorgfältig betrachtete er den entblößten Körper seines Partners. Er fixierte dessen Brust, den flachen Bauch und sein Geschlecht.

Die Spannung zwischen ihnen war kaum zu ertragen. Dylan schluckte mehrfach und senkte den Blick. Vor Scham? Vor Ratlosigkeit? Hatte er es nötig, sich derartig zu präsentieren? Sich darzustellen wie ein billiges Lustobjekt? Wie ein Stück Fleisch, das nach Anerkennung haschte?

Beschämt schloss er die Augen. Ihn fröstelte es, aber nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Eine Ablehnung würde er nicht verkraften. Eine Missbilligung seines Verhaltens würde ihn in den Abgrund treiben.

Wenn er nicht in der Lage war, Thors Widerstand zu brechen, hatte er hier nichts mehr verloren.

Vibrierend atmete er ein und aus.

Viel zu lange geschah nichts. Doch dann hörte er die eindeutigen Laute, das verräterische Rascheln von Kleidung, das Klacken des Nietengürtels. Als Dylan die Augen öffnete, sah er Thor auf dem Sessel sitzen: mit nacktem Oberkörper, geöffneter Hose und verruchtem Blick.

«Komm her», raunte er dunkel und Dylan reagierte sofort. Ohne Umschweife gelangte er zwischen Thors Beine und ging vor ihm auf die Knie; voller Demut und geleitet von Lust.

Kein Zurückweisen, kein Tadel.

Thor packte mit einer Hand seinen Hinterkopf und drückte ihn gegen seinen warmen Schoß.

Gefügig ließ Dylan sich lenken. Geradewegs nahm er Thors Männlichkeit in den Mund, so tief und begehrlich, dass es ihm den Atem stahl.

Seine Lippen umschlossen den Schaft mit angemessenem Druck. Seine Zunge leckte über die salzige Haut. Willenlos ließ er die sanften Stöße in seiner Kehle zu.

Oh, wie hatte er sich danach gesehnt, wie lange hatte er davon geträumt.

Thor packte ihn fest bei den Haaren und er stöhnte lustvoll auf. Speichel lief ihm aus dem Mund. Das Meer der Gefühle brachte ihn zum Schwitzen. In seinen Wangen glühte es heiß.

Thor zerrte ihn unsanft auf die Beine. Dylan gab nach und folgte dem Stoß, der ihn auf den Sessel zog. Er schob die Knie auf die Polster, bettete die Schienbeine neben Thors Hüften und nahm auf dessen Unterleib Platz.

Sogleich drängte sich die brettharte Erektion zwischen seinen Spalt. Thor drückte ihn nach unten, presste sich ihm entgegen: fordernd und mit sanfter Gewalt.

Dylan bog sich zurück und ließ sich an den Hüften wieder nach vorne zerren. Der zerreißende Schmerz paarte sich mit bedingungsloser Gier.

Tief und fest spürte er Thor in sich.

Es geschah, was geschehen musste. Unwillkürlich drangen ihm Tränen in die Augen …

«Oh, fuck, ja …» Er ließ sich fallen, rieb sich an der nackten Brust seines Partners und genoss dessen Hände, die ihn streichelten, packten, vor- und zurückrissen. Im gleichen Rhythmus ging er dem Ritt nach. «Oh, yes …»

Thor legte die Finger um seine stramme Männlichkeit. Stöhnend stieß Dylan in die hohle Hand, die ihn umschloss.

Selbstbeherrscht versuchte er, nicht sofort zu kommen. Unmöglich! Mit jeder Bewegung jagte der heiße Schauer durch seinen Körper. Mit jedem Auf und Ab stiegen der Druck und das herrische Ziehen in seinen Lenden. Dylan verlor die Kontrolle und kam: mit geschlossenen Augen und einem erfüllten Schrei auf den Lippen. Kraftlos sackte er auf Thor zusammen. Haut an Haut, dicht an dicht.

Thor stieß weiter, jedoch langsamer.

Dylan verharrte in seiner Position; unfähig, etwas zu sagen, nicht in der Lage, sich zu bewegen. Thor riss ihn ein letztes Mal an sich, ächzte unterdrückt und ergoss sich tief in seinem Inneren.

Nur für einen kurzen Moment harrten sie in der bewegungslosen Starre aus, bis sich Thor lockerte und mit seinen warmen Händen über Dylans heißen Rücken strich – ihn dabei weiterhin hin- und herwiegte.

«Hör nicht auf», wimmerte Dylan. Mit letzter Kraft presste er sich auf den Schoß seines Partners. Mit allen Sinnen wollte er ihn in sich spüren, nicht so schnell verlieren. «Hör bloß nicht auf …»

Er hob den Kopf, blickte in Thors Gesicht und verlor sich in seinen blauen Augen. Unzüchtig sahen sie ihn an.

Wie auf Kommando trafen sich ihre Lippen. Hemmungslos versanken sie in einem tiefen Kuss. Der fordernde Rhythmus ebbte nicht ab.

Plötzlich drangen Geräusche aus dem Nebenraum. Eine Tür klappte, Schritte ertönten. «Seid ihr da?»

Dylan riss den Kopf herum und erblicke Erik, der sofort stoppte, als er das Paar im Wohnzimmer erblickte. «Oh, unnskyld!», äußerte er sich mit erhobenen Händen. Geradewegs machte er auf der Stelle kehrt und verschwand.

Dylan drehte den Kopf zurück. Thors eindringliches Starren nahm ihn wieder gefangen. Hinzu kam die Erleichterung unter der Brust und die Gelöstheit im Unterleib. Zufrieden seufzte er auf.

«Das hat mir gefehlt», säuselte er und vergrub die Hände in Thors Haaren. Verlangend rieb er seine Wange an Thors Bart. «Ich dachte schon, du liebst mich nicht mehr.»

«Was hat Liebe mit Sex zu tun?», erwiderte Thor. Er hörte nicht auf, seine Hände über Dylans Rücken zu schieben und die kleinen Schweißperlen zu verstreichen.

«Für mich sehr viel …» Dylan erschauderte. In nur wenigen Minuten hatte sich alles geändert. Die Furcht war weg, die Unsicherheiten verflogen, seine unbändige Lust befriedigt. Er schluckte trocken und atmete tief durch. Befangenheit machte sich breit und die Tatsache, dass er nicht an sich halten konnte. Die Erkenntnis, dass an Thors Zuneigung sein ganzes Leben hing, unterstrich ihre Leidenschaft mit zarter Sorge.

Als er in Thors Augen sah, die ihn mit unverfälschter Ordnung betrachteten, machte es ihn peinlich berührt. Umsichtig löste er die Verbindung und rutschte von Fahlstrøms Schoß. Die Rückstände ihrer Vereinigung klebten zwischen seinen Oberschenkeln, hafteten an seinem Bauch und seinen Händen.

«Ich sollte mich frisch machen», sagte er verschmitzt. Mit spitzen Fingern strich er sich das schwarze Haar nach hinten. Verlegenheit auf ganzer Linie, obgleich sie sich schon so lange kannten.

«Das machst du nicht, Perk», drang Thors Stimme durch den schwülwarmen Raum.

«Nein?» Pikiert hob Dylan die Kleidungsstücke vom Boden auf und presste sie gegen den nackten Leib. Thor schloss sich die Hose nur notdürftig.

«Ich rauch jetzt eine Zigarette», sagte er in einer Tonlage, die keinen Widerspruch zuließ. «Und du wartest im Schlafzimmer, genau so, wie du jetzt bist.»

Obwohl die Wärme unter dem Dach des Hauses lag, hatte er die Bettdecke bis zum Kinn gezogen. Dylan war, wie gefordert, noch immer nackt, aber der dünne Schweißfilm auf seiner Haut hatte inzwischen ein unangenehmes Frösteln in ihm erzeugt. Er sehnte sich nach einer Dusche, nach Seife und der Reinheit nach dem Akt, der ihm alles abverlangt hatte.

Stattdessen verweilte er auf dem Rücken, unfähig, sich zu bewegen. Die feuchten Rückstände ihrer Vereinigung brachten ein Gefühl mit sich, das er eigentlich ablehnte.

Es war nicht der Ekel vor den Spuren von Sex, sondern die Tatsache, dass er nicht makellos sauber war. Schmutz auf seinem Körper setzte er mit einer Niederlage gleich. Wenn er sich dreckig fühlte, sank sein Ego. Wenn er nicht reinlich war, kamen die Zweifel. Der innere Kampf brach in ihm aus.

Er liebte Thors natürliche Art und Weise und verzehrte sich nach ihren hemmungslosen Kopulationen, aber ebenso sehnte er sich nach der Reinigung danach; nach dem Gefühl, attraktiv und begehrlich zu sein – und zu bleiben.

Indem sein Partner ihm die Säuberung seines Körpers untersagte, keimte die Spannung zwischen ihnen abermals auf.

«So hoch geschlossen plötzlich, Perk?» Thor schmunzelte, als er ins Schlafzimmer trat und Dylan im Bett liegen sah.

«Tss, das machst du doch mit Absicht!», giftete Dylan. Betreten wich er dem Blick seines Partners aus. «Lässt mich nicht mal zum WC gehen. Wenn ich das Laken beschmutzt habe, ist es deine Schuld!»

Thor lachte dunkel. Sein Oberkörper war noch immer nackt. Mit wenigen Handgriffen entledigte er sich seiner Hose. Langsam trat er näher und ebenso gemächlich zog er die Decke vom Bett.

«Dein Reinheitswahn ist beim Sex fehl am Platz», meinte er. Sorgsam betrachtete er Dylans nackten Körper: die schmalen Schultern, den flachen Bauch, das enge Becken und die unbehaarten langen Beine.

Zufrieden begab er sich auf das Laken, legte sich neben Dylan und führte eine Hand zwischen seine zusammengepressten Beine. «Am liebsten würde ich mich so oft in dir ergießen, dass du es nicht mehr halten kannst.» Mit leichtem Druck schob er die Schenkel auseinander.

Dylan erschauderte. Obwohl ihm die verruchte Lage missfiel, schaffte er es nicht, sich zu widersetzen. «Oh, fuck …» Er wand sich, denn Fahlstrøm schob zwei Finger vor und teilte seinen Spalt. «Bitte, nicht …»

«Ach, hör auf, Perk», raunte Thor dicht an seinem Ohr. «Du willst es, das weiß ich.»

Dylan stöhnte verhalten. Die Kälte in ihm verschwand, stattdessen erfasste ihn die Hitze und manifestierte sich dort, wo die vertrauten Finger ihn reizten.

Thor schob sie vor und zurück, so lange, bis er erneut hart wurde.

«Siehst du, so schlimm ist es gar nicht.»

«Aber …»

«Hysj», machte Thor. Mit der freien Hand streichelte er Dylans Stirn. Die Finger der anderen Hand wanderten indes tiefer. Kontinuierlich glitten sie hinein und hinaus. Nach jedem Vorstoß sickerte etwas Sperma nebenher. «Es erspart uns das Gleitgel.»

«Oh damned …» Dylan wimmerte. Ein wenig schockiert sah er zu, was zwischen seinen Beinen geschah. Seine Beine, die er inzwischen weit gespreizt hatte; unwillkürlich und doch verlangend. Die Situation war grotesk. Thor manipulierte ihn, er demütigte ihn und trotzdem wuchs in ihm der Drang, ihn erneut zu besitzen, ihn zu spüren, zu halten, sich ihm voll und ganz zu ergeben.

«Oh, fick mich, bitte …», wisperte er.

«Mhm, da ist er wieder, mein unersättlicher Perk.» Thor behielt das Lächeln bei. Doch in seinem Blick bestand etwas Trügerisches. «Aber so einfach mach ich es dir nicht.»

«Oh, bitte …» Dylan flehte. Begehrlich bäumte er sich auf. Die Lust kam so schnell, wie sie versiegt war. Erwartungsvoll reckte sich seine Männlichkeit nach oben. Thor packte ihn und pumpte mit Nachdruck.

«Ja, das ist gut, das ist gut …» Dylan bog sich ins Laken, seine Hüften bestimmten den Takt. Mit zackigen Bewegungen rammte er seine Männlichkeit zwischen Thors Finger. Abermals verlor er die Beherrschung. Wie eine Puppe ließ er sich packen und auf den Bauch drehen. Mit einem Ruck zog Thor ihn an den Hüften auf die Knie. Dylan keuchte ins Kissen, streckte seine Kehrseite nach oben. Thor drang von hinten in ihn ein, beugte sich weit über ihn und fuhr mit dem Handjob fort.

«Damend, yes!» Dylan entlud sich unkontrolliert über dem Laken. In dem Moment war es ihm egal; ja, in dem Augenblick der Erfüllung konnte es gar nicht anstößiger sein. «Fuck, yes …» Die Arme brachen ihm weg. Kraftlos landete er auf dem Bett und blieb liegen. Thors Stöße wurden schnell und fordernd, fast unerträglich … Wie in Trance registrierte er das erfüllte Brummen, dann kam der Körper auf ihm zum Erliegen.

Thor strich seine Haare beiseite und leckte über seinen Nacken wie ein Raubtier an seiner Beute.

«So könntest du es öfter machen», japste Dylan. Jede Faser in ihm schien erschlafft.

«Keine Routine», antwortete Thor. Schwerfällig rutschte er zur Seite weg. Dylan wusste, was nun kam: die Zigarette danach.

Das Feuerzeug flammte auf und kurz darauf drang ihm das Aroma von Tabak in die Nase. Ein Geruch, der ihm gefiel und der neue Lebensgeister brachte.

Dylan raffte sich auf, drehte sich und landete auf dem Rücken. Thor hielt ihm die Zigarette entgegen, von der er einen tiefen Zug nahm.

«Das tat gut.» Dylan nickte zufrieden. Mit flatternder Hand reichte er die Zigarette zurück. Gleichzeitig registrierte er das unreinliche Gefühl – es war sogar stärker als zuvor. Das glitschig feuchte Resultat ihrer Zweisamkeit schien überall. Kurz riskierte er einen Blick auf seinen schwitzigen Körper. Zum Aroma der Zigarette gesellte sich der Geruch nach Sex. Angewidert kippte sein Kopf in den Nacken. Träge sah er an die hölzerne Decke.

«Darf ich mich jetzt waschen?»

Eine sofortige Antwort blieb aus, sodass er erwartungsvoll den Kopf zur Seite neigte.

Thors Stirn war nachdenklich zusammengezogen. Der Fuß mit der Fußfessel lag frei, als würde das Überwachungsinstrument nicht mehr stören. Fahlstrøm nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette aus. «Ich weiß nicht, Perk», sagte er. Schließlich schüttelte er den Kopf. «Nei. Ich bin noch nicht fertig mit dir.»

***

Dylan trat geordnet vor das Haus. Der Druck in ihm war weg und die belastende Frage, was zwischen ihnen nicht mehr funktionierte.

Das Rad hatte sich in Gang gesetzt, die Motoren liefen wieder heiß. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn heiß war es zwischen ihren Laken schon immer gewesen.

Er steckte sich eine Zigarette an und gelangte die Treppe hinab. Jeder Schritt erinnerte ihn an die letzten Stunden. Weiterhin war ihm wohlig im Unterleib. Das Gefühl sollte nicht so schnell verschwinden. Und die Dusche, die er nach einer weiteren Nummer endlich hatte nehmen dürfen, hatte sein Gemüt zusätzlich gestärkt.

Gegenüberliegend sah er Erik den Eingangsbereich seines Hauses fegen. Ein unübliches Bild, denn normalerweise zog der Bassist von Wooden Dark einen Bogen um Putzarbeiten. Er stellte den Besen auch sofort beiseite, da Dylan auf ihn zusteuerte.

«Hei! Entschuldige, dass ich euch vorhin gestört habe», meinte er zerknirscht. «Ich konnte ja nicht ahnen …»

Dylan winkte ab. «Schon gut.» Hastig nahm er einen letzten Zug der Zigarette und drückte sie mit dem Stiefel auf dem Boden aus. «Es kam auch für mich überraschend.»

«Du hast gesagt, bei euch läuft derzeit nichts», erinnerte Erik ihn an die vergangene Zeit.

Dylan nickte. «Stimmt. Das eben war seit langem eine Annäherung.»

«Annäherung?» Erik lachte. «Das sah mir nach einer heißen Nummer aus.» Er löcherte sein Gegenüber mit geweiteten Augen. «Was hast du getan, um ihn zur Vernunft zu bringen?»

Dylan hob die Schultern an. «Ich habe gar nichts getan. Vielmehr war es diese Zeitschrift, die alles ins Rollen gebracht hat.»

«Zeitschrift?»

«Das Magazin von damals», erklärte Dylan. «Das Heft, auf dem ich abgebildet bin.»

«Jetzt sag nicht, die Zeitung, die der Reporter vom ARCH …»

«Doch, genau die!», unterbrach Dylan ihn breit grinsend. «Kaum zu glauben, dass er sie aufgehoben hat.»

«Oh!» Erik grinste süffisant. «Ich glaube das gern. Thor hat es nicht nötig, aber wenn du mich fragst, war sie damals eine reine Wichsvorlage für ihn.» Er schüttelte den Kopf, dachte offenbar an früher. «Wie sie wochenlang auf dem Tisch lag. Wie er sie angesehen und das Bild von dir förmlich aufgesogen hat.»

Dylan nagte verlegen an seinem Piercingring. «Du hast mir schon mal davon erzählt. Bis vorhin konnte ich es nicht glauben.»

«Das Bild von dir ist rattenscharf», bestätigte Erik in Hinblick auf das Coverbild, das Dylan präsentierte: mit aufwendiger Schminke, perfekt gestylten Haaren, sündigem Blick und einem durchsichtigen Shirt, das die Sicht auf seine Brust freigab. «Offensichtlich erfüllt es noch immer seinen Zweck.»

«Allerdings.» Dylan strich sich mit einer Hand über das Gesäß. «Hab das Gefühl, er wollte alles nachholen, worauf er die letzten Wochen verzichtet hat.»

Erik öffnete den Mund. Er schluckte sichtbar und zögerte die Antwort hinaus. Stellte er sich bildlich vor, was Dylan andeutete? «Er hat es dir also richtig gut besorgt?»

«Kann man sagen …»

«Und nun?»

«Er schläft», erläuterte Dylan. «Die Arbeit im Café fordert ihn.»

«Absolut.» Erik lockerte sich und griff nach dem Besen, um mit der Putzarbeit fortzufahren.

«Und du? So eifrig hab ich dich ja noch nie erlebt.»

«Tony kommt morgen», erklärte Erik. Den Sand vorm Eingang fegte er in den naheliegenden Rasen. «Das wollte ich euch vorhin mitteilen. Er und Susan nehmen die frühe Maschine.»

«Susan kommt mit?» Dylan staunte. «Dass das Mary erlaubt?»

«Das ist es.» Erik unterbrach wieder. «Sie hat sich den Arm gebrochen und ist damit eingeschränkt. Klarer Vorteil für Tony. Er hat die Kleine ein paar Wochen eher aus der Schule genommen; vor den Ferien passiert da eh nicht mehr viel. Nun kann er endlich mal in Ruhe mit ihr Urlaub machen.»

«Das find ich toll.» Dylan lugte ins Haus. Es sah ordentlich aus in der Küche und im Essbereich. Erik gab sich Mühe, seine Schwachstelle vor Tony geheim zu halten. «Wo werden sie wohnen?»

Plötzlich machte Erik ein ernstes Gesicht. «Weiß nicht. Ich dachte bei mir, im Haus …»

«Klar!» Dylan war gleicher Meinung. «Warum gibt es ein Gästezimmer? Susan kann dort schlafen und Tony bei dir. Ich sehe da kein Problem.»

Darkest Blackout

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