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Heynckes zum Dritten
ОглавлениеEine erfolgreiche Saison des FC Bayern wird von vielen fast ausschließlich über Titel definiert. Eine solche Erwartungshaltung hat sich der Klub in der jüngeren Vergangenheit hart erarbeitet. Das führt aber auch dazu, dass eine Spielzeit ohne Titel Konsequenzen haben muss. Im Fall von Louis van Gaal war das Opfer schnell gefunden. Umso wichtiger war es Uli Hoeneß, nach dem Projekt Klinsmann und dem Fußballlehrer van Gaal wieder jemanden zu holen, der den Klub kennt, der erfahren ist und der die Stimmung im Team und im ganzen Verein umdrehen kann. Jemand, der keine großen Zukunftsvisionen mitbringt, sondern im Jetzt lebt und den Klub nicht auf Links drehen möchte. Eben jemand wie Heynckes, der gerade in der Endphase seiner Trainerkarriere dafür bekannt war, mit dem Vorhandenen zu arbeiten und jede seiner Mannschaften an ihr Limit zu führen. Für Hoeneß war das auch eine Art Wiedergutmachung.
Heynckes übernahm die Bayern im Sommer 2011 zum dritten Mal. 1987 hatte er sich in München erst mal mit einem Witz vorgestellt. Bei Borussia Mönchengladbach hätte er sich nach einem Titelgewinn immer eine Zigarette genehmigt. Dazu war es über acht Jahre lang nicht mehr gekommen – deshalb hoffe er, so Heynckes, dass es beim FC Bayern wieder häufiger die Gelegenheit dazu geben würde.
Allerdings hatte sein neuer Klub gerade dreimal in Folge die Meisterschaft gewonnen. Entsprechend hoch waren die Erwartungen, auch wenn das Gesetz der Wahrscheinlichkeit dagegen sprach: Bislang hatte nämlich noch keine Mannschaft einen vierten Meistertitel in Folge nachlegen können. Auch Heynckes gelang dieser Triumph nicht. In seiner Debüt-Saison wurde sein Team Vizemeister hinter Bremen. 1989 und 1990 holte er die Schale dann zurück nach München. Und bei der Meisterfeier 1990 auf dem Marienplatz machte der Trainer den Fans sogar noch ein großes Versprechen: »Nächstes Jahr holen wir den Europapokal!« Allerdings machte ihm der spätere Sieger des Wettbewerbs, Roter Stern Belgrad, im Halbfinale einen Strich durch die Rechnung. So musste Heynckes am 12. Spieltag der Saison 1991/92 seine Sachen packen. Hoeneß sprach später vom größten Fehler seines Lebens.
2009 kehrte Heynckes zurück an die Säbener Straße. Allerdings nur als Retter für wenige Spieltage. Er war die Lösung zwischen Klinsmann und van Gaal, aber er wusste auf Anhieb zu überzeugen. Eigentlich war er bereits im Ruhestand, doch für seinen guten Freund Uli Hoeneß war ihm kein Dienst zu schade. Dabei kam er offenbar noch einmal auf den Geschmack, denn anschließend nahm er noch einen Job bei Bayer Leverkusen an, ehe er im Sommer 2011 seine dritte Chance bei den Bayern erhielt, um sein großes Versprechen endlich einzulösen. Schnell zeigte sich, dass der FC Bayern mit ihm erneut eine goldrichtige Entscheidung getroffen hatte. Anders als van Gaal, der den direkten Weg mit dem Kopf durch die Wand bevorzugte, wusste Heynckes genau, an welchen Stellschrauben er drehen musste, um seine Ziele zu erreichen.
Für viele in der Öffentlichkeit war klar, dass van Gaals Ballbesitzfußball wieder in die Schublade gehörte. Heynckes stand aber nie für eine spezielle Philosophie, sondern er passte sich gern den Umständen an. Das tat er auch in München. Entgegen vieler Erwartungen und Vermutungen nahm der Ballbesitzwert der Bayern unter ihm sogar noch zu. Im Vergleich zu van Gaal passte der damals 66-Jährige aber das zu statisch gewordene Positionsspiel der Mannschaft an. Heynckes baute eine asymmetrische Rollenverteilung ein und organisierte das Pressing neu.
Was bedeutet Asymmetrie im Fußball? Grundformationen wie das 4-4-2 haben im Fußball meist eine klare Anordnung und Raumverteilung: eine horizontale Viererkette, noch eine horizontale Viererkette und zwei Stürmer vorne. Trainer wie Heynckes lieben es, ihre Formation asymmetrisch auszurichten. So kann beispielsweise der linke Flügelstürmer höher positioniert sein als der rechte. Das sorgt dafür, dass Spieler dort auftauchen, wo sie der Gegner nicht erwartet. Außerdem können so Zonen überladen werden, die der Trainer besonders bespielen möchte, während andere eher abgesichert werden.
Schon früh in der Saison waren die Münchner der Konkurrenz aus Dortmund enteilt. Auch in der Champions League lief es in einer Gruppe mit Manchester City, Neapel und Villareal äußerst gut. Das lag auch an Schweinsteiger, der für die Bayern zunehmend wieder der Spieler wurde, der 2010 so entscheidend für das Erreichen des Champions-League-Finals war. Er verteilte die Bälle, bestimmte den Spielrhythmus und steuerte das Pressing der Bayern. Die Rolle eines Leaders nahm er jetzt endgültig an: zwar nicht als klassischer Effenberg, der sein Team stets mit klaren, lauten Ansprachen antrieb, aber als das Herz eines Spiels, dessen Situationen er schon lesen konnte, bevor sie eintrafen. Später hob Heynckes ihn auf eine Stufe mit Sergio Busquets vom FC Barcelona. Ein größeres Lob gibt es nicht. Vielen war das 2011 und 2012 noch gar nicht so bewusst. Doch als sich Schweinsteiger im November 2011 am Schlüsselbein verletzte, wurde seine Rolle für die Mannschaft überdeutlich. Zu Hause gegen Dortmund (0:1) und in Mainz (2:3) verloren die Bayern vor allem deshalb, weil er fehlte. Auch das Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den FC Basel ging ohne Schweinsteiger mit 0:1 verloren. Die Mannschaft von Jupp Heynckes wurde immer anfälliger für Konter und konnte ihr dominantes Spiel nicht mehr so durchdrücken wie zu Beginn der Saison. Schweinsteiger wurde in der Folge auch nicht mehr richtig fit. Im Rückspiel in Dortmund ging es bereits um die Meisterschaft. Der BVB hatte den Rückstand längst aufgeholt und die Bayern sogar drei Punkte hinter sich gelassen. Hätte der Münchner Rekordmeister das Spiel gewonnen, wäre der Druck auf die Borussia im darauffolgenden Derby gegen Schalke unendlich groß gewesen.
Doch sie gewannen nicht. Dortmund offenbarte den Bayern große Schwachstellen. Schweinsteiger konnte nur 29 Minuten spielen, in denen sein Einfluss nicht mehr ausreichte. Es war gewissermaßen der Beginn vieler dramatischer Einzelgeschichten. Während Schweinsteiger seiner Mannschaft aufgrund fehlender Fitness nicht helfen konnte, schrieb auch Arjen Robben weiter an seinem persönlichen Drama. In Dortmund vergab er vom Elfmeterpunkt nicht nur den möglichen Ausgleich und die damit verbundene Chance auf den Titelgewinn. Beim Gegentor sorgte er auch noch zusätzlich dafür, dass keine Abseitsposition vorlag. Obwohl die Bayern an diesem Abend ihre Chancen auf die Meisterschaft als Kollektiv verloren, sollte diese besondere Geschichte noch viele Jahre für Aufsehen sorgen und sich in den folgenden Wochen sogar zuspitzen.
Für Heynckes war dieses Spiel nur der Tiefpunkt eines Umschwungs, den er seit November erlebte. Quasi mit dem Ausfall Schweinsteigers war in München die große Krise ausgebrochen. So schrieb der Focus im März 2012: »Es geht dahin mit dem FC Bayern: Trainer Jupp Heynckes hat nur einen Plan A, und selbst der ist nicht durchdacht.« Im Kern geriet den Bayern Anfang 2012 die nachlässige Transferpolitik zum großen Nachteil. Schon nach dem Finale 2010 hatte man es verpasst, den Kader breiter aufzustellen: Das Standing und die Mittel waren vorhanden. Heynckes musste sich trotz der fehlenden Optionen ankreiden lassen, dass er nicht früher reagierte, sich nicht an die Situation anpassen konnte. Allerdings wurde damals auch viel geschrieben und gesagt, was schlicht nicht der Realität entsprach. Dortmund gewann verdient zwei Meisterschaften in Folge. Sie hatten das konstantere und bessere strategische Grundgerüst. Das musste auch in München anerkannt werden. Bayern war unter Heynckes keinesfalls schlecht, nur nicht konstant genug. Ähnlich wie van Gaal hatte auch der neue Trainer damit zu kämpfen, dass ihm die Optionen fehlten, um Rückschläge adäquat zu verkraften. Dennoch erreichten die Bayern das Pokalfinale und das »Finale dahoam« in München.
Auf diesen einen Moment hatte der gesamte Klub seit Monaten und Jahren hingearbeitet. Als Bastian Schweinsteiger dann im Halbfinale der Champions League in Madrid den entscheidenden Elfmeter im gegnerischen Netz versenkte und damit den Traum vom Heimsieg in der Königsklasse aufleben ließ, brachen in München alle Dämme. Im Jahr 2011 fiel es wie 2009 nach der Entlassung van Gaals ebenso schwer zu glauben, dass das Finale in der heimischen Allianz Arena ein realistisches Szenario sein könnte. Doch mittlerweile sprach vieles für einen historischen Erfolg. Im Achtelfinale (Basel) und Viertelfinale (Marseille) hatte man in der schwierigsten Saisonphase etwas Losglück. Pünktlich zum Duell mit Mourinhos Real Madrid war dann die Form zurück. In zwei packenden Duellen lieferten sich die Mannschaften einen offenen Schlagabtausch, bis es ins Elfmeterschießen ging. Der letzte Schütze war Bastian Schweinsteiger. Sein Gang zum Elfmeterpunkt wurde gefühlt immer länger. Alles lag an ihm. Der Druck, den er in diesem Moment spürte, ist nicht in Worte zu fassen. Das Santiago Bernabéu – ein Stadion, das jeden Gegner in Angst und Schrecken versetzen kann – vibrierte förmlich vor Spannung. Schweinsteiger lief an. Schweinsteiger traf. Das Stadion schwieg. Lediglich ein paar tausend angereiste Fans in Rot feierten.
Ihr Held, Bastian Schweinsteiger, der Fußballgott, verwirklichte den ganz großen Traum. Und auch das zweite Halbfinale machte den Bayern Hoffnung. Barcelona unterlag Chelsea, und so war der Finalgegner nicht Guardiolas übermächtig wirkende Mannschaft, sondern ein Team, das eine ähnlich durchwachsene Saison hinter sich hatte wie die Bayern selbst. Das roch sogar nach einer leichten Favoritenrolle für den FCB. Mit nur einem Spiel hatte Heynckes die Chance, sich unsterblich zu machen und ein Versprechen einzulösen, das seit dem Jahr 1991 offen war.