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Prolog: Die Nacht von Barcelona (2009)

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München, du bist wunderbar«, denke ich. Ich laufe durch die Stadt. Vorbei an den Orten, an denen sich Touristen um die beste Position für Fotos streiten. Im Prinzip bin auch ich hier ein Tourist. Ich lebe in Potsdam und bin in der Nähe von Berlin aufgewachsen. Aber immer, wenn ich an der Isar entlanglaufe, überkommt mich ein diffuses Heimatgefühl.

Es ist ein schöner Tag im November 2018. Die Sonne scheint, keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Mich zieht es zum Olympiapark – für mich einer der schönsten Orte in München. Ich genieße diesen Tag in völliger Einsamkeit. Auf einer Erhöhung habe ich einen Platz gefunden, an dem ich alleine sein und gleichzeitig auf das ehrwürdige Olympiastadion blicken kann. Ich erinnere mich an alte Zeiten mit meinem Lieblingsklub. Der FC Bayern hat mein Leben geprägt. Meine erste Erinnerung ist die Nachspielzeit von Barcelona im Jahr 1999. In einem der emotionalsten Momente hat dieser Klub mich gepackt und nie wieder losgelassen. Doch an diesem Novembertag denke ich nicht ganz so weit zurück. Meine Gedanken werden von einer Ära bestimmt, die nun ein Ende zu nehmen scheint. Diese Ära nahm ihren Anfang ebenfalls in Barcelona – allerdings zehn Jahre nach dem Drama im Champions-League-Finale. Ich blicke zurück auf einen Tag, der den FC Bayern nachhaltig verändern sollte. Ein Tag, mit dem die besondere Geschichte, die dieses Buch erzählt und erklärt, begann.

Damals war ich erst 13 Jahre alt. Große Spiele des FC Bayern konnte ich schon damals nicht verfolgen, ohne vorher irgendein negatives Szenario durchzuspielen. Was ist, wenn sie heute verlieren? Wie soll ich das vor meinen Freunden rechtfertigen? In der Schule musste ich, der große Fan, jeden Patzer der Bayern ausbaden. Ich wollte die Hoffnung nicht vorzeitig aufgeben, aber ich hatte gleich kein gutes Gefühl. Vielleicht war das alles wirklich nur meiner fehlenden Erfahrung und einer zu großen Nervosität geschuldet. Hatte der Trainer Jürgen Klinsmann nicht zuvor noch sehr selbstbewusst über das Los gesprochen, das der FC Bayern im Viertelfinale der UEFA Champions League zog? Der Gegner sei »eine Messlatte, die uns alle interessiert, auf die wir brennen«, sagte der Mann, der drei Jahre zuvor mit der Nationalmannschaft ein ganzes Land zu fesseln wusste. Ich glaubte ihm, auch wenn es keine einfache Saison für meinen Lieblingsverein war. Denn mit ihm saß jemand auf der Bank, den ich sehr schätzte.

Doch die Ausgangslage war schwierig. Vor dem Duell mit dem großen FC Barcelona verloren die Bayern mit 1:5 in Wolfsburg – eine Demütigung. Hinzu kamen Ausfälle von van Buyten, Lúcio und Philipp Lahm. Wer sollte diese Spieler nur ersetzen? Immerhin bestand die Viererkette in Barcelona aus Lell, Breno, Oddo und Martín Demichelis.

Damals war ich noch nicht ganz so verrückt wie heute. Heute schaue ich sehr viel Fußball. In den Top-Ligen Europas gibt es kaum eine (gute) Mannschaft, die ich noch nicht gesehen habe. Damals war ich im FC-Bayern-Tunnel. Solange ich jedes Spiel meiner Mannschaft sehen konnte, war ich glücklich. Aber Pep Guardiolas Barcelona hatte ich damals schon ein paar Mal gesehen. Es war beeindruckend, wie seine Mannschaft Fußball spielte. Fast schon beängstigend. Wie Klinsmanns FC Bayern dieses Team schlagen sollte, war mir ein Rätsel. Ohnehin hatte ich damals nicht mehr den Eindruck, dass die Bayern in Europa noch zu den besten Teams zählen. Die Champions League war für mich seit dem großen Triumph 2001 eher eine ernüchternde Veranstaltung. Tiefpunkt war sicherlich das Gruppenaus 2003, als man gegen den AC Mailand, Deportivo La Coruña und den RC Lens nur zwei Pünktchen holte. Vor allem Ancelottis AC Mailand ging mir in dieser Zeit gehörig auf die Nerven. Einerseits hatte ich großen Respekt vor ihren Leistungen, andererseits konnte der FC Bayern zwischen 2002 und 2007 die Italiener insgesamt sechsmal nicht besiegen. 2006 war im Achtelfinale, 2007 im Viertelfinale Endstation, und der Unterschied zwischen diesen beiden Mannschaften war oft allzu deutlich. Selbst im kleineren UEFA-Cup sollte mich 2008 eine große Ernüchterung erwarten, obwohl es zwischenzeitlich zumindest sehr emotional wurde. Doch gegen Sankt Petersburg schied man peinlich aus. Der Klub, in den ich mich zwischen 1999 und 2001 so sehr verliebt hatte, war auf dem Weg ins europäische Niemandsland. Nein, er war dort bereits angekommen.

Versteht mich nicht falsch, auch die nationalen Wettbewerbe gaben mir sehr viel. Ich liebte den FC Bayern gerade während dieser internationalen Durststrecke besonders intensiv. Aber dass man in der Champions League nicht zu den Top-Teams gehörte, hat mich regelrecht genervt.

Akzeptieren wollte das in München offenbar niemand so ganz. Stattdessen »freute« sich nicht nur Klinsmann 2009 auf die Messlatte Barcelona. Auch Karl-Heinz Rummenigge, Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß waren alle optimistisch, dass der große Turnaround gelingen würde. Schließlich habe man in Europa gezeigt, »dass wir mithalten können«, so Klinsmann damals.

Was folgte, war eine Demontage. Der junge Messi, Eto'o und Henry überrannten den FC Bayern innerhalb von nur 45 Minuten, als wäre es eine Trainingseinheit. Aus der Sicht der Katalanen war es ein fußballerisches Kunstwerk. Guardiola hatte einen Spielstil entwickelt, der den Klub in neue Sphären hob. So offenbarten sich am 8. April 2009 zwei Gegensätze, die deutlicher nicht sein könnten:

Auf der einen Seite der FC Barcelona – der Champions-League-Sieger von 2006, der sich nach diesem vermeintlichen Höhepunkt noch weiter steigern konnte, indem er ein klares Konzept verfolgte und es innerhalb weniger Jahre aus dem Schatten der europäischen Spitzenteams heraus auf den Thron geschafft hatte. Die ganze Welt blickte damals auf Guardiolas Mannschaft, die den Titel dann am Ende der Saison erneut gewinnen sollte.

Auf der anderen Seite der FC Bayern, der in nur 45 Minuten vier Tore kassieren musste und dort angelangt war, wo Barcelona hergekommen war: im Schatten. Es gab kein Konzept, keine klare Strategie. Die bittere Niederlage war die Quittung für eine Kette von Fehlentscheidungen, die in München seit 2001 getroffen wurden. Jürgen Klinsmann hätte diese Talfahrt eigentlich beenden sollen. Er stand für Innovationen und neue Wege. Doch seine Veränderungen wirkten nicht. Seine Mannschaft wurde in jener Nacht geradezu vorgeführt. Dass sie am Ende »nur« mit 0:4 verlor, und das Rückspiel 1:1 ausging, lag ausschließlich daran, dass Barcelona lediglich 45 Minuten lang den Bizeps anspannen musste, um das Halbfinale zu erreichen. Trotz aller Ausfälle und der fehlenden Qualität des Kaders war das Auftreten der Mannschaft kaum zu entschuldigen.

Ein Stück weit war ich fassungslos. Aber völlig überrascht war ich nicht. Schließlich war diese Niederlage das Ergebnis jahrelanger Versäumnisse. Die ganz großen Zusammenhänge erkannte ich damals natürlich noch nicht. Erst viel später wurde mir klar, was eigentlich alles passiert war und warum es passierte. Mit meinen 13 Jahren saß ich damals nur vor dem Fernseher und fühlte mich innerlich leer. Den letzten Funken an Hoffnung, den ich zuvor noch hatte – in nur 45 Minuten wurde er brutalst erstickt. Es war keine Mannschaft zu erkennen, keine Idee, nicht mal der Wille. Jeder war auf sich gestellt. So waren die Tore für Barça nur noch eine Formsache.

Für mich war es das erste Mal, dass ich mitansehen musste, wie eine Mannschaft den FC Bayern derart deklassiert. Selbst die hohe Niederlage gegen den VfL Wolfsburg kurz zuvor konnte man damit nicht vergleichen. Auch die Reaktionen im Klub waren deutlich. Klinsmanns Aus war quasi schon entschieden, auch wenn die Reißleine erst einige Zeit später gezogen wurde.

Noch am Abend des Spiels formulierte es Karl-Heinz Rummenigge auf dem traditionellen Bankett sehr drastisch:

»Wir haben ohne Zweifel heute gemeinsam eine sehr bittere Stunde erlebt in Barcelona. Ich möchte da gar nicht um den heißen Brei herumreden, das war ohne Frage eine große Blamage, was wir hier heute Abend erlebt haben, (…) und wir haben eine Lektion bekommen. Eine Lektion, die weh getan hat. (…) Wir haben eine große Verpflichtung, wir sind ein stolzer Club, dieser Stolz ist heute Abend zum Teil – speziell in der ersten Halbzeit – mit Füßen getreten worden.«

Aber es war auch eine Lektion, aus der der FC Bayern seine Lehren gezogen hat. Speziell Barcelona hat dem Verein offenbart, was eine übergeordnete Strategie im modernen Fußball wert sein kann.

Strategie vs. Taktik: Strategie und Taktik sind militärische Begriffe, die heute in vielen verschiedenen Bereichen Anwendung finden. Während Strategie sich auf den großen Plan bezieht, meint Taktik sämtliche kleinen Schritte, die zur Ausführung dieses Plans und zum Erreichen der Ziele notwendig sind. Am Beispiel Barcelona: Die Katalanen hatten das Ziel, dominanten und offensiven Fußball zu spielen. Das war die Strategie. Taktische Mittel dafür waren das Positionsspiel, hohes Angriffspressing, schnelles Kurzpassspiel oder auch das Überladen einiger Spielfeldzonen – um in einem Bereich des Spielfelds eine Überzahl zu schaffen.

Die Strategie des FC Bayern war damals vor allem auf die Transferpolitik begrenzt. Ziel war es, deutsche Stars zu verpflichten und sie um die besten Spieler der Bundesliga sowie der eigenen Jugend zu ergänzen. Der Klub war der »FC Deutschland«. Eine wirkliche Idee davon, wie man Fußball spielen wollte, gab es nicht. Jeder Trainer brachte einen anderen Stil mit, jede Verpflichtung eines Spielers führte zu Veränderungen auf dem Platz. »Irgendwie wird man schon erfolgreich sein, wenn die besten Kicker der Bundesliga zusammen auf dem Platz stehen«, dachte man offenbar. »Früher hat das schließlich auch geklappt.« Aber nach dem Jahr 2001 klappte es eben nicht mehr. Die Stars wurden älter, die Talente rar, und so kam es, dass die Bayern national zwar weiterhin erfolgreich waren, international jedoch nicht mehr mithalten konnten. Der Fußball hatte sich nämlich weiterentwickelt. Im Ausland fokussierten sich Trainer zunehmend auf taktische Überlegungen, an die in Deutschland noch kaum jemand dachte. Deutschland, das Land der Tugenden, in dem Felix Magath Medizinbälle den Hügel hinaufschleppen ließ.

Spätestens im Jahr 2009 wurde dem FC Bayern klar, dass es nicht mehr genügen würde, immer nur im eigenen Dunstkreis zu bleiben. Bei der Trainersuche ging der Blick schon mal über den Tellerrand hinaus. Auch in der Spitze des Vereins sollte sich etwas verändern. Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge schmiedeten offenbar langfristige Pläne. Mit Christian Nerlinger kam ein alter Bekannter zurück an die Säbener Straße, um Hoeneß zu unterstützen, ihn eines Tages vielleicht sogar zu beerben. Die Führungsetage erkannte, dass sich der Klub neu aufstellen musste.

Als Trainer sollte ein Querdenker verpflichtet werden. Bereits von Klinsmann hatte man sich erhofft, dass er die nötigen Veränderungen vorantreiben würde. Der Verein hatte ihm eine große Entscheidungsfreiheit gegeben. Es ist kein Geheimnis, dass auch Spieler wie Philipp Lahm schon zur damaligen Zeit – weit vor dem legendären Interview mit der Süddeutschen Zeitung – eine fehlende Philosophie kritisierten. Umso höher muss man dem Klub anrechnen, dass er auch nach dem Scheitern mit Klinsmann weiter auf komplett neue Impulse setzte.

Kandidaten für den Trainerposten gab es genügend. Letztlich hatte man sich zwischen zwei ganz besonderen Typen zu entscheiden: Matthias Sammer und Louis van Gaal. Sammer war als Trainer noch nicht lange aktiv, aber schon sehr erfolgreich. Mit Borussia Dortmund gewann er spektakulär die Meisterschaft, beim VfB Stuttgart holte er im Schnitt sogar noch mehr Punkte als mit dem BVB. 2006 übernahm Sammer dann den Posten des Sportdirektors beim DFB, später arbeitete er dort im Jugendbereich. Er war bekannt als Querdenker – ein Typ mit Ecken und Kanten. Bayern und Sammer sollten aber erst später zusammenfinden. Neuer Trainer wurde zunächst Louis van Gaal.

Für den FC Bayern bedeutete diese Entscheidung eine Zäsur. Sie läutete eine Ära ein, die den im europäischen Niemandsland gestrandeten Klub innerhalb weniger Jahre wieder an Spitze des Kontinents führen sollte. Denn so wie sich der Weg in die europäische Bedeutungslosigkeit schon lange vor der Nacht in Barcelona abgezeichnet hatte, so fiel auch das Triple im Jahr 2013 nicht vom Himmel.

Der FC Bayern wurde nicht zufällig Champions-League-Sieger 2013: Es war das Produkt einer Entwicklung. Die Bayern gingen einen langen Weg. Das Ziel war längst klar definiert: die Champions League zu gewinnen. Doch seit 2009 gab es nun auch eine Wegbeschreibung – einen Plan, der dem Klub helfen sollte, an die alten Tage anzuknüpfen.

Aus heutiger Perspektive darf infrage gestellt werden, wie langfristig dieser Plan wirklich durchdacht war. Doch selbst wenn auf dem Weg auch Zufälle eine große Rolle spielten, so wurden doch auch viele richtige und weitsichtige Entscheidungen getroffen.

Dieses Buch soll diese Geschichte nicht nur erzählen. Es soll auch analysieren und erklären, was der Klub zwischen den Jahren 2009 und 2016 richtig gemacht hat. Dabei beginnen wir in der Nacht von Barcelona: weil da der Grundstein für das gelegt wurde, wovon der FC Bayern München bis heute profitiert. Würde man diese Geschichte dagegen vom Triple ausgehend erzählen, blieben viele Aspekte unberücksichtigt. Denn bis es so weit war, hatte erst noch eine ganze Generation einen beachtlichen Weg zurückzulegen.

Zwei Spieler sind es vor allem, die diese goldene Ära des FC Bayern München so maßgeblich prägten, dass ich mich dazu entschieden habe, ihr den Namen »Generation Lahmsteiger« zu geben. Beide stiegen seit 2009 nach und nach zu Führungsspielern auf, und auch wenn Bastian Schweinsteiger im Jahr 2015 den Klub verließ und Philipp Lahm seine Karriere im Jahr 2017 beendete, so wird diese goldene Ära doch immer mit ihren Namen verbunden bleiben. Denn die Generation Lahmsteiger hat Großes hinterlassen. Heute können die Bayern darauf zurückblicken und Schlüsse für die Zukunft ziehen, um etwas Neues zu beginnen. So wie sie es damals im Jahr 2009 getan haben: In dem Jahr, in dem die tiefe Enttäuschung über eine der schlimmsten Niederlagen in der Champions League den Ausschlag für ein Umdenken gab. Ein Umdenken, das zunächst einmal zu Louis van Gaal führte: jenem Trainer, der die große Revolution einleiten sollte …

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