Читать книгу Ruf der Pflanzen - Jutta Blume - Страница 5
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Ich werde mich von John verabschieden gehen, dachte Ife schon zum zwanzigsten Mal an diesem Vormittag. Und wie die neunzehn Male davor, verwarf sie den Gedanken sogleich. Wissen war Schuld, eine Bürde, die Ife niemandem zumuten wollte. Erst recht nicht John, der nur versuchte, aus dem Schlimmsten das Beste zu machen. Der von ihr nie mehr verlangt hatte, als alles zu vergessen, wenn er sie in seine Arme schloss. Der neben ihrer Haut den Rauch des Tabaks liebte. Für diese beiden Dinge konnte er leben, hatte er ihr einmal gesagt. John existierte außerhalb von Vergangenheit und Zukunft. Er trug die Qualen des Tages mit Gleichmut, einzig die Erwartung des Tabakrauchens am Abend ließ ihn den Tag durchstehen.
Sie hätte ihn bitten können, mit ihr zu fliehen. Aber sie wusste, dass es falsch wäre. Er war es nicht, den sie für einen gemeinsamen Weg wählen würde. Er war einer unter vielen, jung und kräftig, mit einer tiefen und weichen Stimme, wenn er zu ihr sprach. Er hatte ein glattes Gesicht, das manchmal lächelte, wobei seine Augen stets ernst blieben. Er hatte noch alle Zähne, bis auf den linken oberen Eckzahn, den er sich versehentlich mit dem Griff der Sense ausgeschlagen hatte. John sprach den Dialekt ihrer Eltern, was ihm den Geschmack eines heimischen Herdfeuers verlieh. John war warm und samtig, nur manchmal war der Samt seiner Haut von gar zu vielen Furchen durchzogen.
Manchmal sehnte sie sich nach seiner Berührung wie ein einsames Tier, und so hatte Ife manches Mal die Vorsicht vergessen. John dachte sowieso nicht darüber nach, wie er überhaupt nie an die Zukunft dachte. Seit sie wusste, dass es geschehen war, hatte Ife alleine versucht, sich die Zukunft dieses Kindes vorzustellen. Seine ersten Worte wären in Johns und ihrem Dialekt erklungen, was für ihre Eltern eine große Freude gewesen wäre. Dann hätte es weitere Worte gelernt, den üblichen Kauderwelsch, und bald hätten sich die Befehle in seine Sprache gemischt. »An die Arbeit!« und »Schneller!« hätte es zu sagen gelernt. Sobald es laufen konnte, hätte es gelernt, nützliche Dinge zu tun. Je älter es geworden wäre, desto weniger hätte sie von ihm gesehen. Das Kind wäre nicht ihres geblieben. Brauchte man die tatkräftigen Hände des Heranwachsenden und wäre er von guter Gestalt, so behielt man ihn auf der Plantage. Dafür musste ein Kind die ersten Jahre überstehen. Genauso wie die frischen Sklaven, weigerten sich viele Kinder einfach, an diesem Ort unter den Lebenden zu bleiben.
All dies war nicht die Geschichte von John und Ife, vielleicht würde es einmal die Geschichte Johns und einer anderen sein. Sie hätte ihm gerne gesagt, dass er ihre Flucht nicht persönlich nehmen sollte. Johns Gesicht mischte sich in ihrer Vorstellung mit den Gesichtern anderer: zerfurchter Gesichter, selten lachender Gesichter, leerer Gesichter, leidender Gesichter; es war keines dabei, das Bestand hatte. Das einzige, das ihr klar erschien, war das runzlige Gesicht Cobas, ihrer großartigen Lehrerin.
Ife dachte an die Schlangen und die Schlingpflanzen im Wald, und es ließ sie schaudern. Sie hatte vor einiger Zeit ein altes verrostetes Hackmesser unter ihrer Matte versteckt. Es schien ihr kaum geeignet, um sich gegen wilde Tiere zu verteidigen. Am meisten Angst hatte sie vor den Pekaris, weniger vor den Jaguaren, von denen sie noch nie einen zu Gesicht bekommen hatte. Die Weißen hatten am meisten Angst vor den Indianern, obwohl sie offiziell ihre Verbündeten waren. Ife wusste nicht, ob sie Angst vor den Indianern hatte, aber sie hatte Angst, in den Wald zu gehen.
Man erzählte sich in Sugar Creek die Geschichte des Paters, der auf der Durchreise auf der Plantage Quartier bezogen hatte, das ihm der Mister nur sehr widerwillig gewährt hatte, denn der Mister hasste die katholischen Missionare, die mit ihrem Eifer selbst bei den Plantagensklaven nicht Halt machten. Wenn es nach ihm ginge, hätten die Holländer die Pater aus dem Hinterland jagen sollen, zumal sie alle dem Lager der Feinde, der Spanier, angehörten. Aber es gehörte sich nicht, einen weißen Reisenden abzuweisen, nicht hier in der Wildnis. Jener Pater war am Abend, bevor er sich schlafen legte, von einem Giftpfeil mitten in die Brust getroffen worden. Wer den Pfeil geschossen hatte, ließ sich nie herausfinden, die einen sagten, es wären die Indianer gewesen, die die Soutanenträger mehr hassten als alle anderen Fremden, weil sie ihnen nach den Seelen trachteten. Andere behaupteten, es wären die entflohenen Sklaven aus dem Wald gewesen, die einen Überfall auf die Plantage geplant hatten, und die der Pater dabei gestört hatte. Ein paar fehlende Schweine untermauerten diese Theorie. Niemand machte sich die Mühe, den Tod des Paters aufzuklären, auch nicht der verängstigte junge Geistliche, der die Leiche drei Tage später mit zwei schwarzen Helfern abholte, um sie in der geweihten Erde bei der Mission zu bestatten.
Am Abend hakte sich Ife auf dem Weg von der Arbeit bei Azuka unter, um sich vor weiteren neugierigen Fragen von Johanna zu schützen. Azuka sang leise, mehr für sich selbst, aber sie konnte dennoch hören, dass es das Lied von der Mutter war, deren Kinder wie leichte Samen in alle Himmelsrichtungen verstreut worden waren. Neben ihnen trottete Elise stumm und müde vor sich hin, wie Ife schaute sie nur auf den Boden vor ihren Füßen. Doch Ifes Müdigkeit war nichts gegen den Aufruhr in ihrem Inneren.
Vor Ifes Baracke brannte Feuer, dessen Schein hin und wieder das Gesicht eines Vorübergehenden erhellte. Es qualmte stark und roch leicht nach Sirup. Die Köchin hatte den Topf bereits vom Feuer genommen und schöpfte daraus mit geübtem Augenmaß in die Schalen der Sklaven. Es war ein wässriger Eintopf, in dem Maniok- und Bananenstücke schwammen. Gierig verbrannte Ife sich an den ersten Bissen, trotzdem war ihr der heiße Maniok eine Wohltat auf der Zunge. In der Hocke löffelte Ife ihre Schale leer, ohne ein einziges Mal aufzusehen. Erst danach betrachtete sie die Gesichter der am Feuer Sitzenden. Sie suchte John. Er saß auf der anderen Seite des Feuers, sein Gesicht wurde nur manchmal erhellt. Mit zwei anderen Männern rauchte er, und sie waren ganz und gar darin versunken. Fast war er um diese Versunkenheit zu beneiden, um diesen einen Moment des Tages, der nur ihm gehörte. Ife war sich nun ganz sicher, dass ihm gegenüber kein einziges Wort, auch nicht die leiseste Andeutung ihre Lippen verlassen würde. Sie warf Azuka und Elise ein »Gute Nacht« zu, dann zog sie sich zurück in die Baracke, wobei sie ein paar Mal innehielt, um zu lauschen, ob ihr niemand folgte.
Sie rollte sich auf ihrer Matte zusammen und tastete mit einer Hand in den Spalt zwischen dem Stroh und der Bambuswand. Dort bewahrte sie das schwarze Wasser auf, nur eine kleine Pfütze, gesammelt in einer Nussschale. Sie tauchte ihren Zeigefinger hinein und rieb die Flüssigkeit über ihr Gesicht und ihre Arme. Ihre Haut kribbelte, als der dünne Film trocknete, ein Kribbeln, das in sie hineinzog und sie in noch stärkere Aufregung versetzte. Dann griff sie nach dem Amulett, das Coba ihr gefertigt hatte. Auch dieses lag nicht erst seit gestern bereit. Sie umschloss es fest in ihrer Hand, fühlte die getrockneten Bohnen, die in die 15 Kräuter hineingewoben waren, kleine, feste Knubbel, die für die Kraft eines jeden ihrer Winti standen. Von den Bohnen sollten sich die Winti auf ihrem beschwerlichen Weg ernähren und sich im Notfall, wenn ihnen unterwegs jemand nach dem Leben trachtete, darin einkapseln können. Die 15 Kräuter würden bewirken, dass kein Tier sie riechen konnte und dass menschlichen Wesen die Sicht vernebelt wurde, sodass sie unbemerkt an ihnen vorbeihuschen konnte und dass keine Machete und keine Gewehrkugel sie treffen konnten. Sie drückte das Amulett so fest, dass es ihr in Fleisch und Blut überging, die kleinen, schwarzen Bohnen nun Knoten in ihrer Hand waren, die schon bald auf Wanderschaft durch ihren Körper gehen würden. Sie öffnete die Hand und betrachtete ihre leere Handfläche.
Sie schnürte kein Bündel, da sie keinen Besitz hatte. Das verrostete Hackmesser versteckte sie unter ihren Kleidern. Sie besaß ein Paar Füße, ein Paar Augen und Ohren, ein Paar Nasenlöcher und alles, was sie in ihrem Kopf aufbewahren konnte. Sie ging.