Читать книгу In diesem und im anderen Leben - Jutta Simon - Страница 6

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Kapitel 2

Natürlich hing ich zu Hause noch eine Weile meinen Erinnerungen nach, wunderte mich darüber, dass ich mir über ein Leben in einer solchen Kultur Gedanken machte, wie es mir denn da so erginge, wenn, aber irgendwann beruhigte ich mich auch wieder.

Das sollte so lange gut gehen, bis wir nur ein Jahr später die nächste gemeinsame Tour planten und buchten. Das Schicksal wollte es wohl so, dass sowohl Reisepreis als auch Temperaturen zu dieser Jahreszeit uns eine Woche Marokko bescherten.

Aber auch dieses Mal dachte ich zu Anfang noch, nein nicht schon wieder. Ich hatte neben den verwirrenden Gefühlen auch noch die Männerwelt der Tunesier im Gedächtnis.

Wollte ich schon wieder in ‚so‘ ein Land? Ich wollte mich frei bewegen, völlig relaxt shoppen, Besichtigungen machen, ein Gläschen Wein trinken, im kurzem Sommerkleidchen die Sonne genießen. Einfach so, völlig ohne Beobachtung, mir hier und da mal eine Zigarette drehen und die dann noch in Ruhe rauchen. Und vor allem wollte ich keine merkwürdigen Gefühlswallungen mehr! Aber nun war gebucht. Eine Woche Agadir.

Zumindest war der Flug nicht mehr das große Problem. Denn eines hatte ich schnell begriffen, man kommt nur mit dem Flieger in entferntere Ziele, wenn man ein knappes Zeitbudget hat.

Der Abflug in Düsseldorf, alles Bestens, Flug gut! Über Marokko drückte ich mir die Nase am Kabinenfenster platt. Von oben wirkte die landwirtschaftlichen Parzellen wie Streuselkuchen auf mich. Ich entdeckte die ersten Lehmhaussiedlungen, kleine Dörfer, aber auch viel trockenes, ödes Land.

Dann die Landung in Marokko, Flughafen ‚AL Massira‘. Ich komme an die Fliegertür stehe da oben an der Treppe, nehme das erste Mal live und in Farbe - naja letzteres eher weniger - Marokko wahr. Sonne, staubige Luft, ein wenig imposantes Gebäude, karge Umgebung, wirklich unspektakulär! Wahrscheinlich gab es niemanden, der dieses Gemisch aus Staub, Kerosin und Busabgasen für einen Duft hielt. Da gab es wohl nur mich! Ich atmete tief ein, wollte den Moment ein bisschen länger genießen, wurde dann aber von meinen Mitreisenden gedrängt, endlich weiterzugehen.

Was war das denn nun schon wieder? Vielleicht hatte mir einfach die Höhen - oder Kabinenluft zugesetzt und ich wäre schon ganz bald wieder normal! Dann ging alles schnell. Im Flughafen doch schon ein kleines bisschen vertrautes Erscheinungsbild. Zu meiner hellen Freude, auch viele Frauen, teils als Angestellte. Das war doch schon mal was.

Koffer alle da, Passkontrolle, Gepäckkontrolle, Stand unserer Reisegesellschaft gefunden, in den passenden Bus verfrachtet und ab!

Hätte ich gewusst, dass diese Menschen, die mich dort am Flughafen empfingen und betreuten, noch mal eine große Rolle in meinem Leben spielen sollten, hätte ich sie mir viel intensiver angeschaut.

Die Fahrt vom Flughafen bis in die City dauerte etwa eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde, um erste Impressionen aus dem Bus zu erhaschen.

Dieses Mal konnte ich mich schon eher auf das, was um mich herum zu sehen war, einlassen. Die vielen, schrottreifen Autos, bei denen sich deutsche TÜV-Angestellte die Haare raufen würden, dazwischen knatternde Mopeds, Eselskarren, alles scheinbar fast ohne Verkehrsregeln. Viele Menschen waren geschäftig unterwegs, aber auch viele, die rumstanden oder rumhockten. Erst fuhren wir noch durch die staubigen, schlecht gebauten Straßen, durch Dörfer und Städte mit Lehmbauten. An dem ein oder anderen hingen Reklameschilder einer gängigen Getränkemarke oder diverser Elektroartikel, die irgendwie fremd an diesen Häusern wirkten. Ich erblickte einige Eingänge mit wunderschönen, bunt gemusterten Mosaikfliesen, filigrane, verschnörkelte Gitter an Fenstern und türkisfarbene Fensterläden. Neugierig schaute ich den Frauen hinterher in ihren, teils reich verzierten Gewändern, den Djellabas. Kleine Läden, nicht mehr wie eine Theke breit, vollgestopft mit Waren. Cafés, bestückt mit oft schon kaputten Plastikmöbeln, ausschließlich besucht von Männern. Palmen am Straßenrand, viele mit braunen Blättern durch Hitze und Staub. So sah es unterwegs aus.

Doch je näher wir unserem Urlaubsziel Agadir kamen, umso besser war alles ausgebaut, wurde es sauberer. Schließlich ist es der Badeort Marokkos.

Die Straßen wurden mehrspurig. Wir kamen an einer Universität vorbei, wo ich zu meiner großen Freude entdeckte, dass dort wohl auch Frauen studierten.

Als wir Agadir erreichten, bot sich uns das Bild einer recht modernen und großen Stadt. Denn leider wurde Agadir 1960 von einem Erdbeben zerstört und danach wieder aufgebaut und die Einwohnerzahl stieg enorm an.

So war vieles ‚westlich‘ und doch gab es einiges, welches exotisch oder auch befremdlich wirkte. Die alten Autos, Busse und Mofas, die bei uns nicht einmal mehr auf dem Schrottplatz zu finden waren, fuhren dort noch lautstark, stinkend und sich eines, sich mir nicht erschließen wollenden, Prinzips fröhlich umher. Die irrsinnig vielen rotorangen „Petit-Taxis“ schwirrten wie Käfer durch die Stadt. Die Frauen und Männer in ihren landesüblichen Gewändern wollten oft nicht so recht in dieses Stadtbild passen. Ebenso wenig wie die Eselskarren und die kleinen Läden, die unbekannte Dinge im Angebot hatten. Die vielen Markisen, die über den Läden angebracht waren, machten den Eindruck jeden Moment abzufallen, oder aber es hingen eh nur noch Stofffetzen an ihnen herum. Aber es gab auch die Ecken, wo man noch ein wenig marokkanischen Stil an den Häusern erkannte durch die wunderschönen Fliesen und Gitter. Und mir gefiel besonders gut, dass sich viel Leben auf der Straße abspielte.

Endlich angekommen an unserem Hotel empfanden wir es nicht mehr als ‚Rauswurf‘, wie damals in Tunesien. Entspannt bezogen wir unser Zimmer und fanden uns ein in dieser einfachen und trotzdem netten Unterkunft. Innerhalb des Hotelgeländes konnten wir uns entspannt bewegen, doch als wir später unsere Umgebung inspizieren wollten, beschlich uns schon wieder dieses komische, etwas ängstliche Gefühl. So wagten wir uns am ersten Abend nur bis auf das kleine weiße Mäuerchen vor dem Hotel. Dort setzten wir uns wie die Hühnchen auf die Stange und beobachteten aus der Sicherheitszone das Treiben um uns herum. Warum nahm ich diese fremde Kultur so Verhalten an? Es war doch nicht so, dass ich diese Menschen für Verbrecher hielt. Es war eine so merkwürdige Mischung aus dem Fremden, der Faszination und ja, da war noch irgendetwas …

So erging es uns, dass wir ähnlich wie in Tunesien schon bald trittsicherer wurden und jede Menge Spaß hatten. Bei einem Händler ließ ich mich als Berberin verkleiden und er ließ sich stolz mit mir fotografieren. Ich fühlte mich wohl in dieser ‚Verkleidung‘.

Schon am dritten Tag unseres Aufenthaltes trieb es Katja und mich in das große Abenteuer! Ja, ich weiß, nun werden uns viele belächeln. Aber todesmutig mieteten wir uns ein Auto, um nach Taroudant zu fahren. Wir brauchen immer eine Auftauphase. Aber nur mit den organisierten Touren die Umgebung kennenzulernen, war uns dann doch zu langweilig.

Am nächsten Morgen stand ein kleiner, weißer Flitzer vor dem Hotel und Katja fragte, ob ich zuerst fahren wolle. Ich? Ich hatte keinen Führerschein dabei, dachte ich zuhause doch nicht im Traum daran, mir gerade in Marokko ein Auto zu leihen. Katja wich die Farbe aus dem Gesicht.

„Nun muss ich wohl fahren?“

Kurze Antwort meinerseits: „Ja.“ Ich fand, die oft chaotische Fahrweise der Marokkaner käme ihr entgegen, sie beherrsche diesen Fahrstil ebenso gut. Sie meinte, ich spräche nicht gerade die Sprache der Freundschaft. Ich hingegen hatte das als Kompliment gemeint. Ach, wie schön, wenn Freundinnen sich so gut verstehen!

Nun ging es also los! Gott, waren wir aufgeregt! Gleichzeitig mussten wir so lachen, denn einen richtigen Plan hatten wir nicht. Heißt, weder einen Straßenplan von Taroudant noch besaßen wir so fortschrittliche Dinge wie Handys oder Navigationssysteme. Es war herrlich, wie angepasst Katja fuhr. Und wie ‚mutig‘ sie den netten Verkehrspolizisten in einem Kreisel einfach so stehen ließ. Sollte er doch meinen und winken was das Zeug hergibt, Katja hatte plötzlich Panik, das Benzin ginge aus und ignorierte meine lässige Zuversicht, es würde schon noch eine Weile reichen. Sie entdeckte eine Tankstelle und fuhr einfach Querbeet irgendwie auf die andere Seite einer mehrspurigen Fahrbahn und der Polizist pfiff nur noch lahm auf seinem Pfeifchen hinterher. Keine Chance gegen Katja.

Die Dörfer, die wir passierten, ließen sich auf ein ungeplantes Spiel mit meiner Freundin ein. Das Spiel ging so: mal lasse ich dich am Leben und fahre um dich herum, mal lässt du uns Leben und fährst um uns herum. Ein gewagtes Ausweichmanöverspiel mit hohem Spaßfaktor!

Wir lachten Tränen!

Taroudant, dass ‚kleine Marrakesch‘ ist wirklich schön. Vor allem, wenn man - in diesem Fall zwei Freundinnen - glaubt, sich merken zu können, wo man geparkt hat. So tigerten wir los, erkundeten die Stadt mit dem Souk, den Gassen, in denen wir uns, professionell wie Weltenbummler, am Sonnenstand orientierten. Blöde nur, wenn die Häuser auf einmal so hoch, die Gassen so schmal und sich auch so ähnlich sind, dass man die Sonne gar nicht mehr sah. So verliefen wir uns richtig. Aber es fand sich ein netter Marokkaner der uns half, aber erst einmal in den Laden eines Cousins eines Cousins, wie eben dort so üblich, brachte.

Aber egal, wir schauten uns brav die Töpferwaren an, die wirklich schön waren. Bunt bemalte Schüsseln, Aschenbecher, Vasen, Tajines, die typisch marokkanischen schüsselartigen Teile mit einem trichterartigen Deckel, in denen das gleichnamige Gericht gekocht wird und vieles mehr. Am Ende hatten wir einen leckeren Tee und sogar ein kleines Gastgeschenk, einen Eierbecher. Mir der freundlichen Hilfe entdeckten wir dann auch unser Auto, fuhren glücklich zurück und fanden uns unglaublich mutig.

Auf keinen Fall wollten wir uns aber Marrakesch entgehen lassen. Ich kann mich noch so an die Worte meiner Oma erinnern, die immer Ägypten auf ihrer Reiseagenda hatte und auf jeden Fall nach Marrakesch auf den berühmten ‚Platz der Geköpften‘ den ‚Djemaa el-Fna‘ wollte und sich traditionell die Hände mit Henna bemalen lassen wollte. Damals habe ich nicht nachgedacht, warum meine liebe Oma es gerade mit diesen Ländern hatte. Klar, sie war wissbegierig und auch sehr sprachbegabt und wäre sicher gerne in die große weite Welt herausgekommen, was ihr leider verwehrt blieb, aber warum gerade dorthin?

Hatten wir etwas gemein? Und wieder hatte ich so ein komisches Gefühl …

Für den Ausflug in die große Stadt hatten wir allein nicht den Mut und so buchten wir die Tour bei unserem Reiseveranstalter.

Schon früh morgens sollte es losgehen. Wir wurden vor unserem Hotel mit dem Bus abgeholt und erst als alle Gäste vollständig waren, stieg der Reiseleiter zu.

Da stand er nun. Ein markantes Gesicht, ein lässiges Lächeln. Als er das Mikrofon in die Hand nahm und sich mit „Azim“ vorstellte, war mir, als ob ich die Stimme kannte! Fortan musste ich mich echt konzentrieren, um die Gegend unterwegs und die interessanten Details und Geschichten mitzubekommen. Denn ständig hallte nur die Stimme in meinem Kopf. Ich bekam anfangs kaum etwas mit von den vielfältigen Informationen, die Azim in blendendem deutsch, nebst perfekter Nachahmung deutscher Dialekte und Sprachwendungen uns Touristen in sehr unterhaltsamer Weise angedeihen ließ.

Katja stupste mich mit dem Ellenbogen an: „Hey, wohin bist du denn abgedriftet? Hast du gerade die Laster mit den Unmengen von Orangen gesehen?“

„Äh, nee! Was ist … ach so die Orangen … jaja!“

„Was ist los mit dir?“ Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte und meinte lapidar, es sei nichts.

Nun versuchte ich den Weg nach Marrakesch in mir aufzunehmen. Wir passierten kleine Dörfer mit rötlichen Lehmbauten, Weinanbaugebiete mit interessanten Holzkonstruktionen, an denen der Wein in bauchhöhe entlang rankte. Warum machte man das nicht überall so, war doch viel einfacher zu ernten! Da konnte ich ein Wörtchen mitreden als Mädchen einer Weinbauregion. Wir sahen Arganbäume, auf denen Ziegen herumkletterten, Olivenbäume, dazwischen immer wieder karge Landschaften. Doch immer wieder war es Azims Stimme, die mich gefangen hielt. Herrgott, was war den los mit mir?

Endlich erreichten wir Marrakesch, die ‚Rote Stadt‘, die ‚Perle des Südens‘. Der Bus schob sich durch das Gewusel dieser quirligen Stadt. Azim trieb seine Schäfchen zusammen und wir folgten unserem ‚Hirten‘ bekleidet mit einer wunderschönen schwarz, rot, silbernen Djellaba und er brachte uns die Stadt lebendig und lustig nahe. Wir folgten ihm durch das Labyrinth der Gassen, blieben hier und da stehen, bekamen Einblicke in die verschiedenen Arten des Kunsthandwerks, wurden in einer marokkanischen Apotheke in der Hoffnung, dass wir etwas kauften, eingeführt in die landesübliche Heilkunde. Auch besuchten wir einen Palast, wir sahen eine Koranschule, bis es dann Zeit für ein Mittagessen war.

Die traditionellen Speisen, die uns serviert wurden, schmeckten mir außerordentlich gut! Sie kamen mir gar nicht so fremd vor. Vor allem den Geruch und Geschmack des Kreuzkümmels mochte ich.

Und ich mochte die Stadt, das Getümmel, das Geschrei, die Farben, die Kulisse der Stadt mit den Bergen des Hohen Atlas.

Erst recht, als wir auf den großen Platz, den ‚Djemaa el Fna‘ kamen. Herrlich war es hier. Da waren Wasserverkäufer in bunten Gewändern, Schlangenbeschwörer, Akrobaten, Geschichtenerzähler, unzählige Stände, wo man frisch gepressten Saft bekam. Und es war dieses Gemisch an Menschen, sodass man nicht das Gefühl hatte, an einen Touristenort verschleppt worden zu sein. Nein diese Lokalität zog die Einheimischen genauso an. Wir schlenderten über den Platz und entdeckten ein paar Frauen, die Hennabemalungen anboten. Ich erinnerte mich an meine Oma. Nun konnte ich es an ihrer statt machen lassen. Ich handelte einen Preis aus, und eine freundliche Frau zeigte mir ihre Motive. Ich war entzückt von den vielen Mustern und Ornamenten und entschied mich für eines, welches sie mir auf den Handrücken pinselte. Mich ergriff eine fast feierliche Stimmung und in Gedanken sprach ich zu meiner Oma: „Siehst du, nun mache ich es für dich und irgendwann in einem anderen Leben kommst du hier hin und lässt dich auch verschönern.“ In einem anderen Leben … Gab es so etwas vielleicht wirklich? Denn warum nur wollte meine Oma eine Hennabemalung in Marrakesch? Ich würde es wohl in diesem Leben nicht erfahren.

Langsam neigte sich die Zeit in dieser Stadt dem Ende zu. Wir sahen noch, wie sich der Platz gegen Abend verwandelte. Unmengen dieser Stände, genannt Garküchen wurden auf den Platz gefahren. Plötzlich war der Platz erfüllt mit Gerüchen und einer anderen Stimmung. Die Gaslaternen an den Ständen wurden angezündet und tauchten den Platz in ein märchenhaftes Licht. Wir mussten zurück zum Bus und ich schaute auf den Platz zurück. Ich wollte bleiben, ich hatte das Gefühl fortgerissen zu werden! Daher achtete ich auch nicht auf den Verkehr beim Überqueren der Straße und knutschte fast ein marokkanisches Auto.

Azim stand schon am Bus und beobachtete die Szene. „Na, das hätte mir noch gefehlt, eine meiner Gäste vor meinen Augen überfahren.“ Ich stammelte etwas vor mich hin, als er auch schon mein Tattoo entdeckte und grinste. „Ah, eine Marokkanerin.“ Und wieder, wie schon damals in Tunesien gefiel mir diese - obwohl flapsige - Bemerkung gut, vor allem klang es aus seinem Mund so viel schöner.

Alle Schäfchen wieder da, alle Schäfchen eingestiegen und schon ging die Fahrt im Dunkeln zurück nach Agadir. Ich hing so meinen Gedanken nach, während Katja meinte, sie sei müde und die Augen schloss. So fuhren wir dahin, bis mich Azims Stimme aus meinen Gedanken riss. „Liebe Gäste, gleich wird es in einem kleinen Berg Café eine Pause geben.“ Ich weckte Katja, doch sie wollte weiterschlafen und so stieg ich allein aus und schaute mich um. Als erstes suchte ich die Toiletten. Na, besonders nett war es hier nicht. Alles ein wenig schmuddelig, die Toilettenanlagen schlecht beleuchtet. Nun es nutzte nichts, konnte mich ja schlecht neben dem Bus erleichtern. Danach versuchte ich ein wenig von der Umgebung zu erhaschen, aber ich entdeckte nichts Weltbewegendes. Hohe, karge Hügel, etwas weiter entfernt ein dunkles Dörfchen. Ich entfernte mich etwas von den Mitreisenden und stellte mich ein Stück neben das Café und schaute in diesen irre klaren Sternenhimmel, wo mehr Sterne leuchteten, als ich je zuvor gesehen hatte.

Was war plötzlich mit mir los? Als würde ein Magnet mich ziehen, wollte ich weggehen, hinein in die Nacht, hinein in die unbekannte Gegend. Ich fühlte mich auf einmal so zu Hause und es schoss mir in den Kopf: „Hier ist deine Heimat“. Ich war nie auf der Suche nach einer Heimat, ich hatte auch nie ein Heimatgefühl und ich vermisste es auch nicht. Es gab Orte, da lebte ich gerne und fühlte mich wohl, aber Heimat … Heimat … Heimat …

Ich zog meine Schuhe aus, ich musste den Boden spüren als mich ein heller Gedankensog erfasste …

Eine andere Zeit … ich am Rande der Wüste … entfernt Zelte … ich habe ein langes, flatterndes Gewand an, ich bin barfuß und will gehen … plötzlich nimmt mich jemand an der Hand und will mit mir gehen … es ist … Azim …

Auch er ist barfuß, auch er trägt ein anderes Gewand … wir gehen los …

Plötzlich war ich wieder am Café und war völlig erschrocken. Azim fasste mich tatsächlich sanft an der Hand - ich wollte mit ihm gehen in diese Nacht, egal wohin - nur gehen - mit ihm … ich vertraute ihm …

Ich wurde mir dieser komischen Situation bewusst, war durcheinander, schaute ihn an. Er räusperte sich und sah ebenfalls erschrocken aus.

„Was ist los?“, fragte ich ihn und er, verwirrt von der Situation sagte nur: „Es ist nichts, ich hatte gerade nur so einen merkwürdigen Gedanken … Aber eigentlich bin ich gekommen, um dich zum Bus zurückzuholen. Die anderen warten schon. Und entschuldige, dass ich deine Hand genommen habe, ich weiß gar nicht warum, es passierte einfach - nochmals Entschuldigung.“

„Das ist überhaupt nicht schlimm“, erwiderte ich und ging nur sehr ungern mit ihm zum Bus zurück. Es war, als ob ich Angst hatte dieses Gefühls, welches ich soeben hatte, beraubt zu werden. Einzig der Gedanke, Azim fährt mit, beruhigte mich ein wenig. Es war, als ob ich ihn schon ewig kannte.

Katja, die davon wach wurde, weil die anwesenden Menschen im Bus ihre Hälse reckten und lautstark der Frage nachgingen, wo denn bitte der Reiseleiter bliebe und dass es immer das Gleiche sei, ein Gast fehle immer, empfing mich mit äußerst fragendem Blick. Sie hatte mitbekommen, dass sich der ganze Bus dafür interessierte, warum zum Teufel der Reiseleiter diese Frau - mich - an der Hand hielt und warum wir wohl einen Moment anscheinend so geistesabwesend waren. Um die Stimmung gegen uns gleich im Keim zu ersticken, entschuldigte sich Azim bei allen und erklärte, mir sei ein wenig schlecht gewesen. Das verstanden alle und waren beruhigt. Es konnte weitergehen.

„Ist dir wirklich schlecht?“ fragte Katja nach.

„Nein, nein mir war … mir ist … oh Gott, wie soll ich es dir erklären? Ich bin noch ganz verwirrt!“ Ich fing einen Blick von Azim auf, der mich derart intensiv anschaute, dass ich zwar dadurch noch unruhiger wurde, gleichzeitig am liebsten hingegangen wäre, um mich einfach in seine Arme zu legen.

Katja wartete indes immer noch auf eine Erklärung.

„Katja, mir ist eben etwas sehr, sehr Seltsames passiert, sodass man meinen könnte, ich hätte zu viel getrunken. Aber ich bin nun mal stocknüchtern. Mich hat so ein, wie soll ich es nennen, weil ich ja gar nicht weiß, ob es so etwas gibt, also eine Art Zeitstrahl erfasst. Es war wie ein heller Sog und ich sah mich in einem anderen Leben früher in Marokko. Und da war auch Azim, der meine Hand hielt und mit mir ging. Und als ich wieder in der Realität bin, hält er tatsächlich meine Hand und entschuldigt sich, er wäre auch so in Gedanken gewesen und wüsste gar nicht, warum er das getan hat. Katja, was zum Teufel ist los?“

„Hm, das ist ja irre interessant. Das ich mal so was mitkriege und dann noch bei dir! Wahnsinn!“

„Ja, mit Wahnsinn hast du allerdings wohl ziemlich recht. Mir macht das Angst!“

„Ich habe schon davon gelesen, dass es so was geben soll! Hammer, ausgerechnet du! Du weißt, ich bin überzeugt, dass es mehrere Leben gibt. Versuch mit ihm darüber zu sprechen!“

„Never darling! Über was denn? Soll ich etwa sagen: „Hallo warst du eben mit mir in einem anderen Leben“? Erst mal ist das so vollkommener Unsinn und er lässt mich gleich abholen und einliefern, oder er hält es für eine plumpe Anmache. Dazu noch einem Moslem etwas von Reinkarnation zu erzählen, von der ich, wie du weißt, nun auch so gar nicht überzeugt bin. Alles totaler Nonsens! War alles nur ein komischer Gedanke und ein Zufall, mehr nicht - basta!“ Katja schmollte ein wenig, weil sie mich nicht von ihren esoterischen Ansichten überzeugen konnte, dachte aber für sich weiter darüber nach und war völlig fasziniert davon, dass sie das mit mir erleben konnte, wie sie es mir später erzählte. Auch ich dachte nach und dann sagte ich mir, ich müsse das einfach vergessen, war eben nur so ein Gefühl, nix dahinter, einfach wegen der Stimmung mit Marrakesch und so und weil Azim ein echt netter und hübscher war und einfach eine verhexte Stimme hatte. Meine Güte, einfach nur Urlaubsgefühle!

Irgendwann war die Fahrt zu Ende. Das hieß auch, mich von Azim zu verabschieden. Katja raunte mir zu, ich solle irgendwas zu ihm sagen, aber was? Nein, das war mir zu blöde und doch machte es mich unendlich traurig. Beim Verlassen des Busses bedankte ich mich bei ihm für einen schönen Tag, wir gaben uns die Hände und er sah mir tief in die Augen. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte ihm ins Ohr geflüstert: „Adieu, mein Liebster“, aber das verkniff ich mir und ging. Ein paar Meter weiter drehte ich mich noch einmal um, ich hörte ihn noch einmal meinen Namen sagen, unsicher, einfach so: „Nele.“ Dann war er auch schon mit dem Bus weg.

„Hast du gehört, er hat nochmal deinen Namen genannt!“

„Ja, habe ich. Ist doch egal!“

„Egal ist hier gar nichts, das spüre ich!“

„Katja, ich lass es einfach so stehen, wir genießen hier den letzten Tag und gut ist. Vielleicht hat es mich doch ein wenig mit ihm erwischt, da wäre ich ja nicht die erste Urlauberin, der so was passiert. Und dieses Klischee will ich nun wahrlich nicht bedienen, bringt eh nichts außer Herzschmerz!“

„Da gebe ich dir ausnahmsweise recht.“ Ach, meine tolle, tolle Freundin!

Den letzten Tag verbrachten wir locker mit Sonnenbaden, noch ein bisschen spazieren und Souvenirs kaufen. Ich hatte das dringende Gefühl, ich müsse mir mehr Marokko mit nach Hause nehmen. So kaufte ich jede Menge schönen Kitsch, füllte mir ein Tütchen mit Sand vom Strand, sammelte Blüten und Blätter. Ich hatte Angst, dieses Land zu verlieren …

Katja lächelte still vor sich hin, sie ahnte damals schon, dass dies nicht das Ende war.

Als am nächsten Tag der Bus vorfuhr, um uns zum Flughafen zu bringen, ertappte ich mich dabei, nach Azim Ausschau zu halten. Aber zu meiner Enttäuschung tauchte er nicht auf. Selbst am Flughafen konnte ich es nicht lassen, auf ihn zu hoffen. Ich versuchte die Zeit hinauszuzögern, bis wir uns in die Gate begaben. Ein letzter Blick zurück - nein, er war nicht da. Etwas später als der Flieger abhob, hatte ich einen kurzen, sehr heftigen Schmerz in meiner Brust. Wenn es so etwas gab, dann wurde mir hier gerade etwas herausgerissen, was ich nicht mitnehmen sollte nach Deutschland.

Ich erzählte Katja davon und sie glaubte an eine höhere Bestimmung.

„Ich denke, ich bin einfach nur ein bisschen beknackt, schon bald hat mich der Alltag wieder und alles geht seinen normalen Weg. Ich war dumm und habe mich von der Stimmung und dem Typen verzaubern lassen - passiert halt. Aber du kennst mich, ich bin eine vernünftige Frau, die realistisch ist.“

„Ja, ich kenne dich gut, sehr gut sogar und genau darum denke ich, es ist mehr dahinter, denn genau so etwas passt nicht zu dir.“ Ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen und versuchte wieder locker zu plaudern. Ich schwor mir, alles nur unter dem Aspekt schöner Urlaub zu verbuchen!

In diesem und im anderen Leben

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