Читать книгу In diesem und im anderen Leben - Jutta Simon - Страница 8

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Kapitel 4

Im Landeanflug wurde mir wieder schlecht. Was wenn er nicht da wäre? Wenn alles schieflaufen würde? Wenn ich auf mich allein gestellt wäre? Wenn Azim einer von der Sorte Betrüger war? Die Worte dieser Frau schossen mir in den Kopf und mein Herz hämmerte, ich fing an zu schwitzen. Jetzt ist es zu spät zum Aufregen, sprach ich mir zu. Nun bist du hier!

Als ich aus der Fliegertür trat atmete ich tief den vertrauten Duft ein, schloss für einen Moment die Augen. Marokko, hier bin ich! Nachdem ich die Treppe hinabgestiegen war, hockte ich mich kurz hin und streichelte den Boden. Ein Ritual, das ich bis heute beibehalte!

Nervös ließ ich die Passkontrolle über mich ergehen. Hoffentlich merkte niemand, dass ich einfach ein Hotel als Aufenthaltsort angegeben hatte. Privatbesuche ohne Meldung waren nicht erlaubt. Alles ging gut. Ungeduldig wartete ich auf meinen Koffer und als er endlich kam, ging ich mit klopfendem Herzen raus. War Azim da? Noch während ich mich umschaute, stand meine entzückende Gate-Bekanntschaft neben mir. Ich fühlte mich auf einmal ertappt. Als könne sie nun sehen, dass meine Story erlogen war. Aber sie flötete nur: „Ist dieser hübsche Mann im weißen Hemd, der so zaghaft winkt, ihr Cousin?“ Mir fiel ein Stein vom Herzen! ER war da! Ich versuchte mich gemäßigt zu Verhalten, aber eigentlich wäre ich am liebsten über die Trennwand zur Halle gehüpft! Ich bejahte ihre Frage, wünschte ihr einen schönen Aufenthalt, ließ sie stehen und marschierte zielstrebig in Richtung Ausgang. Eine letzte Kontrolle und ich war draußen. Azim gab mir die Hand und lächelte mich an. „Nele, endlich bist du da! Herzlich willkommen!“

„Azim, schön dich zu sehen.“

„Lass uns schnell wegfahren von hier, bevor wir kontrolliert werden und Schwierigkeiten bekommen.“ Nein, darauf hatte ich wahrlich keine Lust!

An seinem Auto hielt er mir formvollendet die Türe auf und überreichte mir eine rote Rose.

„Azim, wie schön! Und sie riecht herrlich! Shukran!“

„Hey, du hast arabisch gelernt.“ Er lächelte ein wenig verschmitzt. In diesem Moment kam der Gedankennebel wieder. Nur eine kurze Szene …

Azim und ich umarmt, um uns herum nur Wüste … ein leichter Wind weht …

Und weg war er wieder dieser Sog. Auch Azim schien in Gedanken zu sein.

„Ist etwas?“, fragte ich ihn.

„Nein, alles ok. Es war nur … nichts.“ Ich fragte nicht weiter und mich beschlich ein Verdacht. Wir fuhren los. Er sagte nichts, manövrierte uns durch das Gewusel der Autos. Ich betrachtete ihn von der Seite. Sein markantes Profil, seine schöne Nase, seine vollen Lippen - mein Wüstenkönig! Ich fühlte mich zu Hause, alle Angst war weg. Etwas unbeholfen versuchten wir im Gespräch zu bleiben und unterhielten uns über den Flug. Zwei Fremde und doch vertraut. Die Straßen und Orte flogen nur so an mir vorbei. Ich wollte endlich sehen, wo ich wohnte.

Wir fuhren durch Agadir. Mein Gott, nun war ich schon wieder hier. Ich erkannte einiges wieder, doch nun erreichten wir in ein Wohngebiet, das ich nicht kannte. Dort standen viele, recht große Häuser. Hier wohnten wohl nicht die Ärmsten. Alle Häuser waren von hohen Mauern umgeben. Wunderschöne Bougainvilleen blühten und rankten überall in schönstem pink und orange. Ein starker Kontrast zu den teils unasphaltierten Straßen und den staubigen freien Flächen zwischen den Häusern. Der strahlend blaue Himmel und die Blumen waren die einzigen Farbtupfer. Azim hielt vor einem Haus an, welches wie die anderen, zweistöckig war. Er öffnete ein großes Tor und fuhr hinein.

„Voila Madame, dein Königreich für die nächsten Tage.“ Ich war auf einmal wahnsinnig aufgeregt. Ich nahm kaum Notiz vom Hof und dem kleinen Garten. Ich folgte Azim, der das Tor verschlossen hatte und mir nun die Tür öffnete.

Ich dachte, jetzt spinne ich! Im Flur stand das Sofa, von dem ich geträumt hatte! Genau das!

An welcher rätselhaften Krankheit litt ich?

Azim stellte mein Gepäck ab und kam zu mir. Er sah mir in die Augen und ich sagte nur „Ja“ und er wusste, was ich meinte …

Er nahm meinen Kopf in seine Hände, zog mich an seine Lippen und wir küssten uns wie Ertrinkende. Ich fühlte mich wie zwei Persönlichkeiten. Ich war aufgeregt, wie ein Teenager und doch wusste ich genau, wie er sich anfühlt. Wir hatten keine Zeit, viel zu lange hat das Schicksal uns warten lassen! Wir streiften uns die Kleider vom Leib, endlich berührten sich unsere Körper, die, bevor wir uns vereinigten, schon eins waren. Ich fühlte, wie unsere Haut verschmolz, ich atmete seinen vertrauten Duft, ich schmeckte ihn - überall so wie auch er meinen ganzen Körper in Beschlag nahm. Er drückte mich auf das Sofa und drang in mich ein und ich wusste was nun geschah. Es waren nicht nur unsere Körper, die sich da liebten. Es waren auch unsere Seelen, die wild und unersättlich endlich zueinander fanden. Ich glaubte es nicht mehr aushalten zu können und dennoch wollte ich mehr, tiefer, fester, wilder, als gäbe es nur dieses eine Mal und ich fühlte, ihm erging es genauso.

Wir hatten uns heftig bis zur Erschöpfung geliebt und lagen nun verschämt auf dem Sofa. Keiner sagte ein Wort. Nun waren wir wieder Azim und Nele, zwei Menschen, die sich kaum kannten.

Eine gefühlte Ewigkeit später sagte Azim: „Nele … mir sollte es … ich sollte mich entschuldigen! Ich weiß gar nicht, was da in mich gefahren ist! Glaub mir bitte, das hatte ich nicht vor!“ Er schaute mich verzweifelt an.

„Pssst, auch ich sollte mich schämen, aber … Azim? Ich tue es nicht! Ich, ich … es ging nicht anders … du musst mich für eine unanständige Frau halten! Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“

„Nele, schäm dich nicht! Das ist das Letzte, wofür ich dich halte! Wenn es mir nur darum ginge, brauchte ich das ganze Tamtam mit Haus und Urlaub nehmen nicht zu veranstalten und müsste solche Schwierigkeiten nicht auf mich nehmen. Ein bisschen Spaß kann ich auch anders bekommen! Nele, ich konnte auch nicht anders … Auch ich weiß nicht, was mit mir los ist!“

Er stand auf, nahm mich bei der Hand und führte mich in ein Zimmer. Es war das Schlafzimmer, welches er liebevoll für mich hergerichtet hatte. Auf einem Tisch stand noch ein großer Strauß mit roten Rosen. Er hatte Kerzen aufgestellt. Eine schöne Schale mit Duftwasser und einigen Blüten stand auf einer Kommode. Das Bett schön und frisch hergerichtet und auf dem Kissen ein kleines Schokoladenherz. Verlegen meinte er: „Ich hoffe, es gefällt dir?“

„Azim, es ist wunderschön. Das hat noch kein Mann für mich gemacht! Ich danke dir!“ Ich ging zu ihm und küsste ihn. Wir fingen an, uns langsam zu streicheln und erforschten nun aufmerksam unsere Körper, so als wollten wir uns vergewissern, dass das eben kein Traum war. Bewundernd betrachteten wir uns, wir rochen und schmeckten uns nun ganz genüsslich. Wir ließen uns viel, viel Zeit. Eine wunderschöne Entdeckungsreise begann und als wir uns erneut, diesmal sehr zärtlich liebten wurde mir immer bewusster, dass ich genau dies schon alles geträumt hatte. Dies alles hatte eine Bedeutung und ich hoffte irgendwann eine Erklärung zu bekommen. Denn außer meiner Freundin, der ich mich sicher anvertrauen konnte, gab es niemanden, bei dem ich mich trauen würde, diese Vorkommnisse zu erzählen. Wir liebten uns lange und plötzlich war ich wieder gefangen in dem Sog …

Ich spürte uns beide, während wir uns in unserem Zelt liebten. Es war Nacht, es war ruhig. Ab und an kam ein kühler Windhauch durch den Stoff unseres Zelteingangs … Ich nahm die Teppiche wahr, die Kissen, das Tablett, auf dem noch der Tee in einer kleinen silbernen Kanne stand. Eine Kerze brannte in einer kleinen verschnörkelten Laterne …

Der Sog brach ab und ich kam zum Höhepunkt der mehr war als nur Befriedigung. Selig lag ich neben Azim. Er hatte seinen Kopf auf seine Hand gestützt und schaute mich intensiv an.

„Meine Malak, meine Wüstenkönigin“, und grinste süß. WAS hatte er da gerade gesagt? Malak (Engel), mein Name aus meinen Gedankennebeln! Wüstenkönigin? Ich lächelte und sagte: „Mein Wüstenkönig.“ Und Azim sagte nur: „Ja.“ Mir wurde die Sache immer suspekter! Vielleicht war ich schon auf der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie, vollgepumpt mit Medikamenten und lebte gerade wieder meine zwiegespaltene Persönlichkeit aus! Gleich würde wieder der Therapeut kommen und mich zum Gespräch bitten …

Ich musste aufstehen und etwas Normales tun.

„Azim, ich glaube es ist an der Zeit, mir das Haus zu zeigen.“ Mit seiner samtweichen, tiefen Stimme antwortete er: „Wie Madame befehlen.“ Lachte und zog sich auch etwas über. Meine Gefühlslage wechselte ständig. Nun war ich wieder etwas verschämt ob meiner Nacktheit und zuvor hatte ich mich mit Haut und Haaren diesem Mann in meiner ganzen Offenheit und Verletzlichkeit hingegeben. Ihm schien es genauso zu ergehen. Schnell schlüpfte ich in meine Klamotten und er begann mir dieses Haus zu zeigen, welches beängstigend groß für mich allein war. Allerdings bewohnte ich nur das Schlafzimmer, die Küche und das Bad im Erdgeschoss. Als wir in der Küche waren, öffnete er eine Tür zum Hof. Er stellte zwei Stühle an einen Tisch. Ich bemerkte, dass auf dem Küchentisch ein prall gefüllter Obstkorb stand, ebenso eine schöne Kerze und nun holte er eine Vase und stellte meine ‚Willkommensrose‘ hinein.

„Ich hoffe, alles ist gut so. Ich habe Wasser und Cola gekauft. Ich wusste nicht, was du so magst und ich hatte in der Aufregung vorher vergessen dich zu fragen. Heute Abend möchte ich dich gerne zum Essen einladen. Magst du Fisch?“

„Azim, super, alles bestens! Und ich liebe Fisch!“

„Okay, dann gehen wir an den Hafen. Dorthin, wo sich kaum ein Tourist verirrt. Ich mache dich noch zu einer Marokkanerin!“ Er lachte herzhaft und sprach weiter: „Hast du nun Lust auf einen Willkommenstrunk? Einen marokkanischen Whisky, so nennt man scherzhaft unseren Minztee.“

„Oh ja gerne! Und danke. Ich möchte gerne viel von dem Leben hier mitbekommen.“

Ich schaute zu, wie Azim den Tee bereitete - eine Zeremonie. Später lernte ich wie es geht, in diesem Moment schaute ich nur fasziniert zu, wie er Tee aufgoss, abgoss, wieder eingoss. Dachte ich doch, man nimmt ein paar Minzblättchen, Wasser drauf fertig, aber dem war nicht so, denn es brauchte ein paar mehr Zutaten. Es duftete herrlich!

Wir setzten uns in den Hof und Azim goss Tee in hohem Bogen in kleine verzierte Gläser, während ich staunte, dass nichts danebenging. Wir schlurften den Tee so vor uns hin. Im Hof hing an einer Wand die nicht weg zu denkende Satellitenschüssel, die in Agadir das Stadtbild mitprägte. An einer Wand rankte eine Bougainvillea. Auf dem Boden standen mehrere Kübel mit Pflanzen. Weiter rechts ging es um die Ecke zur Einfahrt, wo sich eine kleine Rasenfläche befand, auf der achtlos ein Gartenschlauch lag.

Wieder waren wir befangen. Wir kannten uns noch nicht mehr als ein paar wenige Stunden. Azim erklärte mir, er müsse noch mal bei seinen Eltern vorbeischauen, er habe es versprochen. Es sollte so wenig wie möglich auffallen, was wir hier taten. Denn auch wenn er ein moderner Marokkaner war, seine Eltern würden, selbst wenn sie ebenfalls nicht sehr streng waren, so eine Geschichte nicht gutheißen und auch die Gesellschaft war überwiegend konservativ, denn nach ihrem Glauben ging so was hier gar nicht. Er wohnte noch im Elternhaus und hatte zwar von der Vermietung des Hauses erzählt, nicht aber, dass er sich um mich kümmern wolle. So hatte er erst gar nicht groß erwähnt, dass er Urlaub hatte, um es so zu drehen, dass es für uns passte. Es war zu dieser Zeit normal, dass auch die Reiseleiter unregelmäßig zu tun hatten. Nach den Anschlägen in New York war die Zahl der Touristen zurückgegangen. Die Eltern wohnten am Stadtrand und kamen so gut wie nie in die Stadt. Trotzdem war Agadir wie ein Dorf und sollte uns jemand beobachten, mussten wir kreativ sein.

Bevor er aufbrach, gab er mir einen langen Kuss.

„Bis gleich, meine Wüstenkönigin“, sprang in sein Auto und fuhr weg. Ich schloss das Tor. Ich wurde mir meiner Situation bewusst. Ich hatte keinen Schlüssel, ich wusste noch nicht einmal, wo ich war. Prima Mädel, dachte ich, schön dumm. Was wenn er aus irgendeinem Grund nicht zurückkam? Mein Herz schlug schneller und ich hatte plötzlich genau die Horrorszenarien vor Auge, die man sich allenthalben so erzählte. Vielleicht war das alles nur vorgegaukelt. Vielleicht sammelte er just zu diesem Zeitpunkt Freunde ein, die sich dann hier mit der naiven deutschen Kuh vergnügen könnten. Mir flossen die ersten Tränen, ich fühlte mich Elend! Das passte zu meinen ständigen Gefühlsschwankungen seit meinem ersten Aufenthalt hier in Agadir. Zu meiner Schizophrenie bahnten sich nun in Windeseile auch noch schwerste Depressionen und Wahnvorstellungen an! Ich wollte mich gerade noch weiter in diese Vorstellungen reinsteigern, als mein Handy klingelte. Das Display zeigte, es war Azim! Ich drückte den Hörer.

„Nele, excusez moi, ich hatte ganz vergessen, dir zu sagen, dass ich im Flur schon einen Zettel hingelegt habe. Dort steht die Adresse des Hauses, auf dem Stadtplan habe ich sie angekreuzt. Auch die Nummer und Adresse meiner Eltern, natürlich in der Hoffnung, dass nichts so Schlimmes passiert, einfach nur zur Sicherheit. Anbei noch die wichtigsten Notrufnummern. Dort liegt auch der Schlüssel. Der Kleine für die Haustür und der große für das Tor. Aber vielleicht magst du lieber warten, bis ich dir ein wenig von der Gegend gezeigt habe. Und erschrecke nicht, wenn du draußen Uniformierte herumlaufen siehst. Dieses Viertel wird bewacht. Dir kann dort nichts passieren. Du musst schon gedacht haben, ich sperre dich ein!“ Mir fiel ein Stein vom Herzen, er hätte hören müssen, wie es poltert!

„Ja, ein wenig komisch war mir schon … “, was natürlich stark untertrieben war, aber ich konnte ihm ja nicht erzählen, für was ich ihn gerade eben noch gehalten hatte. „Nun ist ja alles okay! Weißt du, wie lange es ungefähr dauern wird?“

„Nicht lange! Bis dann!“ Und schon war aufgelegt. So sorgsam, wie er alle Infos zusammengestellt hatte, hätte es ihm bei meiner Mutter zu aller Ehre gereicht. Ich kannte nur sie, die immer so akribisch Überlebenszettel schreibt. Er hatte auch im Stadtplan alles Wichtige markiert. Polizei, Krankenhaus, deutschsprachigen Arzt, Feuerwehr und einen kleinen Supermarkt. Wie konnte ich nur so schlecht von ihm denken? Meine Nerven hielten diese Geschichte sicher nicht mehr lange durch!

Nun konnte ich in Ruhe noch einmal das Haus inspizieren. Es war modern, aber im Inneren dann doch mit vielen typisch marokkanischen Dingen ausgestattet, bis hin zu den vielen kitschigen Sachen, die viele Marokkaner so liebten. Damit meinte ich Unmengen von Plastikblumen, Plastiktischdecken, Plastikkörbchen und so weiter. Auch gerne grelle, bunte Bilder in Plastikgoldrahmen. Davon hingen im ganzen Haus welche. Auf jeder zweiten Treppenstufe stand eine dieser geschmacklosen Plastikblumen. Oben gab es noch ein Bad mit einer typisch französischen Toilette, die aussehen wie Duschbecken mit großem Loch, auf denen man nur im Hocken machen konnte. Es gab noch zwei Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer. Ich schaute nur kurz rein. Aber ich wollte keines der Zimmer betreten, sonst wäre ich mir wie ein Eindringling vorgekommen. Es war schon sehr nett, dass dieser Onkel mich hier einfach so wohnen ließ. Darin unterschieden sich wohl viele Deutsche und Marokkaner. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemand Fremden einfach im Haus eines Verwandten unterbringen dürfte.

Ich schaute auf die Uhr. Schon eine Stunde vergangen. Ich ging zurück in mein Zimmer, schnappte mir die Fernbedienung und machte den Fernseher an. Sehr zu meiner Freude gab es den Musiksender MTV. Ich fand auch Arte, welches halb Deutsch, halb Französisch ausgestrahlt wurde und sogar einen deutschen Sender. Aber ich blieb nicht sitzen, ich hatte keine rechte Ruhe. Da ging erneut mein Handy. Dieses Mal war es meine Mutter. Oh Schreck, ich hatte vergessen, sie anzurufen! Ich hob ab.

„NELE!?“

„Ja, Mama, ich bins!“

„IST ALLES IN ORDNUNG? BIST DU GUT ANGEKOMMEN? BIST DU ORDENTLICH UND SAUBER UNTERGEBRACHT? UND WO BIST DU JETZT BITTE SCHÖN?“ Immer diese tausend Fragen, ohne einmal Luft zu holen! Ich nannte ihr die Adresse und gab an, es handele sich um eine Privatpension. Ich nannte ihr zur Beruhigung noch Azims Nummer, in der Hoffnung, sie würde ihn nicht kontaktieren. Ich gab an, er sei Reiseleiter bei einem großen europäischen Reiseunternehmen, das klang gut und stimmte ja auch und betriebe nebenher diese Privatunterkunft. Das beruhigte sie ein wenig! Wenn meine Mutter wüsste! Nicht vorzustellen! Mit dem Versprechen, mindestens einmal pro Tag eine SMS zu schicken, entließ sie mich aus dem Verhör. Ich gebe zu, auch ich war ein wenig beruhigt, dass die Handyverbindung nach Deutschland auch hier funktionierte. In dieser Zeit war alles noch schwieriger und vor allem teurer. Ich würde sicher Unsummen an Kosten dadurch haben, aber egal!

Vielleicht sollte ich die Zeit nutzen, um Katja anzurufen. Ich schaute auf die Uhr. Sie könnte schon Feierabend haben. Und Azim war schon die zweite Stunde weg. Katja war tatsächlich zu Hause. Sie freute sich total, dass ich mich meldete.

„Und Süße, wie geht es dir?“

„Kaatjaa! Was ich hier tue, darf ich niemanden erzählen!“ Bevor ich weitersprechen konnte, fiel sie mir ins Wort. „Und ist es schön?“

„Was schön?“

„Na, mal wieder so richtig schönen Sex zu haben!“

„Kaatjaa!“ Ich versuchte empört zu klingen, sprach aber nur kleinlaut weiter: „Ja.“

„Dann wünsche ich dir weiterhin schöne Tage! Du wirst sehen, es hat seinen Sinn. Diese Reise, mit allem was du dort erlebst, wird dir überraschende Erkenntnisse bringen!“ Vor meinem geistigen Auge sah ich meine Freundin vor mir sitzen, eine Glaskugel vor sich und Karten auf dem Tisch. Ich musste grinsen. Wie so oft, würde sie wohl recht behalten.

Eine Erkenntnis würde mit ziemlicher Sicherheit sein, dass es ganz schlimmen Liebeskummer meinerseits nach diesen Tagen hier geben würde, denn es war ja sonnenklar, dass diese Geschichte nicht weitergehen konnte. Die zweite Erkenntnis, zu der ich schnell gelangte, war, dass marokkanische und deutsche Zeitangaben sich wesentlich unterschieden und marokkanische größter Auslegungsvielfalt unterlagen. Gleich, kurz und nicht lange konnten in Marokko zwischen einer halben und etwa vier Stunden variieren.

Denn nach drei Stunden hörte ich Azim durchs Tor fahren. Am liebsten wäre ich wie ein junges, frischverliebtes Küken direkt zu ihm gelaufen. Ich zwang mich zur Ordnung und versuchte möglichst lässig im Gartenstuhl zu sitzen und zu tun, als würde ich mich sonnen.

„Oh, schon da?“ Es klang ein wenig spitzer als beabsichtigt.

„Brauchst gar nicht so zu tun, ich weiß, dass es dir sicher viel zu lange vorkam!“ Er lachte mich mit seinem schönen Mund an und küsste mich leidenschaftlich.

„Was bildest du dir ein, zu wissen was ich denke und fühle?“, erwiderte ich in gespieltem Ernst, während er mich weiterküsste. Er zog mich rein in die Küche und erzählte mir, warum es länger gedauert habe. So ganz nebenher zog er mich Stück für Stück aus, dann sich selbst, immer weiter berichtend, was so war bei seinen Eltern. Wir liebten uns auf dem Küchentisch und trotzdem hörte er nicht auf zu reden. Er meinte ich hätte ihn verhext und dass er nicht wisse, was er tue und er glaube, nie wieder normal werden zu können. Wir neckten uns und lachten und liebten.

Draußen wurde es dunkel. Ich bekam mächtig Hunger. Wir machten uns frisch und fuhren Richtung Hafen. Die Stadt war beleuchtet, und ich fühlte mich so richtig an seiner Seite.

Wir gelangten auf einen kleinen Parkplatz. Obwohl dort einige Plätze frei waren, dirigierte uns ein äußerst wichtiger Parkplatzwächter mit viel Trara in eine Lücke und kassierte. Ich regte mich, typisch deutsch, auf. Wir wären doch nicht doof und könnten allein parken und dann die Abzocke. Und wieder bekam ich eine Lehreinheit. Azim erklärte mir geduldig, dass es sich hier nicht um Abzocke handele. Dass viele Menschen hier so richtig arm seien und sie sich einfach nur ein wenig Geld damit verdienten. Es war auch nicht viel, was dieser Mann bekam. Dafür würde das Auto aber auch bewacht. So begann ich Stück für Stück viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Wir gingen in eine Art Halle, eher so etwas wie ein riesiger Carport. Unter diesem Dach gab es unzählige Fischbuden. Kleine gemauerte Nischen mit einer Theke davor unter der die Angestellten hindurch krabbeln mussten. Man konnte sich den Fisch aussuchen. Da ich keine Ahnung von dieser großen Auswahl hatte, ließ ich Azim bestellen. Vor den Buden hatte jede ein paar dazugehörige Bierzeltgarnituren mit den anscheinend heiß geliebten kitschigen Wachstischdecken. Wir suchten uns einen Platz. Dann kam ein Mann und hielt mir eine Kanne hin. Azim sagte ich solle die Hände hinhalten. Der Mann goss mir Wasser über die Hände und reichte mir ein Tuch zum Abtrocknen. Azim tat es mir gleich. Ich fand diese kleine Prozedur sehr schön.

Bald darauf kam unsere Fischplatte. Es schmeckte wahnsinnig gut, alles war fangfrisch zubereitet und ich aß, bis mir fast schlecht wurde.

Anschließend mussten wir uns ein wenig bewegen. Azim fuhr mit mir zur Strandpromenade. Ein herrlicher Abend, die Luft war warm, es wehte ein leichter Sommerwind. Die Lokale waren gut besucht. Ich merkte, wie er nervös wurde.

„Azim, was ist los?“

„Ich möchte gern mit dir spazieren gehen. Aber jederzeit kann es passieren, dass wir angesprochen werden. Es ist einem Marokkaner nicht einfach so erlaubt, sich mit einer Touristin zu zeigen. Zudem könnte uns jemand sehen, der mich kennt. Aber ich wollte mit dir hierher, denn es ist ein wunderschöner Abend.“

„Ich möchte dir keine Schwierigkeiten bereiten. Lass uns zurückfahren!“

„Nein, wenn die Polizei auftaucht, bist du meine Verlobte, wenn Bekannte mich ansprechen, eine frühere Kollegin.“ Ich fühlte mich auf einmal gar nicht mehr gut.

„Azim, wir können sofort mit dieser Geschichte aufhören. Bring mich zum Haus, ich bezahle dir die Miete und verbringe die Woche allein! Und wenn du etwas weniger auffallen willst, solltest du meine Hand loslassen!“

Er ließ meine Hand nicht los. Er ging weiter und wir setzten uns etwas abseits an den Strand hinter eine Mauer in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden.

„Ich muss mit dir reden!“ Azim schaute mich mit fragenden Augen an, bedeuteten diese Worte in der Regel nichts Gutes!

Wir starrten eine Zeit nur auf das Meer. Das ewige Spiel der Wellen, das Kommen und Gehen, immer irgendwie gleich und doch immer anders. Es beruhigte mich, ich liebte das Meer so sehr!

Und da war er wieder, dieser Gedankensog … und ich bemerkte, wie sich Azims Finger in meine Hand bohrten …

Wir beide an unserem Zelt. Der Abschied stand bevor … wir hatten uns die ganze Nacht geliebt wie Ertrinkende … Wir wussten, diese Reise würde gefährlich werden … Wir sahen uns in die Augen und wussten, egal was geschah, unsere Liebe wäre stärker als alles andere. Unsere Seelen blieben zusammen, jeder war trotz der räumlichen Trennung immer bei dem anderen, nicht nur in Gedanken. Wir wussten, unsere Liebe war etwas Besonderes - unsere Seelen würden sich nie verlieren und immer wieder zusammenfinden. Es war schmerzhaft, ihn gehen zu lassen, dennoch fand ich Trost, ein Teil von ihm bliebe immer bei mir … Ein letzter Kuss, ein letzter Blick … Worte waren nicht notwendig … Adieu Wüstenkönig, ich verabschiedete mich in Gedanken … ich wünsche dir eine gute Reise, Kraft, Mut und Glück und komme wohlbehalten zurück! Und obwohl ich es nicht ausgesprochen hatte, antwortete er laut: „„Danke Malak, meine Wüstenkönigin!“ Er ging … mein Herz schmerzte … eine Träne rollte über meine Wangen … Er ging aufrecht, kraftvoll und stolz, aber ich sah, dass auch er sich eine Träne wegwischte …

Der Gedankennebel zog sich zurück. Ich sah zu Azim - ich bekam Gänsehaut - er wischte sich eine Träne weg und im gleichen Moment merkte ich, wie auch mir eine Träne herunterlief. Verstohlen wischte auch ich sie weg, doch Azim hatte es bemerkt! Seine Finger entkrampften sich, wir schauten uns an, unfähig zu sprechen. In meinem Hirn ratterte es! Es gab schon mehrere Anzeichen, dass es ihm ähnlich erging, wie mir. Dass er durch eine magische Kraft der Gedanken, die nicht zu steuern war, entführt wurde in eine andere Welt.

Dennoch traute ich mich nicht direkt, ihn darauf anzusprechen. Jeder normale Mensch würde mich für verrückt halten!

„Azim, woran hast du gerade gedacht?“ Pause.

„Ich … ich weiß nicht … äh, vielleicht war ich … also, vielleicht war ich … ja, ich war wütend, dass es so schwer ist, hier einfach die Zeit mit dir zu genießen!“ Und um dem ganzen Nachdruck zu verleihen, dass es das war und nichts anderes sagte er laut und fast schon trotzig: „Ja genau, das war es!“

Ich schwieg eine Weile und starrte weiter auf das Meer.

„Azim“, versuchte ich mich mutig ranzutasten, denn ich konnte diese Geschichte jetzt nicht einfach ruhen lassen. „Azim, du hast eine Träne vergossen, weil du wütend bist? Warum habe ich im gleichen Moment eine Träne vergossen? Bin ich auch wütend? Du hast genau gesehen, dass auch bei mir eine Träne floss! Ich vermute, dass das, was du mir vielleicht sagen möchtest, völlig verrückt ist! Und ich kann dir sagen, dass das, was ich dir sagen will ebenso irre ist! Aber ich glaube zu spüren, dass wir beide etwas Ähnliches denken. Gedanken, die wir nicht steuern können.“

Niemand sagte etwas. Azim blickte fast schon hypnotisch aufs Meer. Ich fixierte mit den Augen den Sand, als wäre der gerade das allerwichtigste auf der Welt. Nach gefühlten Stunden drehte er sich zu mir, schaute mir tief in die Augen. „Fang du an!“

Mir wurde plötzlich der Hals trocken, meine Lippen versagten den Dienst und meine Stimmbänder wollten nicht funktionieren.

Ich konnte doch unmöglich diese Story von irgendwelchen magischen Gedankennebeln auftischen. Er würde mich umgehend aus dem Haus werfen und gehen. Wer wollte schon mit einer psychisch deformierten, fast fremden Frau seine Zeit verbringen?

Aber sie waren doch da und niemand, der mich kannte, hatte mich in den letzten Monaten auf meinen verwirrten Geisteszustand aufmerksam gemacht. Und passten die kleinen Zeichen, die er gab, nicht immer genau zu diesen Nebeln? Herrgott! Das war doch irreal!

Aber Katja versuchte mich schon seit langem zu überzeugen, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als wir uns vorstellen können. Und auch ich war nicht abgeneigt, das ein oder andere zu glauben. Nur nicht das, was mir dauernd geschah! Das hatte ich noch nie gehört!

Trotzdem musste es raus. Ich musste wissen, ob ihm das Gleiche geschah. Das würde so wahnsinnig viel erklären!

Ich räusperte mich. Ich versuchte amateurhaft einen Anfang zu finden. „Erinnerst du dich an den Tag, als Katja und ich den Ausflug nach Marrakesch mit dir machten? Schon damals hatte ich das Gefühl, deine Stimme wäre mir vertraut. Natürlich hätte es sein können, dass es nur daran lag, dass sie so wunderschön ist.“ Er lächelte mich an. „Aber auf dem Rückweg, als ich an diesem Café etwas Abseits stand, da hatte ich so ein Gefühl, dies wäre meine Heimat. Ich hatte einen unglaublich starken Drang einfach in die Nacht hineinzugehen. Und dann - nun kommt das wirklich verrückte - erfasste mich so ein Gedankensog, wie ein weißer Nebel und ließ mich lebendige Bilder sehen in einer anderen Zeit, hier in Marokko.“

Ich zögerte und schaute Azim an, versuchte seine Gedanken zu lesen. Er schluckte schwer, sagte aber nichts, blieb sitzen und rannte nicht verstört weg.

„In diesen Bildern, die eher einer Filmszene glichen, waren wir beide …“ Wieder machte ich eine Pause. Ich rechnete damit, dass er jeden Moment aufstand und kopfschüttelnd verschwinden würde und mich, die Irre, einfach am Strand zurücklassen würde. Aber nichts dergleichen geschah, so fuhr ich fort. „Wir gingen zusammen und du hieltest meine Hand. Und als diese magischen Gedanken sich zurückzogen, hattest du wirklich meine Hand genommen und du warst irritiert, so wie ich auch und auch bei dir war etwas geschehen. Du warst mir so nah, so vertraut, ich wäre in diesem Moment mit dir überall hingegangen.“

Ich spürte wie Azim mit den Worten und Gedanken kämpfte. Es dauerte eine Weile, bis auch er begann zu sprechen.

„Nele, das kann doch nicht wahr sein! Ich dachte, ich werde verrückt! Ich hatte Angst krank zu werden! Oder sind wir beide krank? Es stimmt, ich hatte damals auch diese weißen Gedankennebel und war verwirrt, als ich dann tatsächlich in der Realität deine Hand hielt. Ich schämte mich so! Aber du warst gar nicht böse und ich hatte ebenfalls dieses Gefühl, du hättest Ähnliches gespürt, wollte diesen Gedanken aber nicht zulassen! So was gibt es doch nicht! Ich sehe gerne einen Fantasyfilm, lese auch schon mal ein solches Buch, aber an Übersinnliches glaube ich nicht im Geringsten. Aber was sonst ist es?“

„Hm, wenn es nicht so abgedreht wäre, würde ich sagen, es gibt mehrere Leben und wir hatten eine große Seelenliebe und es sollte sein, dass wir uns in diesem Leben wiederfinden und nun da es geschehen ist, erinnert uns eine höhere Macht oder unser Unterbewusstsein an unser früheres Leben, damit wir auch sicher sind. Es gibt immer mehr Menschen, die an solche Geschichten glauben und viele versuchen mittels Hypnose in ihr früheres Leben einzutauchen. Denn oft gibt es Dinge, Gefühle, Blockaden im heutigen Leben, die irgendwie nicht erklärbar sind und die sich durch eine Rückführung erklären oder sogar auflösen. Katja ist von diesen Möglichkeiten überzeugt. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr muss ich es glauben, wenn es sich nicht um eine Krankheit handelt. Denn das Schicksal hat mich trotz meiner Widerstände nach Marokko geführt. Und schon bei meinem ersten Urlaub in Tunesien kamen so merkwürdige Gefühle und Gedanken auf, die mich irritierten. Ich kam mir so fremd vor in dieser Kultur, war sogar teilweise irrsinnig genervt, aber immer wieder gab es Situationen, die so ein ganz kleines bisschen Vertrautheit hervorriefen. Als ich damals Tunesien verließ, hatte ich schon das Gefühl, ein Stück meiner Seele wäre in Nordafrika zurückgeblieben. Danach folgten noch viele solcher Hinweise.“

Er dachte nach. Nach einer Weile fragte er kleinlaut: „Hast du noch öfter diese Gedankennebel gehabt?“

„Ja.“

„Nele, wann hattest du die und wie sahen sie aus? Ich kann mich an alle Szenen erinnern, als wären sie wirklich geschehen.“

„Das zweite Mal war es an dem Tag, an dem ich die Flugtickets abholte. Du warst zurückgekehrt von einer Reise, ich kam vom Waschen mit anderen Frauen, wir liebten uns und du nanntest mich ‚Malak‘ und ‚Wüstenkönigin‘ und heute Morgen hast du mich wieder so genannt.“

„Und ich war dein Wüstenkönig … und ich rief dich nach diesen Gedankennebeln an.“ Ich lächelte.

„Ja. Danach hatte ich nicht diesen Sog, sondern …“

Er unterbrach mich. „Einen Traum?“ Ich schaute verwundert.

„Du hast geträumt, wie es hier aussah, obwohl du das absolut nicht wissen konntest. Du hast geträumt, wie und was dann passieren würde, sobald du hier ankommst.“ Mein Mund stand offen. Ich hatte Bedenken, dass ich gleich laut um Hilfe schreien würde! Dennoch konnte ich nichts mehr sagen. Azim sprach weiter. „Auch ich hatte in der gleichen Nacht einen Traum. Ich träumte diese Szenen aus meiner Perspektive. Ich wusste ja, wie es aussieht, aber ich träumte genauso, was dann passierte. Und glaube mir, ich schämte mich sehr. Ich habe das nicht gewollt!“ Er wurde heftig und etwas lauter, fügte dann aber verschmitzt hinzu: „Obwohl ich zugeben muss, dass mir diese Vorstellung gefiel.“ Er lachte kurz und auch ich musste zustimmend lachen.

„Ich wusste, dass du Malak warst und meine Wüstenkönigin! Als wir im Schlafzimmer waren, warst du dann auch wieder mit mir in der Vergangenheit?“ Ich nickte. Er sprach weiter: „Und ich wusste, als du in den Flur eingetreten warst und ich dich anschaute und du nur „JA“ sagtest, was nun passieren würde.“ Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Ich bin unglaublich froh, dass es dir genauso ging, ich hatte wirklich ernsthafte Sorge, psychisch abzudrehen!“

„Azim, mir ging das genauso und auch jetzt halte ich das Ganze für unglaublich, aber anscheinend wahr und egal, welche Erkenntnis noch kommt, wenigstens bin ich nicht allein verrückt!“

Plötzlich mussten wir lachen und konnten nicht mehr aufhören. Wir hielten uns die Bäuche, die schon wehtaten. Wir lachten uns den ganzen Druck weg, diesen Irrsinn! Japsend nach Luft beruhigten wir uns langsam.

„Nele, was machen wir nun damit?“

„Azim, ich weiß es wirklich nicht!“ Wie kann man als vernünftiger, einigermaßen intelligenter Mensch so eine Geschichte weiterdenken? Was hältst du davon, dass wir einfach abwarten und die Tage genießen. Ich bin aber froh, dass es nun raus ist und wir darüber gesprochen haben!“

„Und ich erst! Nele?“

„Hm?“

„Nichts wird mehr, wie es war!“

„Nein, ich weiß.“

„Es ist nicht irgendein Urlaub.“

„Ja, auch das weiß ich.“

„Ich bin so froh, dass du wieder da bist, meine Wüstenkönigin!“

Er schaute mir tief in die Augen, drückte meine Hand und küsste mich, auch auf die Gefahr hin, Unannehmlichkeiten zu bekommen.

„Nele, ich liebe dich, auch wenn ich dich als Nele kaum kenne!“

„Azim ich liebe dich auch!“ Es fiel mir nicht schwer, das auszusprechen. Es war einfach so!

„Malak, was hältst du davon, nun zurückzufahren. Ich habe eine Flasche Wein besorgt. Lass uns noch ein wenig auf die Terrasse setzen. Ein Gläschen haben wir uns jetzt echt verdient!“ Grinste und stand auf und zog mich mit hoch.

„Wahrlich, wir sollten darauf anstoßen, dass wir uns wiederhaben!“

„Ja. Nele, ich würde gerne heute Nacht bei dir bleiben.“

„Nichts lieber als das!“ Ich strahlte meinen Wüstenkönig an.

„Und deine Eltern, werden sie sich nicht wundern?“

„Halte mich für einen Schuft, aber ich habe vorsorglich erzählt, ich hätte eine zweitägige Tour.“ Gespielt aufgebracht rammte ich ihm meinen Ellbogen in die Rippen.

„Unmöglich! Wie konnte ich mich gleich zweimal in so einen unverschämten Kerl verlieben?“ Er lachte.

„Du wirst sehen, ich werde gleich noch unverschämter!“

„Daran zweifle ich keine Sekunde. Mir schwant da so was!“

Während wir zum Auto gingen und zurückfuhren, fühlte ich mich so leicht, so unwirklich und doch so angekommen. Ich wollte nicht an die Zukunft denken, nur meine Zeit hier genießen und mich freuen, dass ich mit Azim eine kurze Zeit zusammen sein konnte.

Wieder im Haus, setzten wir uns auf die Terrasse, Azim zündete eine Kerze auf dem Tisch an und goss uns einen marokkanischen Rosé ein, den er schon vorher schön kühl gestellt hatte.

Es war warm und ich fühlte mich wohl.

„Cheers, auf uns!“

„Cheers, auf unsere Seelen!“

Eine Weile waren sprachen wir nichts, dann wollte Azim alles von mir wissen. Ich erzählte ihm, wo ich herkam. Wir schauten uns Karten an. Er erfuhr alles über meine Familie. Ich versuchte ihm zu beschreiben, wie und wo ich wohnte. Er wollte es so genau wissen. Ich musste ihm die Wohnung aufzeichnen. Ich berichtete über meine Arbeit und auch diesen Ort wollte er gezeigt bekommen. Auch die Geschichte meiner Freundschaft mit Katja interessierte ihn sehr. Wie mein Freundeskreis sei. Meine Hobbies, ob ich gerne wegginge und wohin, welche Filme ich gerne sah, welche Bücher ich bevorzugte. Was ich gerne esse. Ob ich kulturell interessiert sei und irgendwann, etwas zaghaft auch, wie es denn so um mein Liebesleben stünde. Er konnte gar nicht verstehen, dass ich allein sei, und ich erklärte ihm, warum es bisher noch nie so richtig gepasst habe. Dass ich einen sehr hohen Anspruch an die Liebe hätte, weil ich immer das Gefühl hatte, irgendetwas fehle mir. Und dass ich nun, seit ich das von uns wisse, glaube, dass es daran lag. Er nickte zustimmend und meinte, er wisse, was ich meine.

Ich hatte so viel und so lange von mir erzählt und wollte nun mehr von ihm erfahren. Er stand auf und zog mich vom Stuhl hoch, legte den Zeigefinger und sagte: „Pssst Malak. Nicht heute.“ Ich glaubte einen Schmerz in seinen Augen zu erkennen, aber er küsste mich und verdrängte damit meinen Eindruck. Er nahm mich fest in die Arme und begann leise ein altes, langsames marokkanisches Lied zu singen. Dazu tanzte er sanft mit mir unter dem Sternenhimmel. Und wir tanzten immer weiter in Richtung Bett.

Dort legte er mich hin, begann mich auszuziehen. Er betrachtete mich, malte mit seinen wunderschönen Fingern meinen Körper nach. Ich glaubte seine Blicke auf meiner Haut spüren zu können. Er begann mich überall zu küssen, spielte mit seiner Zunge und meinem Körper. Mein Verlangen steigerte sich immer mehr, bis ich es kaum aushielt. Ich wollte ihn ganz spüren! Aber er quälte mich liebevoll und lustvoll weiter. Ich spürte, dass es ihm nicht anders erging. Doch dann erlöste er mich, er zog sich hastig aus und drang fast schon brutal in mich ein und es war genau das, was ich wollte, was ich brauchte in diesem Moment. Und so, wie wir zuvor am Strand lachten und unser Druck sich löste, so mussten wir es nun noch einmal auf diese Weise tun. Hatte ich vorher geglaubt ich hätte mich ihm doch schon mit Haut und Haaren hingegeben, so wurde ich nun eines Besseren belehrt. Ich glaubte es nicht mehr auszuhalten und gleichzeitig glaubte ich sterben zu müssen, wenn es nun aufhören würde. Es hatte uns eine Sucht, eine Leidenschaft erfasst, die ich noch nicht annähernd erlebt hatte. Mit diesem Akt liebten wir uns brennend durch unser früheres Leben, unsere noch sehr junge Erkenntnis und Offenbarung, unser Wiederfinden. Wir liebten uns für unsere Seelen. Ich wollte schreien vor Schmerz, aber dieser Schmerz war Lust und ich hatte einen Höhepunkt, den ich nicht mehr als irdisch empfand. Und auch Azim bäumte sich auf, als kämpfe er um sein Leben und ergab sich der Erlösung.

Danach lagen wir da, unsere Herzen klopften wild. Unser Atem ging noch heftig, wir waren schweißgebadet. Konnten nichts mehr tun, nichts mehr sagen klammerten uns aneinander und schliefen erschöpft ein.

Die Nacht war kurz, denn es war schon mehr Morgen als Nacht und ich schlief fest, ich fühlte mich so sicher in seinen Armen. Ich war gerade dabei, ganz langsam und zögerlich in den Wachzustand zu gleiten, als ich plötzlich hochschoss und kerzengerade im Bett saß. Was schrie da so rum, mitten in meiner noch gefühlten Nacht?

Azim blinzelte und fing an zu lachen. „Ah, der Muezzin ruft zum Gebet und meine kleine Marokkanerin erschreckt sich! DAS müsstest DU doch wissen!“

„Ha!“, entgegnete ich, „damals gab es das in unserem Leben noch nicht, du eingebildeter Wüstenwüstling!“

„Moment, wie nennst du mich? Einen Wüstling? Nun gut, meine willige Wüstenfrau, dann werde ich auch einer sein.“ Er grinste breit und warf mich aufs Bett und nahm mich. Gespielt bettelte ich um Erbarmen, aber er machte weiter.

„Willst du in Zukunft meine brave Wüstenkönigin sein und deinem Manne nicht solche Beschimpfungen an den Kopf werfen?“

„Nie!“, lachte ich. „Ich bin eine wilde, freie Wüstenkönigin, die nicht im Traum daran denkt, sich zu unterwerfen!“ Ich lachte weiter, während er meine Hände festhielt und meine Arme über meinem Kopf auf das Bett drückte. Ich versuchte mich zu wehren und er grinste und machte drängend weiter. „Ich werde dich erst erlösen, wenn du dich ergibst!“

„Eher sterbe ich!“ Worauf er nur meinte: „Gut, du willst es nicht anders!“, und mich fordernd nahm und ich mich unter ihm wand, aber keine Chance hatte. Er hatte mich im Griff! Als wir erneut erschöpft waren, fiel mir auf, wie variantenreich unser doch sehr junges Liebesleben war. Wir hatten viel Spaß, es konnte unendlich zärtlich sein, aber auch ekstatisch, immer aber war es intensiv, war mehr als nur Körperlichkeit, immer ging es in die Seele. Ich empfand große Freude darüber. Ich hatte mich immer danach gesehnt, dachte aber, so was gäbe es nur in Büchern und Filmen. Gleichzeitig keimte der Gedanke auf, dass dies bald schon wieder ein Ende haben würde. Das musste ich sofort unterdrücken.

Kurz darauf verlies mich Azim, um einige Zutaten für das Frühstück zu besorgen. Ich wollte mit, doch er meinte, es wäre heute noch besser, er würde die Einkäufe tätigen. Ich blieb zurück und fand das nicht gerade gut. Irgendwie passte sein Verhalten nicht zueinander. Gestern noch zeigte er sich mit mir, wenn auch unter einer gewissen Anspannung. Zuvor aber hatte er mich lange warten lassen, als er seine Mutter besuchte. Er begehrte mich und nun war es nicht recht, wenn ich ihn begleitete. Diese Tage würden eine tiefgreifende Erfahrung werden und eine große Lernaufgabe für mich.

Ich schlürfte langsam die Treppe hinauf, um zu duschen. Oben im Flur entdeckte ich eine Balkontür, die mir am Vortag nicht aufgefallen war. Ich öffnete sie und ging auf den kleinen Balkon hinaus. Prachtvolle Bougainvilleen umrankten das verzierte hellblaue Geländer und kletterten seitlich die Hauswand hoch. So konnte ich, ohne direkt gesehen zu werden, das Treiben in diesem Wohnviertel beobachten. Ich musste lächeln. Die meisten Marokkaner waren warm angezogen. Für sie war es kühl und für mich war schon Sommer. Die Temperaturen waren wie an einem sehr warmen Frühlingstag. Obwohl hier große, schöne Häuser standen und man auch an den Autos erkennen konnte, dass hier nicht die Ärmsten wohnten, waren die Straßen nicht gepflastert, staubig und voller Schlaglöcher. Die frühmorgendlichen Szenen unterschieden sich nicht so sehr von denen in Deutschland. Zumeist Männer bestiegen ihre Autos und fuhren zur Arbeit. Kinder mit Schulranzen waren unterwegs zur Schule oder zum Bus, teilweise begleitet von ihren Müttern. Gegenüber rief eine Mutter ihrer Tochter hinterher und gab dem Mädchen noch ihre Jacke, die es wohl vergessen hatte. Wie eben überall in der Welt. Ich ging wieder hinein. Vielleicht sollte ich doch endlich mal duschen, bevor Azim zurückkäme.

Das Bad war grässlich rosa gefliest, an der Wand hing ein Plastikefeu und die geblümte Badematte war so hässlich, dass sie fast schon wieder schön war. Der Duschvorhang hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Ich drehte den verkalkten Wasserhahn an und registrierte nach endlosen Minuten, dass aus dem lauwarmen Rinnsal nicht mehr werden würde. Tja, Nele, andere Länder andere Duschbedingungen. Ich hüpfte unter dem Wasserstrahl hin und her, um meinem ganzen Körper das köstliche Nass zuteilwerden zu lassen. Gut, dass mich niemand beobachtete. Dachte ich. Meine Verrenkungen mit dem Kopf, um alle Haare zu befeuchten, mussten mich etwas irre erscheinen lassen. Das wurde noch schlimmer, als ich versuchte, den Schaum auszuspülen. Aber irgendwann hatte ich es geschafft, sauber aus der Dusche zu steigen und bemerkte erst da, dass Azim verschmitzt grinsend im Türrahmen lehnte und mich beobachtete.

„Azim, du Flegel! Wie kannst du es wagen mir heimlich beim Duschen nachzuspionieren?“

„Ich wollte dich unbedingt mal nackt sehen!“ Er lachte und rief mir, während er fröhlich die Treppen hinab lief zu, dass das Frühstück fertig sei. Der Kaffeeduft zog durch das Haus und ich beeilte mich, mich anziehen. Azim hatte den Tisch schön gedeckt, frisches Baguette besorgt, Käse, Marmelade, Oliven und in der Pfanne erhitzte er köstlich duftendes Olivenöl, um Rührei anzubraten.

„Wir essen oft nur in Olivenöl getunktes Brot“, erklärte er mir. Natürlich wollte ich das auch ausprobieren und war von diesem köstlichen Geschmack des Öles begeistert.

„Warte ab, bis du Arganöl probiert hast, oder die Marmelade, genannt Amlou, die man aus diesem Öl, Mandeln und Honig macht. Du wirst es lieben.“

„Kann sein, denn bestimmte Geschmäcker kommen mir so vertraut vor. Ob es etwas mit unseren Gedankennebeln zu tun hat?“

„Ach Nele, diese Gedankenreisen, die sind so verrückt. Diese Sache beschäftigt mich sehr! Ich bin so verwirrt!“

„Ich auch, aber es ist leichter, weil wir beide dies erleben.“

„Nele, die Probleme kommen erst noch!“ Ich küsste ihn, ich wollte verdrängen, was noch kommen würde. Ihn zu verlieren, dieses Land zu verlieren, das würde ein Schmerz sein, heftiger und anders als ich es je erlebt hatte. Schon jetzt spürte ich dieses Zerren an meinem Herzen und schon im Ansatz schien ich es nicht aushalten zu können.

„Azim, lass uns weiter frühstücken.“ Ich versuchte locker zu erscheinen und auch er bemühte sich um ein normales Verhalten. Aber mir war nicht dieser Schmerz in seinen Augen entgangen, den ich schon zweimal bemerkt hatte. Ihm schien es ähnlich zu gehen wie mir. Nele, rief ich mich zur Ordnung! Das hast du nun davon, dass du dich mit ihm eingelassen hast, aber ich wusste, es hätte nie anders kommen können. Ich schickte einen lieben Gedanken an Katja, die mir ja prophezeit hatte, dass hinter der ganzen Geschichte mehr steckte. Als gedankliche Antwort spürte ich ein freundschaftliches, warmes, aber auch triumphierendes Lächeln von ihr.

Ich nahm meinen Becher Kaffee und konnte ein Zittern nicht unterdrücken. Es war erst der zweite Tag in Marokko. Ich fühlte mich zumindest mit Azim schon so vertraut und wenn dieses Gefühl für diesen Mann und dieses Land sich noch viel mehr vertieften, nicht auszudenken! In diesem Moment ging mein Handy. Meine Mutter! Nie hatte ich mich mehr über ihren Anruf gefreut als in diesem Moment. Lenkte es mich von den traurigen Gedanken ab und katapultierte mich direkt in ihre verbalen Fänge!

„NELE!!!??? BIST DU DRAN???“

„Mama, wer sonst?!“

„HÄTTE JA AUCH SEIN KÖNNEN, DASS DIR WAS PASSIERT IST!!!“

„Mama, deine Logik ist unverwechselbar! Aber nein, mir ist nichts passiert. Es ist alles bestens. Ich frühstücke gerade, die Sonne scheint.“

„PASS AUF, DAS DU ALLES ABKOCHST, DU WEIßT JA, IN SOLCHEN LÄNDERN …“

„Sicher Mama, ich weiß. Mach ich. Bei euch auch alles okay?“

„MIR WÄRE BESSER, WENN DU ZURÜCK WÄREST! WANN KOMMT KATJA ENDLICH NACH?“ Oh ja, genau! Diese Geschichte hatte ich ihr aufgetischt!

„Hm, ich befürchte, das funktioniert nicht mehr.“

„UM GOTTES WILLEN! DANN BIST DU DIE GANZE ZEIT ALLEIN!? DU BRINGST MICH UM DEN SCHLAF! UND PASS AUF DIE MÄNNER AUF! UND GEH NICHT IM DUNKELN RAUS! UND GEH NUR DORTHIN, WO VIELE MENSCHEN SIND! UND …“

„Stopp Mama! Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich werde gut wegen der Männer aufpassen!“ Und zwinkerte Azim zu, der etwas verstört dreinblickte.

„Tschüss Mama und grüß Papa. Es wird sonst zu teuer!“ Schnell drückte ich sie weg. Es war schon gemein, aber sonst würden die Vorhaltungen noch ewig gehen.

„Sag mal, war das deine Mutter?“ Azim schaute mich groß an.

„Ja.“

„Man könnte Angst vor ihr bekommen! Und eine Lautsprecheinrichtung brauch man bei ihrem Organ auch nicht“ Ich lachte und gab ihm recht, aber immerhin hatte sie mich von diesen schmerzenden Gedanken abgelenkt.

„Was machen wir heute Azim? Hast du eine Idee, oder willst du wieder nach Hause?“

„Nein ich will bei dir sein! Ich dachte, wir fahren an einen Strand außerhalb Agadirs. Dort ist man nicht so beobachtet. Später können wir gemeinsam einkaufen und ich werde eine Tajine für uns kochen. Ist das okay für dich?“

„Und ob, ich freue mich und werde mit dir zusammen kochen, um es zu lernen! Sag mal Azim, wie unangenehm wäre es für dich, mit mir entdeckt zu werden?“

„Nun, ziemlich. Die Polizei sieht es nicht gern, wenn Marokkaner mit europäischen Frauen zusammen sind. Und zudem bist du nicht als Besuch angemeldet.“

„Wäre es besser, wenn ich eine Djellaba anhätte und eine Sonnenbrille?“ Er schwieg einen Moment, bevor er erwiderte:

„Ja, gute Idee! Das würde es einfacher machen. Riskieren wir es, im Souk zuerst etwas Hübsches für dich zu finden!“

So fuhren wir nach dem Frühstück zum Souk. Hier herrschte noch eine andere Welt. Hier fand man noch die Ursprünglichkeit des anderen, traditionellen Marokkos. Und wieder empfand ich alles als befremdlich und doch wieder so vertraut. Erst recht mit ihm an meiner Seite. Ich fühlte mich als seine Frau.

Wir schauten uns unzählige Stände an, bevor ich stehen blieb, denn ein Gewand stach mir ins Auge, mehr noch, es zog mich fast magisch an. „Azim dort!“

„Ja, ich weiß, das Grüne.“ Ich schaute ihn grübelnd an. Er wies den Händler an, diese wunderschöne, reich verzierte Djellaba vorzuzeigen. Verträumt strich ich über den Stoff, der so seidig war, ich zeichnete mit den Fingern die Stickereien nach. Man schob mich hinter einen Vorhang, damit ich sie anprobieren konnte. Kaum hatte ich diese wunderschöne Djellaba an, zog es mich wieder in den Gedankennebeln fort …

Ich war mit Azim auf einem Markt, der im Freien stattfand. Wir wollten Gewürze kaufen. Der Händler nannte uns einen unverschämt hohen Preis, denn er meinte an meinem edlen grünen Gewand erkennen zu können, dass wir wohlhabend seien. Es war derselbe Stoff, den ich nun anhatte und damals hatte ich all diese Stickereien selbst hergestellt … Gedanken und Realität vermischten sich … Azim sagte nichts mehr, nur der Händler versuchte lautstark gestikulierend die Vorzüge dieses Gewandes aufzuführen und damit seinen Preis zu rechtfertigen. Ich verließ die Kabine und fühlte mich in der Anderszeit, ich sah Azim ebenfalls in einem anderen Gewand und doch waren wir hier. Wie selbstverständlich ging ich zu dem Händler und fing an, um den Preis zu feilschen. Dieser verstand etwas deutsch, wie so viele Menschen in Agadir. Er wollte aber nicht so recht mit mir weitermachen und schaute hilfesuchend Azim an. War er doch der Mann und sollte sagen, wo es langgeht. Aber Azim hatte nur Augen für mich und sagte: „Mach weiter so, meine Wüstenkönigin, du weißt, wie es geht!“ Die Verhandlungen zogen sich, aber nach einer Weile hatten wir einen gerechten Preis. Ich war stolz und die Gedanken aus der Anderswelt verschwanden …

Ich zog die Djellaba wieder aus, der Händler verpackte sie und wir gingen. Ein paar Meter weiter musste ich mich auf eine Holzkiste setzen. Was war denn das nun schon wieder? Nun vermischten sich die Gedanken mit der Realität. Ich wusste in diesem merkwürdigen Moment genau, welcher Preis der richtige war. Ich war kein bisschen unsicher. Hätte ich das Gleiche nun noch einmal machen müssen, hätte ich es nicht gekonnt. Würden diese Gedankennebel mein ganzes Leben weiterhin auf den Kopf stellen, sich weiter in mein bisher wohlgehütetes Leben einmischen?

Auch Azim schien sehr verwirrt.

„Nele, hast du? Ich habe dich gesehen, früher … ich wusste, welche Djellaba du meinst … ich war hier und doch in unserer anderen Welt … was in Gottes Namen war das? Sollten wir nicht lieber einen Arzt aufsuchen?“

„Ich kann da jetzt nicht weiter drüber nachdenken! Das macht mir zu viel Angst! Wir erleben beide immer das Gleiche, also ist doch irgendwas dran! So wenig, wie unsere anderen Empfindungen zu erklären sind, ist es diese hier auch nicht. Ich will mich jetzt nicht damit auseinandersetzen!“

„Ich muss wohl anfangen, daran zu glauben, wenn ich nicht verrückt werden will! Und es fühlt sich auch nicht falsch an. Es fühlt sich damals wie heute so verdammt gut an mit dir! Lass uns gehen, Wüstenkönigin.“ Und ich folgte meinem Wüstenkönig durch das Gewirr der Gänge und nahm nichts mehr so richtig wahr. Zu sehr war ich noch mit dem eben Erlebten gedanklich beschäftigt, so einfach ließ es sich nicht verdrängen.

Schweigend fuhren wir zurück zum Haus. Wir packten, immer noch beschäftigt mit dem Erlebnis im Souk, unsere Badesachen. In der Küche richtete ich ein paar Kleinigkeiten zum Essen, Azim packte Decke und Handtücher. Dann ging ich ins Schlafzimmer und zog meine neue marokkanische Kleidung an. Es war, als zöge ich mir mein anderes Leben an, meine frühere Haut. Neugierig betrachtete ich mich im Spiegel. Ich sah mich so zum ersten Mal, denn der Händler hatte keinen Spiegel. Wenn ich auch sonst so einiges an meinem Aussehen zu mäkeln hatte, so fand ich mich in diesem grünen Gewand wunderschön. Ich hatte den Eindruck, das Grün meiner Augen intensivierte sich und mein Haar passte perfekt. Schon lange färbte ich meine Haare mit Henna und nun leuchteten sie mahagonirot. Ich fühlte mich fast wie ein kleines Mädchen, das sich als Prinzessin verkleidete und damit überglücklich war.

Azim kam ins Zimmer, seinen Blick bewundernd auf mich gerichtet. Er stellte sich hinter mich, schlang seine Arme um mich und flüsterte mir mit heißem Atem ins Ohr: „Malak, meine strahlende, hübsche Wüstenbraut - wie ich dich begehre!“ Ich fing vor Aufregung an zu zittern. Er schob mir die Djellaba hoch und fing an, mich im Stehen zu lieben, immer den Blick im Spiegel auf mich gerichtet. Und auch ich sah ihm zu. Seine Erregung zu beobachten, sein Begehren, seine tiefen Blicke, seine vollen Lippen, die mich am Hals küssten, seine Hände, die mich überall streichelten. Zum ersten Mal sah ich unserem Höhepunkt zu. Es faszinierte mich. Noch nie hatte ich das in dieser Form erlebt, wie so vieles, was mir hier widerfuhr.

Nach einem langen Kuss lösten wir uns voneinander. Mit einem frechen, unwiderstehlichen Lächeln meinte er: „So Frau, hast du alles gepackt. Dein Mann will baden und sonnen und sich weiter von dir verwöhnen lassen.“

„Du marokkanischer Macho, ich werde dir deine Allüren schon noch austreiben. Du wirst noch erleben, was eine deutsche Wüstenkönigin mit dir macht! Hier ist die Tasche, trag sie ins Auto und dann halte mir die Tür auf und hilf mir beim Einsteigen, so wie es sich für mich geziemt!“ Er gab mir einen frechen Klaps auf mein Hinterteil. Ich zog mir eine Sonnenbrille an, meine Flipflops und fertig war die neugeborene Marokkanerin.

Als ich aus dem Haus trat, kam ich mir dann doch komisch vor. Diese so furchtbar unterschiedlichen Gefühle waren sehr merkwürdig. Im wahren Leben fühlte ich mich verkleidet. Aber Azim plapperte fröhlich und versicherte mir, ich sähe echt aus. Er musste es ja wissen.

„Azim, was ist, wenn wir angehalten werden?“

„Dann hältst du den Kopf gesenkt und tust nur so, als würdest du etwas zu mir sagen wollen. Ich werde dich dann barsch in meiner Sprache ansprechen und dir sagen, du solltest den Mund halten! Nicht gerade die Art, wie ein Mann mit einer Frau umgehen sollte, aber in diesem Fall wäre es gut. Hat ein Mann seine Frau so im Griff, wird niemand mit dir sprechen wollen.“

„Ich hoffe, es wird nicht passieren!“

Die ersten Meter, die wir durch die Stadt fuhren, hielt ich den Kopf gesenkt. Ich dachte, jeder wird diese merkwürdige Verkleidung erkennen. Selbst ich musste zu meiner Schande gestehen, dass ich so manchen Touristen in landesüblicher Kleidung für äußerst geschmacklos gehalten hatte. Aber nach einer Weile schaute ich auf. Ich wollte testen, ob man uns befremdliche Blicke nachschickte. Es geschah nichts dergleichen und ich fühlte mich erleichtert. Fast kam ich mir wie in einem Krimi vor - verleidet auf der Flucht - ich grinste. Azim bemerkte dies. „Was gibt es zu grinsen Weib?“

„Dein deutsches Weib fühlt sich, als sei es verkleidet auf der Flucht.“ Wir fuhren um eine Kurve und gerade wollte Azim etwas erwidern, als ihm die Worte im Halse stecken blieben. Auch ich entdeckte es!

„Oh shit!“ Dort standen Polizisten und führten eine Verkehrskontrolle durch. Ich suchte dieses Loch, in das ich versinken könne, aber es war nicht da. Azim raunte mir zu: „Kopf senken und tu, was ich gesagt habe!“ Musste das passieren? Ich bekam Angst! Ärger war das Letzte, worauf ich Lust hatte! Aber es nützte nichts, wir mussten unsere Show durchziehen. Nele, nun zeig mal her, was du beim Theater spielen in der Schule gelernt hast - siehste, die Lehrer hatten doch recht! Man lernt fürs Leben.

Azim hielt an, kurbelte sein Fenster runter und noch bevor die Polizisten etwas sagen konnten, versuchte ich unterwürfig zu klingen und seinen Namen zu nennen, schickte noch so was wie ein „äh“ hinterher und schon hörte ich Azim fast brüllen. Ich zuckte zusammen. Heiliger Himmel, klang das echt! Die Männer lachten verhalten und es hörte sich ein wenig mitleidig an, so nach dem Motto, man hat es aber auch schwer mit den Weibern. Ich hasste sie! Sie kontrollierten Azims Papiere, schienen zufrieden. Ich unterdrückte meinen Impuls meinen Kopf zu heben und ihnen mal so richtig die Meinung zu geigen! Azim spürte das wohl und zischte, ohne die Lippen zu öffnen so leise, dass die Männer es nicht hören konnten: „Nein!“ Ist gut, dachte ich, ich habe es ja verstanden – trotzdem - miese Kerle!

Ich konnte mich auch in anderen Situationen gut in Rage bringen. Erst recht, wenn es um Ungerechtigkeiten ging! Manchmal grenzte es fast schon an Genuss, mich in meine Wut reinzusteigern! Aber nun sollte ich wohl besser froh sein, dass wir nicht aufgeflogen waren. Krimi Marokko und ich mittendrin! Es hatte funktioniert. Man ließ uns weiterfahren.

Wir waren erleichtert und mussten dann lachen.

„War ich gut?“, feixte Azim.

„Du warst zu gut! Man könnte fast glauben, du gingst immer so mit Frauen um und würdest es auch noch genießen!“

„Oh, ich fühle mich geehrt, welch hohe Meinung du von mir hast!“ Ich grinste.

„Und ich, wie war ich als unterwürfiges Weib?“

„Grandios! Mich beschlich dieses Gefühl, du brauchst das!“ Ich knuffte ihn in die Seite.

„Warte ab, bis du gleich ausgestiegen bist, dann mache ich dich fertig, du überheblicher Wüstenschuft!“ Er wisperte mit gespielter Angst: „Oh nein meine Königin, ich bitte untertänigst um Verzeihung!“

„So ist es recht! Ich werde es mir überlegen!“ Es war so herrlich, mit ihm rumzualbern. Ich wollte, die Zeit mit ihm würde nie enden!

Ich schaute mir die Umgebung an. Unspektakulär. Büsche am Straßenrand, etwas weiter entfernt eine leicht hügelige Landschaft. Die Flächen davor mit kleinen, oft verdorrten Pflanzen bewachsen. Aber der Himmel trug ein wunderschönes, kräftiges, strahlendes blau. Azim bog ab und wir verließen die Hauptstraße. Wir fuhren einen sich schlängelnden, holprigen und nicht asphaltierten Weg abwärts. Niemand war zu sehen. In einer größeren Einbuchtung parkten wir. Noch konnte ich keinen Strand sehen. Aber nachdem wir zu Fuß um die nächste Biegung kamen, lag eine kleine versteckte Bucht vor uns. Wie nur für uns gemacht.

Sorgfältig bereiteten unser Lager nah an der etwas aufsteigenden Böschung, sodass man uns nicht direkt sehen konnte, sollte sich doch jemand hier her verirren und legten uns hin. Mein Kopf lag auf Azims Arm. Wir schauten in den Himmel und hingen eine Weile unseren Gedanken nach.

Irgendwo da im großen Universum versteckte sich die Antwort auf unsere unerklärlichen Erlebnisse. Ich bat das Universum, den lieben Gott, alle Engel und wer sonst noch so zuständig sein konnte, um baldige Klarheit. Oder um einen Hinweis, wo man mir und uns vielleicht weiterhelfen könnte. Ich lächelte. Nun fing ich schon mit so einem Unsinn an. Bestellungen beim Universum und so. Okay, beten war ja legitim. Das taten schließlich ganz viele Menschen auf der Welt, obwohl doch keiner so richtig wusste, ob es ihre Gottheit wirklich gab. Eigentlich auch bescheuert. Da konnte ich das ebenso sein. Schließlich gab es noch Azim, dem das Gleiche begegnete. Aber vielleicht merkten wir gar nicht, dass wir schon auf der geschlossenen Station der Psychiatrie einsaßen, als Schwerstschizophrene.

Nun, dann wäre es auch egal. Azim hatte mich von der Seite beobachtet und fragte, woran ich dachte. Ich erzählte es ihm. Er meinte: „Du, wenn die Klinik so einen schönen Privatstrand hat, ist das völlig in Ordnung.“

„Hm …“, war meine aussagekräftige Erwiderung. Azim beugte sich über mich. Der Kuss, der folgte, fühlte sich weder irre noch unecht an. Im Gegenteil, so wahrhaftig, so intensiv, so unendlich zärtlich, so voller Liebe. Er nahm mich in seine starken Arme. Ich schickte in Gedanken noch einen Wunsch an die Verantwortlichen im Universum hinterher: „Bitte lasst das nie enden. Lasst mich für immer hier liegen, in seinen Armen, von ihm geküsst!“ Wenn Katja meine Entwicklung bezüglich meiner Annäherung an höhere Mächte miterleben könnte … Diese Frau war mir unheimlich. Sie hatte so recht mit ihrer ersten Annahme. Aber es war natürlich auch etwas Besonderes, eine Freundin zu haben, die über den Tellerrand schaute und mich mit vielem erheiterte, neugierig machte, Diskussionen entfachte, vor allem aber bereicherte. Ich musste sie später schnell anrufen und sie auf dem Laufenden halten.

Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht, denn Azim meinte, es wäre Zeit für ein erfrischendes Bad in den Wogen des Atlantiks.

Er zog mich hoch, ich entledigte mich meines wunderschönen Gewandes und wir liefen in die Fluten. Wir alberten im Wasser herum, hatten so viel Spaß und Azim nahm mich in die Arme küsste mich. Salzig und gierig, nass und intensiv und unsere Lust aufeinander schien nie enden zu wollen. Azim hob mich hoch, ich schlang meine Beine um sein Becken, meine Arme umarmten seinen Nacken. Er war nicht nur mein Wüstenkönig, sondern auch mein Pirat, der mit seiner Stärke seine Braut auch in großen Gewässern beschützte. Die Wellen rollten um uns herum, so als wollten sie uns nicht stören, als wir uns in der Freiheit des großen Meeres erneut liebten.

Erst hinterher wurde uns bewusst, dass das, was wir da gerade gemacht hatten, ein waghalsiges Spiel war. Sex in der Öffentlichkeit in Marokko! Das hätte böse enden können, aber wir hatten Glück und niemand hatte uns entdeckt. Ich wünschte mir, dass uns für diese eine Woche weiterhin das Glück zur Seite stand.

Zum Trocknen legten wir uns unter die Sonne Marokkos. Ich fing ein wenig an zu träumen. Könnte ich es mir vorstellen, hier zu leben? Würde Azim dies wollen? Ich versuchte mir vorzustellen, wie unser gemeinsames Leben aussehen könnte. Was könnte ich hier arbeiten und würde uns der Alltag schnell einholen, oder war unsere Liebe, unsere Begegnung unser Wiedersehen in einem anderen Leben so stark, dass es unsere Zweisamkeit besonders machte?

Oder würde Azim sein Land aufgeben und zu mir kommen? Eine Möwe flog dicht über uns und schrie und holte mich aus meinen Überlegungen. Ich musste mich zur Vernunft rufen! Ich war erst den zweiten Tag hier, ich kannte noch fast nichts und auch wenn wir verrückterweise glaubten uns zu lieben, so wusste ich von ihm nicht viel. Ich musste so langsam mehr erfahren, obwohl ich spürte, dass Azim nicht gerne darüber sprechen wollte. Was konnte es so Schlimmes sein? Ich wollte es vielleicht nicht hören, aber ich musste. Ich beschloss, dieses Thema auf den Abend zu verlegen.

Azim schaute mich von der Seite an. „Woran denkst du Malak?“ Ich mochte es sehr, wenn er mich Malak nannte.

„Ich dachte gerade daran, dass du mir noch nicht viel von dir erzählt hast. Azim, ich würde gerne heute Abend beim Essen mehr von dir erfahren!“ Schon wieder schien sein Bick voll Schmerz zu sein.

„Ach Malak, natürlich werde ich dir von mir erzählen, aber lass uns doch erst einmal den Abend genießen. Wir wollten doch kochen. Wir haben doch noch Zeit miteinander …“ Warum wich er mir aus? Und wie schon so viele Male seit meinem ersten Besuch in Marokko und meinem Aufeinandertreffen mit Azim, schwankte meine Stimmung extrem. Eben noch machte ich mir erste, zarte Gedanken über ein mögliches Leben hier und nun wurde ich echt wütend. Auf diese Ausweichmanöver hatte ich nun keine Lust. Klar, dumme Kuh, die Wahrheit wird sein, dass das alles hier inszeniert ist, irgendwo wartete wohl doch eine Frau und Kinder. Ich sprang auf und ich konnte die Worte einfach nicht aufhalten. Ich blickte von oben auf ihn herab und fing fast an zu schreien: „Azim, was soll die Show hier, dieses ganze Blabla von Liebe und so! Du verheimlichst mir etwas und ich komme mir verdammt blöde vor! Wie konnte ich nur an echte Gefühle glauben? Ich höre schon das hämische Gelächter von den Leuten. Viele haben mich gewarnt - und RECHT hatten sie. Theater, alles nur Theater! Eine von vielen typischen Urlaubsflirtgeschichten und, ich tappe aber auch so was von mittenrein in die gespielte Liebelei! Gott, wo hast du mein Hirn gelassen? Und fühlst du dich gut, deinen Spaß gehabt zu haben!? Hast du vor deinen Freunden schon geprahlt, welch toller Hecht du bist und welch leichtes Spiel du bei mir hattest? Ich fasse es nicht! Ich …“ Azim war aufgesprungen und schüttelte mich an den Schultern und stoppte, ebenfalls aufgebracht, meinen Schwall von Anschuldigungen. „Nele! Hör auf! Was sagst du da, das ist doch nicht dein Ernst?! Nichts ist so, wie du denkst!“

„Ach, nee, fiel ich ihm ins Wort, WIE ist es denn? Glaub, nicht du kannst dich jetzt hier irgendwie rausreden!“ Meine ganze Irritation wegen dieser Gedankennebel, meine Ausflüge in die Vergangenheit, meine Gefühle zu Azim, diese überaus verrückte Geschichte - alles suchte sich ein Ventil! Azim sprach sichtlich aufgebracht weiter: „ICH muss mich hier mit gar nichts rausreden. Das Einzige was du tust, ist, mich hier zu verletzen! Was genau, habe ich dir getan?“

„Getan?!“, schrie ich weiter, „du verheimlichst mir etwas!

DAS ist es!“ Ich rannte ans Wasser. Herrgott, vor ein paar Monaten führte ich ein einfaches Leben, war normal glücklich und nun das hier! Ich gab dem Wasser einen kräftigen Tritt wie ein kleines, wütendes Kind, obwohl der Atlantik nun wahrlich nichts dafürkonnte.

Azim kam zu mir. Leise sagte er: „Nele, ich werde es dir heute Abend erzählen, versprochen! Und dann wirst du verstehen, warum ich damit noch warten wollte … Ich wollte dich nie belügen, ich wollte …“, er brach kurz ab. „Nele, meine Gefühle für dich sind übermächtig, egal was kommt! Wir haben eine besondere Geschichte, die unerklärlich erscheint und doch da ist. Noch gibt es außer deiner Freundin keinen, mit dem wir darüber sprechen können. Noch müssen wir allein damit klarkommen. Wir waren normale Menschen und dann passierte dies hier, es ist doch klar, dass man da schon mal austickt. In den letzten Monaten war mir schon des Öfteren danach, mal durchzudrehen! Lass uns nicht streiten, wie ein altes Ehepaar! Komm her, Wüstenkönigin.“

Er hatte recht, ich benahm mich unmöglich, aber die Sache war ja auch unmöglich. Ich drehte mich langsam zu ihm, schmiegte mich an ihn und fing an zu heulen. Nele, du bedienst aber auch alle Klischees einer durchgedrehten Alten, sprach ich still zu mir. Hör sofort auf, alles wird sicher gut. Zögerlich beruhigte ich mich, während Azim mich einfach nur festhielt.

Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, aßen wir etwas und starrten dabei still auf den Atlantik. Wie so oft in meinem Leben beruhigte mich der Anblick des Meeres. Diese Weite, der Blick, der durch nichts begrenzt wird, die Bewegung der Wellen, gleich und doch immer anders. Das Meer stand für mich als Konstante und doch war es immer in Bewegung. So sollte mein Leben auch sein. Nur dass im Moment die Konstante nicht mehr vorhanden war. Alles war aus dem Lot und ich hoffte sehr, alles würde sich bald richten.

Nach einer Weile brachen wir auf. Immer noch sprachen wir nicht viel miteinander. Ich spürte, der Abend verhieß nichts Gutes. Vielleicht hatte Azim recht und es wäre besser gewesen, diese Aussprache zu verschieben. Uns blieben doch sowieso nur wenige Tage. Auf der anderen Seite brachte das Aufschieben ebenso wenig, denn das Unausgesprochene würde zwischen uns stehen. Wir gingen zum Auto zurück und als wir eingestiegen waren, schaute Azim mir tief in die Augen. Sein Blick war so unendlich zärtlich und zugleich entdeckte ich wieder diesen tiefen Schmerz. In diesem Moment erfasste mich wieder der Gedankensog. Es waren dieses Mal keine Bilder, sondern ein solch starkes Gefühl, als würde es mich zerreißen. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden und als der Sog wieder weg war, zitterten wir beide. Azim hatte wieder das Gleiche erlebt. Wir nahmen uns wie Ertrinkende in die Arme und hielten uns fest, als wollten wir uns nie wieder loslassen. Ich weiß nicht, wie lange wir so verweilten. Wir achteten nicht auf unsere Umwelt und erschraken heftig, als jemand an unser Autofenster klopfte. Ein Mann empörte sich lautstark, gestikulierte heftig mit den Händen und schüttelte den Kopf. Azim fluchte auch in seiner Sprache, startete einfach den Motor und fuhr los.

„Idiot, verfluchter, depperter! Bei euch in Deutschland wäre eine harmlose Umarmung im Auto kein Problem. Wie so manches bei euch einfacher ist.“ Ich musste trotz allem lachen.

„Azim, ich könnte mich wegschreien, wie du auf Deutsch fluchst. Aber du hast recht, bei uns kann man öffentlich zeigen, dass man sich liebhat.“

Mit den Worten ‚bei euch‘ und ‚bei uns‘ wurde mir mal wieder allzu deutlich, was Sache war. Uns trennten Kultur und Religion und die Entfernung von einem Kontinent zum anderen. Während ich sinnierte, sprach er weiter: „Nele, ich kann übrigens in euren verschiedenen Dialekten fluchen. Des zeig i dir scho noo, mai des wiard a Spoass!“ Er grinste von einem Ohr zum anderen. Ich fing erneut an zu lachen.

„Bua, i soog dir woos, des moochst neet!“ Nun kringelte auch er sich vor Lachen. Unsere Stimmungen konnten irre schnell wechseln. Aber es war auch gut so, eben noch schien sich ein düsteres Gefühl durchzusetzen, aber nun war ein wenig Druck weg. Ich bekam kaum mit, dass wir schon wieder zurück in Agadir waren. Wir fuhren wieder durch das Gewirr der Stadt und erreichten einen riesigen Supermarkt namens Marjane.

Dieser Markt war sehr westlich. Obwohl ich mich wohlfühlte in Marokko und mit Azim, war ich irgendwie froh über ein bisschen Heimatgefühl. Hier bewegte ich mich auf vertrautem Terrain. Wir schnappten uns einen Einkaufswagen und ich ging mit ‚meinem Mann‘ einkaufen. So banal es klingt, aber ich mochte das Gefühl, ‚seine Frau‘ zu sein.

„Mylady, jetzt kaufen wir leckere Zutaten für eine Tajine.“

„Was brauchen wir dazu?“

„Es gibt ja verschiedene, aber heute brauchen wir Rindfleisch, Karotten, Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln und Oliven. Öl und Gewürze sind im Haus. Du wirst sehen, es schmeckt köstlich!“

„Ich bin gespannt und freue mich darauf. Azim, du hast wirklich eine bemerkenswerte Entwicklung gemacht vom Wüstenkrieger zum perfekten Hausmann!“ Azim schaute mich frech an: „Schade, dass ich dir hier keinen Klaps aufs Hinterteil geben kann, verdient hättest du es! Aber das werde ich nachholen! Versprochen!“

„Oh, DAS wirst du nicht wagen!“

„Ein Wüstenkrieger muss für eine gehorsame Frau sorgen, wart es ab!“ Bei den Gedanken an den Klaps hatte ich schon wieder nicht jugendfreie Szenen im Kopf. Ich sollte mich schämen, so mitten im Supermarkt, aber das tat ich natürlich nicht. Ständig hatte ich Lust auf Azim. Solche Anwandlungen waren neu für mich. In früheren Beziehungen war derartiges nicht so ausgeprägt.

Bepackt mit allerlei Köstlichkeiten fuhren wir zu unserem Zuhause auf Zeit. Wir verstauten erst einmal alles und während ich gerade im Schlafzimmer beim Wechseln meiner Garderobe war, kam Azim zu mir, warf mich aufs Bett und verpasste mir den angekündigten Klaps auf den Hintern. „So, du freches Weib, nun bekommst du deine verdiente Strafe!“ Und erneut liebten wir uns an diesem Tage heftig und intensiv. Er machte mich ihm untertan, und ich gab mich ihm hin mit allen Gefühlen, die mich mit ihm erfassten. Dem Spaß, der Lust, dem Schmerz, der Liebe …

Das Kochen mit ihm machte echt Spaß. Wir schnippelten zusammen und er führte mich in die marokkanische Kochkunst ein. Auch diese Erfahrung hatte etwas Sinnliches. Er wies mich immer auf die Gerüche hin, hielt mir die Gewürze unter die Nase und erzählte Geschichten zum marokkanischen Essen. Er konnte wunderbar erzählen, lebendig, lustig und facettenreich. Als alle Zutaten in der Tajine vor sich hin köchelten, goss er uns ein Glas Wein ein, legte eine moderne marokkanische CD auf. Er zog mich an sich und wir tanzten in der Küche. Eng aneinander bewegten wir uns, als wären unsere Körper eins. Als hätten wir schon so oft miteinander getanzt. Ich schmiegte mich an ihn, ich mochte seinen Geruch so sehr. Wir hielten uns fest umschlungen, als wollten wir uns nie loslassen. Plötzlich tauchte wieder der Nebel auf …

Wir waren allein in der Wüste, ziemlich weit weg von unserem Lager. Der Mond schien hell, die Sterne funkelten wie Brillanten am Himmel. Unsere langen Gewänder wehten im Wind. Auf der Anhöhe einer Düne fing mein Wüstenkönig an zu summen und tanzte mit mir in der klaren Wüstennacht. Wir waren anders als wohlfast alle unseres Stammes. Wir verbrachten die wenige Zeit, die wir hatten, gerne allein und taten Dinge, die andere nie zu machen schienen. Die anderen blieben oft in der Gemeinschaft. Man ließ uns, auch wenn wir merkten, dass man uns nicht ganz verstand. Selbst wir hatten uns schon oft gefragt, warum wir anders waren und wir unsere Liebe anders lebten als die anderen. Wir hatten das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Nicht besser als die anderen, wir wussten nicht genau, was es war…

Der Nebel zog sich zurück und obwohl noch die andere Musik lief, summte Azim diese Melodie aus der Anderswelt weiter. Ich schaute ihm tief in die Augen. Er nickte nur und flüsterte: „Malak … Malak … ich habe dich wieder …“ Er vergrub sein Gesicht in meinem Haar und seufzte. In diesem Moment fragte ich mich, wie ich mit diesen Erlebnissen noch normal weiterleben könnte. Würde ich es schaffen, in ein paar Tagen wieder die alte Nele zu sein?

Ich befürchtete, so einfach würde es nicht werden, zumal ich nur Katja hatte, mit der ich vorerst darüber reden konnte.

Azim ließ mich los und schaute auf die Uhr. Wir waren anscheinend eine ganze Weile in unser altes Leben eingetaucht. Das Essen roch schon köstlich, mir knurrte der Magen. Azim hob den Tondeckel des Gefäßes ab um zu probieren.

„Es dauert nicht mehr allzu lang, noch ein Glas Wein und wir können essen.“ Ich genehmigte mir eine Zigarette, nahm mein Glas und stellte mich in den Hof. Ich roch Agadir. Ein Geruch der undefinierbar war. Azim deckte draußen den Tisch. Hier im Hof konnten wir ungestört sein, niemand konnte hier einsehen. Wieder gestaltete er alles sehr liebevoll. Kerzen wurden angezündet, Servietten gefaltet und Blütenblätter verstreut. Ein Traummann, aber ob er im Alltag auch so sein würde? Sicher nicht, ich durfte mich nicht dieser Verblendung hingeben.

Formvollendet, wie ein Ober brachte er das Essen in den Hof. Auf dem Tisch gab es keine Teller und auch kein Besteck. Nur weißes Brot. Er zeigte mir wie man mit dem Brot aß. Es wurde nur die rechte – reine - Hand benutzt. Das Brot wurde in kleinen Stückchen abgeteilt und man formte es so, dass man es zwischen Daumen und Fingern hat, fast wie eine Miesmuschel. Damit nahm man sich dann das Essen und aß es zusammen mit dem Brot. Wir aßen, wie dort üblich gemeinsam aus einem Topf.

„Du machst das, als würdest du immer so essen.“

„Ja, erinnere dich, vor vielen, vielen Jahren da habe ich wohl immer so gegessen …“ Ich grinste.

„Ich vergaß, mein Gegenüber ist meine Wüstenkönigin.“ Er grinste ebenso. Während wir gemütlich weiter in kulinarischen Köstlichkeiten schwelgten, unterhielten wir uns über unsere eigenen Essensgewohnheiten und die unserer Länder.

Nach diesem köstlichen Mahl räumten wir ab. Azim schenkte uns Wein nach. Ein paar Minuten saßen wir schweigend im Hof. Wir wussten, nun kam der unangenehme Teil des Tages. Ich spürte, dass Azim wusste, dass das, was er nun erzählte, nicht mehr aufzuhalten war. Er nahm tief Luft, seufzte und fing an zu sprechen.

„Ich wurde als drittes von vier Kindern geboren. Ich habe einen älteren Bruder, Said, eine ältere Schwester, Fatma und einen jüngeren Bruder, Rachid. Wir wurden alle in kurzen Abständen von zwei Jahren geboren, für meine Mutter bestimmt sehr anstrengend. Mein Vater betrieb mit einem Cousin ein Teppichgeschäft in Agadir. Uns ging es einigermaßen gut. Wir bewohnten auch damals schon unser Haus am Stadtrand. Es war eng, aber wir gingen ganz gut miteinander um. Dann wurde mein Vater krank. Sein Herz war nicht mehr so belastbar. Er konnte kaum noch arbeiten. Meiner Mutter war es wichtig, dass wir zur Schule gehen konnten und eine gute Ausbildung machten. Darum fing sie an, als Haushälterin Geld zu verdienen. Meine Eltern führten bis zu dieser Zeit eine Ehe ohne allzu große Probleme. Doch mit zunehmender gesundheitlicher Einschränkung meines Vaters, arbeitete meine Mutter immer mehr. Sie machte ihre Arbeit gut und hatte Anstellungen in mehreren reichen Haushalten. Hin und wieder bekam sie dort auch Geschenke und wir freuten uns immer sehr, wenn sie etwas mitbrachte, denn oft war es auch für uns Kinder. Mein Vater kam immer weniger mit dieser Situation zurecht. Er fühlte sich nutzlos und unfähig seine Familie zu ernähren. In dieser Hinsicht war es früher bei uns sehr traditionell. Anfangs übernahm er zähneknirschend einige Hausarbeiten, aber irgendwann hörte auch das auf. Meine Mutter, die sich zwar im Alltag den Traditionen unterwarf, war aber teilweise in ihrem Denken ein Freigeist. Sie versuchte meinem Vater immer wieder klarzumachen, dass er nicht unfähig sei, sondern leider krank und dass es normal sei, sich gegenseitig zu unterstützen.

Er konnte das nicht so sehen und wurde immer verhaltensauffälliger. Seine Stimmungen schwankten zwischen depressiven und aggressiven Phasen.

Um uns dieser Situation nicht komplett auszusetzen, übernahm die Schwester meiner Mutter immer mehr unsere Betreuung. So wurde auch das Verhältnis zwischen der Tante und ihren Kindern zu uns sehr eng. Meine Tante hatte zwei Töchter. Ebenso wie meine Mutter, legte sie Wert auf Bildung und die ließ sie den Töchtern zugutekommen. Meine Kusine Sonya war sehr wissbegierig. Jamila, ihre Schwester lernte zwar auch, aber eher nur, weil sie musste. Sie hatte keinen Ehrgeiz, selbstständig zu leben. Sie wollte eine Familie gründen. Sonya hingegen, war schon immer ein Dickkopf und wollte nie abhängig sein. So verlebten wir sechs unsere Jugend und fühlten uns bald wie eine Familie. Nach und nach verließen wir unsere kleine Welt, um unsere Ausbildungen zu beginnen. Meine Mutter arbeitete weiterhin sehr hart, um uns dieses zu ermöglichen. Sie erduldete meinen Vater, ihr ging es nur um unser Glück. Wir Kinder wussten das zu schätzen und strengten uns an. Mein Bruder Said und ich machten beide das Abitur und gingen nach Casablanca, um zu studieren. Er studierte Medizin, ich Germanistik. Meine Schwester wurde durch meine Mutter in einen Haushalt vermittelt und weil sie Bildung hatte, wurde sie mit der Betreuung der Kinder beauftragt inklusive der Hausaufgabenbetreuung und weiterer Bildungsangebote. Diese Familie zog später nach Tanger und meine Schwester ging mit. Mein kleiner Bruder fing erst als Arbeiter in einer hier ansässigen französischen Firma an, wurde dort gefördert und ist nun Ingenieur dort. Mein älterer Bruder bekam, so wie ich, ein Stipendium, um in Deutschland an einem Studentenaustausch teilzunehmen. Er verliebte sich dort in eine Spanierin, die ebenfalls Teilnehmerin an diesem Austausch war. Nach vielem hin und her und Schwierigkeiten konnten die beiden doch heiraten. Mein Bruder lebt heute in Barcelona. Rachid ist ebenfalls weg, man bot ihm eine Stelle in Canada an, wo seine Firma eine Niederlassung hat. Meiner Mutter blutete das Herz, als drei ihrer Kinder weg waren. Obwohl sie die Möglichkeit hätte, ihre Kinder zu besuchen, weigert sie sich beharrlich. Als ich sie einmal darauf ansprach, warum dies für sie so unmöglich sei, antwortete sie mir, sie fürchte zum einen meinen Vater, der damit überhaupt nicht zurechtkäme, obwohl er sich gar nicht mehr für uns interessiert. Zum anderen habe sie den Verdacht, dass sie dieses Leben hier nicht mehr ertragen könne, wenn sie erst einmal etwas anderes gesehen hätte. Auf meine Frage, was denn daran so schlimm wäre, wenn sie wegginge, nahm sie mich in den Arm und schluchzte: „Azim, ich bin Marokkanerin, ich bin schon alt. Ich habe Angst vor Neuem. Ich hätte Angst ohne meine Familie, ohne meine Freunde, ohne das Vertraute! Azim, du wirst doch bleiben? Es würde mir das Herz brechen, wenn auch du gingst.“ Meine Mutter, die so viel für uns getan hatte, nein ich wollte sie nicht verletzen. So blieb ich und beendete mein Studium. Da an einen langen Auslandsaufenthalt nicht zu denken war, wollte ich als Reiseleiter meine Sprachkenntnisse anwenden und vertiefen. Eigentlich wollte ich später als Lehrer am Gymnasium arbeiten. Aber irgendwie blieb ich dabei. Dadurch, dass ich nun schon ein alter Hase im Geschäft bin, ist mir diese Stelle auch ziemlich sicher, was hier in Marokko auch nicht das Schlechteste ist.“

Er machte eine Pause. Ich sagte nichts. Nachdem er einen Schluck Wein genommen hatte, sprach er weiter: „Eines Tages, meine Mutter hatte gerade wieder einen schlimmen Wutanfall meines Vaters über sich ergehen lassen, sprach sie mich an. Es begann harmlos. „Azim, wie kommst du eigentlich mit Jamila aus? Magst du sie und findest du sie hübsch?“ Ich ahnte nichts Gutes. Aber da ich es meiner Mutter an diesem Tag nicht noch schwerer machen wollte, antwortete ich: „Klar, mag ich Jamila. Wir fühlen uns fast wie Geschwister. Und hübsch? Hm … nein, sie ist nicht hässlich, sie könnte mehr aus sich machen, zumal sie bei einem Kosmetiker arbeitet. Leider ist sie sehr interessenlos.“ „Naja, eine gute Frau kann man doch deswegen trotzdem sein und eine gute Mutter auch. Das Wichtigste ist doch ein gutes Herz.“ „Mutter, sicher hast du recht, aber worauf willst du hinaus?“ Meine Mutter wand sich. „Naja, Azim, weißt du … nachdem du nun eine gute Arbeit hier hast, habe ich zusammen mit meiner Schwester und deinem Onkel überlegt … “

Er schaute mich an. „Nele, ich konnte doch nicht wissen, was mir da noch im Leben passiert. Dass du in mein Leben trittst, dass ich einmal eine Frau, die ich kaum und doch so gut kenne, lieben werde!“

Wieder entstand eine, diesmal schmerzhafte, Pause. Ich spürte, wie mir schlecht wurde und mein Magen anfing zu krampfen. Leise sprach er weiter. „Man hatte Jamila mir versprochen … Ich war damals erst sprachlos, auch geschockt. Nie hätte ich gedacht, dass meine Mutter so etwas macht. Ich bat meine Mutter um etwas Zeit und je mehr ich darüber nachdachte kam ich zu dem Entschluss, dem Ganzen zuzustimmen. Nele, ich dachte damals, eigentlich bin ich verrückt, denn auch ich wollte irgendwann mal den Absprung schaffen. Ich wollte nicht ewig als Reiseleiter unterwegs sein. Ich wollte auch woanders Leben. Schon in Casablanca und in Deutschland erschloss sich mir eine andere Welt. Andererseits wollte ich meiner Mutter nicht weh tun und dachte, naja Jamila ist ja ganz okay. Wir werden schon miteinander auskommen. Sie hatte doch nur den Anspruch Ehefrau und Mutter zu sein. Und ich wäre ja viel unterwegs. Sie wusste das und würde nicht dauernd jammern, wie manch andere Frauen. Also …“ Er stand auf, kam zu mir, zog mich vom Stuhl hoch, nahm mich in den Arm. „Malak, ich liebe dich! Aber … ich bin so gut wie verlobt und das ist nicht mehr zu ändern … Ich werde Jamila heiraten.“ Mein Verstand machte sofort dicht. Ich befreite mich aus seinen Armen. Ich lief zum Tor, lief auf die Straße. Azim stürzte hinter mir her.

„Wo willst du hin? Es ist dunkel!“

„Ich will zum Flughafen! Lass mich gehen!“ Er wusste, es nütze nichts, mich nun aufzuhalten, ich hätte eine Riesenszene gemacht. Er sagte nur: „Warte einen Moment!“ Lief ins Haus und kam mit meinem Handy zurück. Ich riss es wütend an mich und rannte weg. Erst später wurde mir bewusst, dass er wusste, ich würde ja zurückkommen müssen und da wäre es besser, ich könnte anrufen. Ich hatte weder Papiere noch Geld, Ticket oder Gepäck bei mir. Ich lief und lief durch fremde Gassen und Straßen. Es war mir egal, wie spät es war, ob Abend, Nacht oder Morgen, ob Sommer oder Winter - ich wollte nur weg! Es waren noch viele Menschen unterwegs, hier fand noch Leben draußen und am Abend statt. Schon bald wusste ich nicht mehr, wo ich war. Die Menschen schauten mich verwundert an und ich dachte in diesem Moment nur noch ungerechterweise: DIE SIND DOCH ALLE BEKLOPPT HIER! RÜCKSTÄNDIGE! WIR LEBEN DOCH NICHT MEHR IM MITTELALTER! EHEN ZU ARRANGIEREN! UND DANN AUCH NOCH ZU MEINEN, SIE WÄREN AUF DEM WEG, EINE AUFGESCHLOSSENERE GESELLSCHAFT ZU WERDEN! PAH! LÄCHERLICH! ABSURD!!! Mein Einfallsreichtum, was die Gemeinheit meiner Gedanken anging, schien keine Grenzen zu haben. Selbst einen Taxifahrer anzubrüllen, der neben mir hielt und mich höflich fragte, ob ich mitfahren wolle, war mir nicht zu peinlich. Ich schrie ihn stellvertretend für Azim und alle Marokkaner an. Kopfschüttelnd fuhr er davon und ich trug mit meinem Verhalten sicher nicht dazu bei, die Deutschen in einem guten Licht erscheinen zu lassen. Wahrscheinlich hatte ich sogar Glück, dass er mir nicht die Polizei auf den Hals hetzte, um diese Irre einzusammeln.

Irgendwann gelangte ich auf meinem Irrweg an den Strand. Erst der Anblick des Meeres verhalf mir, mich minimal zu beruhigen. Doch kaum lief ich mit energischen Schritten durch den Sand weiter, kam die geballte Ladung an Wut wieder auf, als ich meinen sicher schon hochroten Kopf hob und am Felsen die Inschrift sah: GOTT - VATERLAND UND KÖNIG. Ja du König, mach nur weiter mit deiner Inzucht, wirst schon sehen, was du davon hast! In diesem Moment klingelte mein Handy. Ich erschrak, denn dachte ich doch, es sei Azim. Der kann mich mal und ich drückte weg. Kurz darauf klingelte es wieder. Das gleiche Spiel. Beim vierten Versuch war ich genervt, nahm den Ruf an und brüllte ins Handy: „WIR SIND FERTIG MITEINANDER! GEH ZU JAMILA UND VERGISS NICHT, SIE HERZLICHST VON MIR ZU GRÜßEN UND DANN FAHR ZUR HÖLLE!!!“

Ich wollte gerade wieder auflegen, als ich eine Frauenstimme hörte.

„Nele, was zum Teufel ist los?“ Katja! Sofort fiel ich wie ein Häufchen Elend zusammen und ließ mich in den Sand plumpsen. Dann fing ich erst mal an zu heulen und versuchte währenddessen Katja zu erzählen, was vorgefallen war. Nur mit Mühe konnte sie meinem verwirrten und schluchzenden Gestammel folgen, aber irgendwann verstand sie. Als ich mich nicht beruhigen wollte, schrie sie mich an: „Nele, hör sofort auf und hör mir zu!“ War DAS meine treue Freundin, die mich da so anmachte? Aber ihre Lautstärke verfehlte ihre Wirkung nicht und ich hörte schlagartig auf.

„Nele, du hörst mir jetzt ohne Widerrede zu, denn sonst kostet mich das Telefonat Unsummen und ich muss Insolvenz anmelden!“ Ohne Widerrede fiel mir echt schwer.

„Süße, wenn ich dich eben richtig verstanden habe, dann kannst du jetzt wütend, traurig sein und ich gebe dir recht, das ist echt ganz schlimmer Mist. Aber du kannst Azim nicht die Schuld geben. Was hätte er denn anders machen sollen? Wer konnte denn mit so einer außerordentlichen, eher filmreichen Geschichte rechnen? Ich kann dir gerade keine Lösung bieten, auch wenn ich das gerne täte, aber geh zurück. Das ist doch alles zu schnell und zu frisch, als dass man wissen könnte, wie es nun weitergeht! Mach jetzt keinen Scheiß, hörst du?!“ Kleinlaut antwortete ich: „Du hast recht“, und während ich das sagte, fing ich schon wieder an zu heulen.

„Nele, heul dich ruhig aus, aber bitte geh gleich zurück und dann rufst du mich kurz an! Ja?“ Schniefend sagte ich zu. Sie umarmte mich fest durchs Handy und versicherte mir, wir fänden schon einen Weg, damit ich nicht ins Bodenlose fallen würde. Es tat gut, zu wissen, dass sie, egal was passierte, zu mir stand.

Ich versuchte mich zu beruhigen, atmete mindestens tausend Mal tief ein und aus, als würde die Meeresbrise die Lösung bringen. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel mit der Bitte, alles würde doch noch irgendwie gut. Zitternd wählte ich Azims Nummer. Er nahm ab und klang erst einmal erleichtert, aber auch er hörte sich verschnupft an.

„Nele, wo bist du?“

„Ich bin am Strand. Warte ich gehe ein paar Meter Richtung Straße. Ich scheine Nahe dem Vogelpark zu sein.“

„Warte am hinteren Eingang, ich komme sofort!“

Als ich sein Auto erblickte, war ich trotz meiner aufgewühlten Stimmungslage erleichtert. Nachdem ich eingestiegen war, bemerkte ich seine geröteten Augen. Auch er hatte geweint. Ohne ein Wort zu sagen, fuhr er zum Haus zurück. Auch ich war sprachlos. Es schien, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Es war alles klar. Unsere Wege würden sich trennen. Vielleicht schon morgen früh, spätestens in ein paar Tagen. Mir wurde schlagartig klar, dass ich die vielleicht wenigen Stunden, die uns blieben, intensiv erleben wollte. Der Schmerz später würde riesig sein, daran würde sich so oder so nichts ändern. Ich hatte, wie schon ein paarmal in der kurzen Zeit, die wir miteinander verbrachten, das Gefühl, zu spüren, dass es ihm ähnlich erging wie mir. Bevor ich reinging, rief ich Katja wie versprochen an.

„Süße, ich bin zurück. Ich mach keinen Unsinn mehr!“

„Ich drück dich. Alles wird gut!“ In diesem Moment wurde mir erst richtig bewusst, wie leichtsinnig ich gehandelt hatte. Einfach wegzulaufen, im Dunkeln … Trotzdem hätte mich vorhin keine Macht der Welt aufhalten können. Zu groß der Schmerz, die Wut, die Ohnmacht! Und es ging ja gut aus. Ich war wieder zurück.

Azim stand hilflos im Flur und als ich ins Haus kam gingen wir immer noch schweigend ins Schlafzimmer. Wir rissen uns die Kleider vom Leib, wir stürzten uns wie Ertrinkende aufeinander, wir liebten uns weiter, immer weiter, wir ließen nichts aus, wir verloren sämtliche Hemmungen, wir taten uns weh, ohne uns zu verletzen, wir waren heftig, ohne unsere Zärtlichkeit zu verlieren, wir glaubten zusammen fast Sterben zu müssen, wir konnten fast nicht mehr und machten dennoch weiter - solange wir uns liebten, hörte es mit uns nicht auf. Und doch war es irgendwann vorbei. Ich dachte, nichts ist an meinem Körper mehr an seiner richtigen Stelle, ich fühlte mich malträtiert, aber es war richtig so. Der körperliche Schmerz überdeckte den seelischen Schmerz, wenigstens für eine Weile. Wir lagen beieinander, sprachen kein Wort und irgendwann schliefen wir eng umschlungen ein. Die Ereignisse des Tages forderten ihr Tribut.

Ich schlief unruhig, ich träumte von meiner Heimreise. Ich flog nach Hause und war in Marokko. Ich bestieg wieder den Flieger Richtung Nordafrika und landete in Deutschland. Ich war verwirrt und flog ständig hin und her. Nie war ich richtig dort, wo ich ankam. Irgendwann am Morgen erwachte ich und fühlte mich fix und fertig vom dauernden nächtlichen hin und her irren. Azim lag neben mir, immer noch den Arm fest um mich geschlungen. Auch er schlief unruhig. Er sprach im Schlaf: „Nein, nein! Wo ist meine Frau? Malak!?“ Ich wusste, er litt auch unter den Umständen. Diese wenigen gebrabbelten Worte ließen mich seltsam ruhig werden. Er schien keinen Ausweg zu sehen, auch ich nicht. Was hatte ich geglaubt? In ein Märchen gelangt zu sein mit ‚Happy End‘? Ich wusste nicht, was nun werden würde, aber in diesem Moment beschloss ich, diese Tage, die mir mit ihm blieben voll auszukosten, wenn er es auch so wollte und nicht an die Abreise zu denken. Nele, sagte ich mir, du musst nun mal wieder die sein, die du mal warst. Komm mal wieder runter auf den Boden der Tatsachen und willkommen in der Realität. Auch wenn diese Geschichte unglaublich war, mit allem, was dazu gehört, es bleibt eine unglaubliche Geschichte und nicht mehr. Punkt! Ausrufezeichen! Basta! Keine Diskussion! Ich schmiegte mich enger an ihn und war für diesen Moment mit mir zufrieden, wie nüchtern und konsequent ich doch sein konnte. In diesem Moment klingelte mein Handy - gefühlt schriller als sonst - meine Mutter. Ich hatte gestern nicht daran gedacht, meinen Beruhigungsanruf zu tätigen. Azim schreckte auf, ich lächelte ihn an: „Meine Mutter.“

„Himmel, mein Herz … ich war mitten im Traum …“

Ich ging ran. „Morgen Mama.“

„ICH DACHTE SCHON, ES WÄRE WAS PASSIERT! DU HAST GESTERN NICHT ANGERUFEN!!!“ Ich bereute schon sehr, diesen Deal des täglichen Anrufs mit ihr gemacht zu haben.

„Ja, Mama, sorry, war gestern früh im Bett und hab es vergessen.“

„IST DIR NICHT GUT, WEIL DU FRÜH IM BETT WARST???“

„Nee, einfach so, war viel spazieren und war einfach platt.“ In diesem Moment musste Azim husten. Er bemühte sich noch, es zu unterdrücken und schnell den Raum zu verlassen, aber es war zu spät.

„NELE, IST JEMAND BEI DIR???“

„Nein Mama, ich habe das Fenster offen, das kommt von draußen.“

„PASS NUR AUF, DASS NIEMAND EINSTEIGT!!!“ Puh!

„Nein Mama, da sind Gitter vor.“

„DANN IST ES JA GUT!“ Ich kam mir vor wie ein kleines Mädchen. Wie schaffte sie das immer wieder und warum stellte ich nicht endlich neue Regeln auf? Das Leben war aber auch nicht einfach!

„Mama, ich frühstücke jetzt mal. Ist bei Papa auch alles ok?“

„DENK DARAN, NUR ABGEKOCHTES!!! UND PAPA IST AUCH FROH, WENN DU ZURÜCK BIST!“

„Ja, ist gut! Dann mal tschüss, bis morgen.“

„PASS GUT AUF! UND VERGISS NICHT MORGEN ANZURUFEN!“ Und wenn schon, die Frau Mutter würde schon für den nötigen Informationsfluss sorgen! Ich drückte weg. Trotz der angespannten Situation stand Azim, der inzwischen aufgestanden war, grinsend in der Tür.

„Du hast es echt nicht einfach, mit deiner Mutter.“

„Du auch nicht!“ Es kam bissiger als gewollt und er wusste, was ich meine. Azim kam zu mir.

„Guten Morgen Wüstenkönigin! Bitte bestrafe mich nicht für eine Vergangenheit, für die ich nichts kann und in der es dich und uns nicht gab.“ Er schaute mich sanft an.

„Du hast ja recht. Es tut mir leid. Guten Morgen mein Wüstenkönig!“ Wir küssten uns.

„Nele, ich weiß doch selbst nicht mehr, wie das weitergehen soll. Ich kann und möchte meiner Mutter nicht das Herz brechen und sie dieser Schmach einer geplatzten Hochzeit aussetzen. Ich möchte aber auch dich nicht verlieren und ich kann mir unter diesen neuen Umständen kein anderes Glück, als das mit dir vorstellen. Auch wenn du es nicht verstehst, auch wenn ich sicher ein modern denkender Mensch bin und selbst meine Familie nicht rückständig ist, dieses Wort, das ich gegeben habe, ist fest. Das unterscheidet uns eben auch. Für euch ist so etwas nicht vorstellbar. Hier hat Familie und Tradition eine andere Bedeutung. Und wenn ich für Jamila nur Sympathie empfinde, so hat sie es dennoch nicht verdient, einfach sitzen gelassen zu werden. Und wissen wir trotz aller Gefühle, ob wir wirklich zusammenleben können. Wir kennen uns, zumindest in diesem Leben, noch kaum. Wer würde für den anderen alles aufgeben, würden wir gemeinsam irgendwo neu anfangen und alles aufgeben. Es ist doch viel zu früh, an all so etwas zu denken. Wir müssten uns beide in neuen Kulturen einfinden. Nele, ich habe einen Entschluss gefasst und ich hoffe, du kannst ihn mittragen. Ich kann nicht sagen, was die Zukunft bringt. Im Moment sehe ich keinen Ausweg, aber ich möchte diese Zeit mit dir genießen, ich möchte dich nie verlieren, aber ich weiß, dies alles könnte zu viel verlangt sein!“

„Ach Azim, was soll ich sagen. Es stimmt ja. Ich habe eben auch daran gedacht, diese Zeit, die uns bleibt, harmonisch mit dir zu verbringen. Ich habe irrsinnige Angst, was danach kommt, aber noch ist nicht danach!“

„So ist es! Nele, ich drehe bei dem Gedanken an das ‚danach‘ auch fast durch, aber genau, noch ist es nicht so weit!“

Wir kuschelten uns aneinander, streichelten uns unendlich zärtlich und sanft. Ich atmete seinen Duft ein, ich schloss die Augen, um mir jede Faser seines Körpers einzuprägen. Mehr als die Erinnerung an diese Momente würde es nicht geben. Ich hoffte, mein Hirn würde ein neues Areal einrichten, das nur für Azim gedacht war. Dort sollte alles so gespeichert werden, dass alle Empfindungen mit ihm lebendig blieben. Ob ich mich noch einmal mit einem anderen Mann einlassen könnte? Ich glorifizierte Azim nicht, aber annähernd etwas Ähnliches mit jemand anderem zu erleben, schien unmöglich. Vielleicht musste ich genauso mit einem Kompromiss leben, wie Azim. Aber ich empfand dies im Gegensatz zu ihm als nicht fair für den Partner.

„Azim, woran denkst du?“

„Ich denke nicht, ich male. Ich male mir in Gedanken ein Bild von dir, um es immer bei mir zu haben und immer spüren zu können.“

„Es ist nicht fair, dass wir uns gefunden haben und so schnell wieder hergeben müssen.“

„Nein Malak, das ist es wahrlich nicht.“ Azim atmete tief ein und aus, wälzte sich energisch aus dem Bett, gerade so, als ob er damit den eben gefassten Beschluss unterstreichen wollte.

„Bleib liegen Wüstenkönigin, bis dein ergebenster Diener dich zur Frühstückstafel ruft. Ich bin gleich wieder da!“

Ich hörte, wie er unter die Dusche stieg und zwang mich dazu, ihm nicht zu folgen. Ich würde am liebsten jede Minute mit ihm verbringen. Allein der Gedanke mit ihm zu duschen, erregte mich schon wieder so irrsinnig stark. Wie sollte ich je wieder solche Lust empfinden können? Dieses Empfinden mit ihm war so völlig anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Ich war überzeugt davon, dass es nur mit unserem Erlebten der Vergangenheit zusammenhängen konnte. Ja, nur dies war die Erklärung. Auch wenn es insgesamt für diese merkwürdigen Vorgänge noch keine Antwort gab. Ich schaute mich im Raum um. Durch das verschnörkelte Gitter des Fensters sah ich den strahlend blauen Himmel Marokkos. An den weißen Wänden hingen mehrere, relativ kleine Bilder von Wasserfällen, Flüssen und dem Meer. Alle in furchtbar kitschigen Farben, umrahmt von verschnörkelten, goldfarben Plastikrahmen. Vor der Wand gegenüber dem Fußende des Bettes stand eine dunkelbraune Kommode mit dem Fernseher. Auch dort stand eine Ansammlung von Kitsch. Ein weißes Porzellanpferd mit goldener Mähne, welches sich aufbäumte. Daneben ein Körbchen mit den anscheinend heißgeliebten künstlichen Blumen in den grellsten Farben. Auf der anderen Seite des Fernsehers schmückte ein asiatischer Kerzenständer das Möbelstück. Zwischen Kommode und Bett stand ein niedriger Tisch. Darauf befanden sich mehrere bunte Gläser für Teelichter. Bestimmt stammten sie von Azim, denn sie waren modern und geschmackvoll. Ein Aschenbecher, die Schale mit den Blütenblättern und mehrere Bücher lagen ebenfalls darauf. Auch ich hatte einige Utensilien achtlos auf den Tisch geworfen. Meinen Tabak, meine Handtasche, aus der schon die Hälfte herausfiel. Erst jetzt beachtete ich dieses Zimmer so richtig. Nun bemerkte ich auch das stoffbezogene bunte Bett, die Polyesterüberdecke im Zebradesign. Wirklich so gar nicht mein Geschmack und doch fühlte ich mich in alledem wohl, zu Hause …

Mein normales Leben in Deutschland war so weit weg. Ich konnte mir an diesem Morgen nicht vorstellen, wie alles weitergehen sollte. Das merkwürdige an der Sache schien, dass ich in Marokko kaum an mein normales Leben dachte, in Deutschland mich Marokko aber nicht losließ. Aber trotz dieses Mannes, trotz unserer möglichen gemeinsamen Vergangenheit, trotz der Verbundenheit zu diesem Land, könnte ich, wenn es möglich wäre, alles zurücklassen? Meine Familie, meine Freunde, ja sogar meine Arbeit, meine Kollegen? Klar, Marokko war jetzt nicht am Ende der Welt, sicher würde ich immer mal wieder Besuch bekommen und ich könnte auch nach Deutschland fliegen. Aber würde das Geld, das ich oder wir hier verdienen würden, überhaupt reichen? Und was zum Teufel würde ich überhaupt hier arbeiten können? Zudem wären da auch noch Sprachkenntnisse zu erwerben. Würde ich ohne die Treffen mit meinen Freundinnen leben wollen. Diese verrückten Hühner, die endlosen Gespräche, spontane Shoppingtouren, Tanzabende, Kinobesuche und was wir sonst noch so viel Schönes miteinander machten. Ich würde auf jeden Fall kulturelle Ereignisse vermissen, Konzertbesuche, Ausstellungen und vieles mehr. Solche Dinge gab es hier in dieser Form nicht. Was würde ich ohne Buchhandlung machen? Bücher lesen und kaufen, stöbern - das war doch so wichtig für mich. Es gab keine Flohmärkte und … und. Ach, was machte ich mir überhaupt Gedanken, war doch eh hinfällig. Irgendwie war die Endgültigkeit von Azims Aussage noch nicht bei mir tief drinnen angekommen, es gab einen Teil in mir, der dies noch nicht wahrhaben wollte.

In diesem Moment kam Azim herein, in seinem Gesicht spiegelte sich eine fast jungenhafte Freude.

„Meine Wüstenkönigin, das Morgenmahl ist zubereitet. Dein treuer Diener möchte dich zur Tafel geleiten. Er hatte sich eine Djellaba übergezogen. Ich schlüpfte aus dem Bett und wollte mir gerade ein Kleid überwerfen, als er zu mir trat und mir ins Ohr hauchte: „Nein Malak, heute Morgen brauchst du ein anderes Gewand.“ Er nahm meine wunderschöne grüne Djellaba vom Bügel und streifte sie mir zärtlich über den Kopf. Er nahm mich in den Arm und während wir uns festhielten, erfasste uns wieder dieser Nebel …

Ich hörte ihn sprechen: „Komm, wir wollen essen. “ Er nahm mich bei der Hand, wir gingen aus dem Zelt. Nicht weit vom Lager entfernt gab es eine Felswand mit einem kleinen Plateau. Er ging vor und zog mich herauf. Dort hatte er auf einem Teppich die Tafel gedeckt. „Mein Wüstenkönig, welch wunderschöne Überraschung!“ …

In diesem Moment verzog sich der Nebel. Wir waren verwirrt, denn während wir gedanklich in der ‚Anderswelt‘ waren, hatten wir uns vom Schlafzimmer zum Innenhof bewegt.

Dort hatte Azim einen Teppich ausgebreitet und die Frühstückstafel darauf gedeckt. Um den Teppich herum hatte er Blüten gestreut. Ich war beeindruckt und zugleich durcheinander. Wie konnte das alles sein? Was ging hier vor? Anscheinend lebten wir Passagen unseres früheren Lebens nach, oder andersherum erinnerten wir uns durch gewisse Dinge an früher. Ich lächelte ihn an. „Ich liebe es!“ Er erwiderte: „Das freut mich, dass du ES liebst. Liebst du auch MICH?“

„Ja … ja Azim das tue ich, das weiß ich ganz sicher!“

„Ich liebe dich auch Nele! Ich bin mir da auch sicher! Nele, wie sind wir hier hingekommen. Wir waren im früheren Leben, nicht wahr? Wir gingen zum Frühstücken auf einem Felsplateau …“

„Ja, so war es und es gibt irgendeinen Zusammenhang zwischen diesem und dem anderen Frühstück. Und irgendwie vermischen sich da ein bisschen Zeit und Raum … ach Azim, ich wünschte, wir hätten eine Erklärung!“

„Nele, irgendwann werden wir vielleicht eine bekommen. Es ist aber schon gut, dass wir diese Ereignisse zusammen erleben. Entweder gibt es eine Wahrheit oder wir sind eben beide verrückt! Hauptsache, wir stehen damit nicht allein.“

„Stimmt, aber wie fühlt es sich für dich an? Echt oder anders?“

„Es fühlt sich echt an. Und ich möchte auch daran glauben, wenn auch der Verstand oder die Wissenschaft dagegenhalten. Es ist unsere Wahrheit, die wir gemeinsam fühlen. Und nun, bevor die Sonne Nordafrikas immer heißer wird und dein Brot verbrennt, lass uns frühstücken.“

Wir ließen uns auf dem Teppich im Schneidersitz nieder. Ich fühlte mich zum wiederholten Male so richtig. In dieser Kleidung, auf dem Teppich, mit diesem Mann, in diesem Land.

Das Essen schmeckte schon so vertraut. Wie würde es in ein paar Tagen sein? Konnte ich mich wieder über all die Dinge freuen, die mein bisheriges Leben ausmachten? War auch mein Leben in Deutschland normal? Hatte ich tatsächlich zwei Leben, oder noch mehr? Konnten sie nebeneinander bestehen? Nun, ich würde es sehen. Jetzt erst einmal wollte ich dieses großartige Frühstück genießen. Und diesen Mann, der sich solche Überraschungen ausdachte.

Nachdem wir gefrühstückt hatten, trugen wir gemeinsam wieder alles ins Haus und spülten rasch das wenige Geschirr. Als alles weggeräumt war nahm mich Azim bei der Hand, zog mich ins Schlafzimmer. Er legte sich auf das Bett, schob seine Djellaba nach oben. Er forderte mich auf, das Gleiche mit meiner zu tun. Ich liebte den Anblick seiner Erregtheit und setzte mich wortlos auf ihn. Ich bewegte mich langsam und mit völligem Genuss. Ich ließ mir viel Zeit und ich spürte, dass es uns beiden gleich ging. Wir wollten alles, was wir spürten irgendwie speichern. Nie hätte ich geglaubt, dass die Körper zweier Menschen so füreinander gemacht sein konnten. Wir versuchten, unseren Höhepunkt endlos lange hinauszuschieben. Eine irrsinnig süße Qual. Doch dann kam der Moment, wo wir es nicht mehr aushielten. Wir schauten uns an, wollten uns beobachten im erlösenden Augenblick … Unsere Blicke, unsere Körper, unser Empfinden … sie brauchten keine Worte. Es gab etwas in uns, dass seine eigene Sprache sprach. Eine Sprache, die nur wir zwei beherrschten, die niemand sonst mit uns sprechen konnte. Es war etwas ganz Besonderes und dennoch würde es uns in einer gewissen Weise auch einsam machen. Wieder voneinander getrennt, gäbe es niemanden mehr, der so mit uns sprechen würde, ein Teil von uns würde verkümmern. Doch trotz allem, ich wusste genau, es musste und sollte so sein und ich würde diesen Entschluss hier her gekommen zu sein, nie bereuen. Ich wusste nur, dass ich nicht den leisesten Schimmer hatte, wie genau ich danach zurechtkommen würde. Aber, noch war ich nicht weg.

Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und schnupperte an ihm, ‚meinem‘ Mann. Azim regte sich. „Nele, ich muss gleich mal los. Zu meinen Eltern. Ich werde ihnen erzählen, dass ich ab heute Abend noch einen Einsatz habe für einen Kollegen habe und die nächsten Tage unterwegs bin.“

„Azim, das ist sicher nicht schön für dich, zu lügen?“

„Nein Nele, ist es nicht. Aber du lügst auch. Wir beide wissen, dass es seine Berechtigung hat. Es ist vielmehr eine Notlüge, so sehe ich es. Wenn diese Woche vorbei ist …“ Er brach ab und auch ich wollte nichts mehr hören. Ja, er hatte recht, es war vermutlich richtig, so zu handeln. Wir brauchten diese Zeit und sie würde bald vorbei sein. Dann müssten wir niemanden mehr belügen.

„Apropos belügen, dann schreib ich meinen Eltern auch schnell eine SMS, dass alles in bester Ordnung ist.“

„Ich bin nachher wieder da, es wird sicher Abend.“

„Und wie erklärst du deinen Eltern, dass du schon heute Abend weg bist. Die Touren starten doch morgens?“

„Stimmt, mein Schlauerle, aber abends ist schon eine Infoveranstaltung und dann ist es schon spät. Oft übernachte ich dann bei einem Freund, das ist nichts Neues. Vielleicht wirst du ihn auch noch kennenlernen. Ist es okay für dich, einige Stunden allein zu sein?“

„Sicher, bin ja schon groß!“ Ich grinste. Auch wenn ich ihn ungern gehen ließ, so war es wahrscheinlich auch gut, Zeit zu haben, um mich etwas zu sortieren und mich meinen Empfindungen allein hingeben zu können.

„Ja, ich werde in die Stadt gehen, oder an den Strand. Meldest du dich, wenn du bei deinen Eltern losfährst?“

„Sicher tue ich das. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn etwas ist. Ich werde dann einen Männernamen nennen, sollten die Eltern oder sonst wer in der Nähe sein. Ich werde dich Mohammed nennen, so heißen einige Freunde und Kollegen, das ist nicht so eindeutig und ich werde erst deutsch sprechen, wenn ich aus dem Raum bin.“

„Du bist durchtrieben!“

„Oh ja!“ Azim lachte küsste meinen Busen und meinte: „Wie durchtrieben ich in Wirklichkeit bin, wirst du später und in den nächsten Tagen noch erleben!“

„Oh, oh, nun kommen mir aber Bedenken!“ Wir lachten und neckten uns, bis Azim sich doch aufraffte und sich richtig anzog. Nach einem heißen Kuss setzte er sich in sein Auto und fuhr los, um unser Theater hier nicht auffliegen zu lassen. Ich ging zum Tor, um es zu schließen. Wieder zurück im Haus wusste ich nichts mit mir anzufangen. Gut, dachte ich mir, komm erst mal runter. Ich genehmigte mir ein halbes Gläschen Wein und rauchte eine Zigarette im Hof. Ich wollte nicht zu viel an die Zeit nach Marokko denken. Was lag also näher, als noch so viel als möglich von den T agen hier mitzunehmen, von meiner alten Heimat. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, ich würde nie mehr zurückkommen.

Ich zog meine wunderschöne grüne Djellaba aus, streifte mir Rock und Shirt über, machte mich ein wenig frisch und packte eine Tasche mit etwas Obst, Wasser, Strandzeugs und Stadtplan, Handy und meiner Kamera. Es packte mich plötzlich eine große Lust, diese Stadt für mich zu entdecken. Ich konnte ihr allein begegnen oder sie mir. Vielleicht würde ich etwas an ihr und den Menschen dieser Stadt gutmachen können, nach allen Verfluchungen, Verwünschungen, die ich in meinem nächtlichen Ausflug allen und allem an den Kopf geschleudert hatte. Ich schloss das Haus ab, atmete tief ein und ging langsam los. Jede Minute, jeden Meter wollte ich genießen. Zum ersten Mal bewegte ich mich allein in dem Viertel, in dem ich nun schon den dritten Tag wohnte. Ich beschloss erst einmal zwischen den Häusern umherzulaufen. Die Häuser glichen sich sehr, recht groß, alle mit Mauern umgeben, mit großen Toren. Manche hatten sichtbare kleine Balkone, die Fenster waren meist im Erdgeschoß mit schönen Gittern versehen, soweit ich dies wegen der Mauern sehen konnte. Hier lief anscheinend das Leben normal ab. So wie ich die Szene am ersten Tag beobachtet hatte. Hier und da hörte man Frauen laut sprechen. Überhaupt schien es, dass viele Frauen nicht allein waren. Ich wäre am liebsten in eines der Häuser reingegangen, um zu erfahren, wer da mit wem sprach. Lebten hier mehrere Generationen zusammen oder besuchten sich Freundinnen, andere Familienmitglieder?

In meine Gedanken mischte sich die Frage, wie Azim lebte. Zu gerne hätte ich heimlich das Haus seiner Familie aufgesucht. Aber natürlich durfte ich das nicht tun. Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich nahm mein Handy aus der Tasche. Ich schrieb Azim eine Nachricht. Ich bat ihn, wenn möglich, Bilder seiner Familie mitzubringen und auch von Jamila. Ich wollte wenigstens ein bisschen an seinem Leben teilhaben, auch wenn es mich traurig machte, dass ich immer außen vor sein würde. Dennoch wollte ich es wissen. Ich änderte meinen Weg in Richtung Hauptstraße. Sofort schlug mir immer mehr Lärm entgegen. Wo fuhren die alle am helllichten Tag hin? Und wozu hupten die anscheinend ohne Grund und unaufhörlich? Ich ging die Straße runter, wo ich die Innenstadt vermutete, ohne vorher den Stadtplan studiert zu haben. Ich wollte mich treiben lassen und war nun mutig genug auch wieder den Weg zurückzufinden. Zur Not gab es genügend Taxis. Die Straße war breit, ebenso die Gehwege.

Auf der Fahrbahn herrschte kreatives Chaos. Wie schon des Öfteren bewunderte ich die Geschicklichkeit, mit der man umeinander herumfuhr. Ich hätte zu gerne ausprobiert, ob auch ich mich in diesem Gewusel mit dem Auto bewegen könnte, aber dazu würde es nicht kommen. Ich würde nie mehr hier hin zurückkommen wollen, es würde zu weh tun. Ich ging vorbei an Häusern, an denen auf Balkonen, auf Dächern oder an Hauswänden die Wäsche flatterte. Ich nahm Stimmen wahr, ich passierte lange Mauern und konnte nicht erspähen, was sich dahinter befand. Nach einer Weile beschloss ich, die Straße zu überqueren. Ich wollte durch die kleinen Gassen gehen. Es war kein leichtes Unterfangen, auf die andere Seite zu kommen. Ich blieb stehen und beobachtete Einheimische, wie sie es schafften ohne Verlust ihres Lebens und ohne Vorhandensein einer Ampel oder eines Zebrastreifens die Autos zu umgehen. Irgendwie schien es zu funktionieren, denn die Menschen gingen einfach furchtlos los und die Autos fuhren um sie herum oder man blieb einfach inmitten des Verkehrs stehen. Okay, wenn die das können, dann ich auch! Also versuchte ich so lässig wie möglich, es ihnen nachzutun. Ich stellte mir vor, ich wäre genauso routiniert wie alle anderen hier. Und siehe da, es funktionierte! Ich freute mich diebisch! Aus mir könnte doch eine gute Marokkanerin werden.

Vor mir lag eine Gabelung. Ich folgte der unteren Straße. An der Ecke befand sich etwas zurückgesetzt ein kleiner Laden. Dort wurden kunstvolle Dinge aus Draht verkauft. Kleine Vogelkäfige, Körbe, Blumenhalterungen und mehr. Ein junger Mann forderte mich auf, mir die Waren anzuschauen, doch ich verneinte lächelnd und ging weiter. Der nächste Laden war ein Telefonladen, danach schien es nur noch Wohnhäuser zu geben.

Ich entdeckte eine geöffnete Tür, eine Art Flur ging zu einem Hinterhof. Dort wusch eine alte Frau Wäsche. Sie trug ein buntes Kopftuch, ähnlich wie ein kleiner Turban.

Als sie mich sah, lächelte sie schüchtern. Ich blieb einfach stehen. Sie kam zur Tür. Man sah ihr ein hartes Leben an, aber ihre Augen waren so klar und hübsch, so strahlend, dass sie trotzdem etwas Junges ausstrahlten. Sie sprach etwas auf berberisch zu mir. Ich hob die Schultern und ließ sie wieder fallen, zum Zeichen meiner Unsicherheit. Warum blieb ich hier einfach so neugierig stehen? Sie faszinierte mich, nein mehr noch, am liebsten hätte ich sie umarmt. Ich ging langsam weiter und winkte ihr zögerlich zum Abschied zu. Auch sie winkte zaghaft. Während ich weiterging, überlegte ich, was diese Begegnung zu bedeuten hatte, oder auch nicht. Aber irgendetwas war verwirrend. Vielleicht hatte sie etwas mit meinem möglichen Leben in einer anderen Zeit zu tun? Ich würde keine Antwort bekommen. Ich merkte mir den Namen der Straße. Plötzlich wurde ich abgelenkt. Aus einem anderen Haus hörte ich das laute Geschrei eines Mannes. Auch dort stand die Tür offen. Diesmal sah man direkt in eine Wohnung. Ich entdeckte verschnörkelte Metallmöbel und wieder Unmengen an Plastikblumen. Ich würde mir auch so ein hässliches Ding zum Andenken kaufen! Während ich meine Neugier befriedigte kam der Mann aus der Tür. Wie peinlich! Schnell drehte ich mich weg, doch der Mann sprach mich an. Ich drehte mich um und sagte auf Deutsch, dass ich ihn nicht verstünde.

„Ah, sie sind aus Deutschland!? Kann ich Ihnen helfen?“

„Nein danke, entschuldigen sie meine Neugier. Ich erkunde einfach ein wenig die Stadt abseits der Touristenzone.“

„Machen sie hier Urlaub?“

„Ja“

„Wo wohnen sie?“

„Äh, bei entfernten Verwandten.“ Was redete ich für dummes Zeug?

„Sie haben marokkanische Verwandte?“

„Ja, zwar ganz entfernt, aber ich konnte dort wohnen.“

„Übrigens ich bin Youssef. Ich arbeite in einem Hotel. Darf ich sie heute Abend zu einem Drink dorthin einladen?“

„Nein danke, meine Verwandten freuen sich, wenn ich abends bei ihnen bin.“ Ich war gut im Erfinden solcher Notlügen. Bisher war mir dieses Talent noch nie so aufgefallen.

„Nun schade. Sollten sie dennoch ein wenig Zeit erübrigen, gebe ich Ihnen einfach meine Karte mit. Rufen sie mich an.“ Er drückte mir die Visitenkarte des Hotels in die Hand. Es gehörte zum gleichen Unternehmen, in dem Azim arbeitete. Plötzlich ritt mich der Teufel.

„Ach sie arbeiten auch für dieses Unternehmen? Bei meinem letzten Urlaub hier habe ich beim gleichen Anbieter einen Ausflug gebucht. Dann kennen sie sicher auch Azim, den Reiseleiter?“ Nele, hör auf! Aber Nele hörte nicht auf!

„Klar kenne ich Azim, sehr gut sogar! Hat er seinen Job gut gemacht?“ Er lachte. „Wenn nicht, werde ich ihm die Ohren langziehen!“

„Keine Sorge, er war brillant!“ Mein Azim, der beste Reiseleiter der Welt!

„Kommen sie doch auf einen Moment herein und trinken sie etwas mit mir, dann können wir ein paar Minuten plaudern.“ Was tat ich da? Ich ging mit einem wildfremden Mann in seine Wohnung. Jeder konnte behaupten, Azim zu kennen. Aber noch während ich mich in Gedanken schalt, war ich bereits im Inneren des Hauses. Dieser Youssef schloss die Tür. Prima, Nele, du hast sie echt nicht mehr alle! Aber der Trieb, etwas über Azim zu erfahren war schlichtweg stärker! Youssef bot mir einen Stuhl an, brachte ungefragt zwei Gläser mit Wein.

„Den müssen sie probieren. Es ist marokkanischer Wein, schmeckt wirklich gut.“ Ich würde sicher etwas beschwipst werden, so am helllichten, sonnigen Tag! Egal - ich wollte was hören! Youssef erzählte erst mal etwas selbstverliebt von sich und seinem grandiosen Job. Ich hörte höflich zu. Wie konnte ich das Gespräch endlich in meine Richtung lenken? Wir waren inzwischen beim ‚du‘ und dem zweiten Glas angekommen.

„Ah, dann kenne ich dein Hotel. Sicher sind wir damals bei unserem Ausflug auch dort vorgefahren, um Gäste abzuholen. Azim hatte erwähnt, dass es neu ist und sehr schön!“ Er sprang darauf an. Juhu!

„Azim, ja, der Trottel. Ist so ein intelligenter Kerl, würde so gerne mehr aus seinem Leben machen und lässt sich doch glatt mit seiner Cousine verheiraten. Alle seine Geschwister sind hier weggekommen und er lässt sich festketten!“

„Aber …“ Ich machte eine Pause. „Es ist doch nicht unüblich hier zu Lande.“

„Nein, ist es nicht. Aber er wollte mehr. Er wollte eine große Liebe. Ja daran hat er geglaubt. Er erzählte mir immer wieder, dass er darauf warte. Dass er wüsste, es gäbe die große Liebe. Warum also macht er das?“

„Nun, vielleicht hat er das Warten satt?“

„Mag sein, deswegen muss man sich aber nicht gleich verheiraten lassen. Stattdessen könnte er versuchen woanders Fuß zu fassen, vielleicht wohnt die große Liebe ja woanders.“ Wie recht er doch hat, dachte ich.

„Er sollte sich zumindest während des Wartens auf seine Traumfrau ein bisschen Spaß gönnen, so wie ich!“ Er grinste und legte seine Hand auf mein Bein.

„Äh … nun … jeder ist eben anders.“ Ich schob seine Hand weg. Ich sollte gehen, bevor ihn mein Bleiben animierte, mich weiter anzumachen.

„So, ich muss dann mal los, sicher erwartet man mich schon. Vielen Dank für den Wein.“ Ich erhob mich.

„Ciao Bella und ruf mich an. Wir sollten unser Gespräch ein anderes Mal fortsetzen!“ Er grinste und drückte mich kurz.

„Jaja, dann tschüss!“ Ich beeilte mich, zur Tür zu kommen. Draußen merkte ich die zwei Gläser Wein! Puh, ein arroganter Kerl, wenngleich er auch nichts wirklich Schlimmes gemacht hatte. Gott sei Dank!

Ich setzte meinen Weg fort. Am Ende der Straße befand sich eine Schule. Dort bog ich in die nächste kleine Straße ab. Ich entdeckte eine kleine Autowerkstatt, die in meinen Augen furchtbar schäbig aussah. Ein paar Meter weiter war ein kleines Café. Dort saßen mehrere Männer, schwatzend, rauchend und Tee trinkend herum. Man beobachtete mich. Hier hin verirrten sich nur wenige Touristen. Ich hatte das Gefühl, man sah mir meinen Alkoholkonsum an. Gleich hinter dem Café stieß ich wieder auf eine große Straße. Erneut versuchte ich mich im Überqueren einer stark frequentierten Straße. Der Wein machte mich lässig und auch etwas leichtsinnig.

Gerade wollte ich gewagt um ein Auto herumspringen, als ich registrierte, dass es Azims Auto war. Ich blieb einfach mitten auf der Straße stehen und starrte ins Wageninnere. Neben ihm saß eine junge Frau und ich wusste, es war Jamila. Sie trug eine Djellaba und hatte ein Kopftuch locker um den Kopf geschlungen. Sofort begann ein heftiges Hupkonzert auf der Straße und der Verkehr bewegte sich um uns herum. Aus so manchem Fenster hörte ich fluchende Fahrer. Azim kurbelte das Fenster runter. Höflich fragte er mich auf Englisch, wo ich herkäme und ob er helfen könne. Brav und leicht benebelt antwortete ich ihm. So konnte er nun, ohne aufzufallen, deutsch mit mir sprechen.

„Würdest du so nett sein, von der Straße zu gehen, ich möchte nicht, dass du überfahren wirst! Ich werde es dir nachher erklären. Ja, das ist sie. Aber bitte sei nicht so kopflos wie bei der letzten Aktion. Ich ging an sein Fenster.

„Du kannst sprechen, sie versteht kein Deutsch.“

„Nein, ich mache keine Dummheiten, es ist vielleicht gut, dass sie kein Phantom für mich ist. Ich gehe zurück.“

„Ich bin auch gleich da. Ich sollte sie vom Arzt abholen.“ Sie fing nun an, ungehalten mit Azim zu sprechen. Man merkte ihr an, dass sie sauer war. Er war ebenfalls sichtlich über ihre Worte verärgert. Dass ich ihm, mit ihr im Auto, direkt vor die Motorhaube laufe, war sicher nicht gewollt. Ich ging weiter, drehte mich im Gehen noch einmal um und er fuhr los. Ich hatte keine Lust mehr, weiter in der Stadt herumzulaufen, wozu eigentlich? Ich stoppte ein Taxi und nannte meine Adresse. Ich ergab mich dem waghalsigen Fahrstil des Taxifahrers und ließ die Bilder der Stadt an mir vorbeirauschen. Ich hatte vergessen, erst den Preis vorher auszuhandeln und bezahlte sicher großzügig - egal!

Im Haus warf ich meine Tasche aufs Bett. Der Fotoapparat fiel aus der Tasche, ich hatte keine Fotos gemacht. Ich fand im Kühlschrank noch Wein, goss mir ein großes Glas ein und setzte mich raus und rauchte und trank und dachte nach. Hätte ich die Wahl gehabt, Jamila real zu sehen, hätte ich abgelehnt. Wer tut sich so etwas schon freiwillig an? Nun aber war es geschehen und irgendwie fand ich es sogar gut. Nun war diese Frau real für mich, nun wusste ich, mit wem Azim sein Leben verbringen würde. Es machte eben doch einen Unterschied, ob man nur Bilder oder jemanden, wenn auch nur kurz, live und in Farbe gesehen zu haben. Und ich hatte mitbekommen, dass es nicht nur Erzählungen sind, es war einfach Realität. Nein auch jetzt und hier, während meines Aufenthaltes gab es dieses Parallelleben und er hatte seine Verpflichtungen.

Wie lange ich so da saß, weiß ich nicht mehr. Aber dann hörte ich, wie Azim das Tor öffnete und hereinfuhr und war verunsichert, wie ich ihm nun begegnen sollte, erinnerte mich aber dann an mein und unser Vorhaben, die Zeit hier miteinander zu genießen. Ich war mir dessen bewusst, dass diese Situation auch für ihn sehr schwer war. Und ist auch nicht das Liebe, dem Menschen, den man liebt, es nicht unnötig schwer zu machen? Als er um die Ecke bog und unsicher auf mich zukam, unwissend wie ich nun wohl schon wieder reagiere, wurde mein Herz ganz warm. Erfüllt von meinem Gefühl zu ihm stand ich auf, umarmte und küsste ihn. Ich spürte, wie er seine Anspannung verlor. Sicher hatte er etwas Anderes erwartet. Kaum verwunderlich, hatte ich doch ein beachtliches Repertoire an bescheuerten Reaktionen auf Lager.

„Nele, es tut mir leid, dass du mitbekommen musstest, dass ich nicht ganz um mein normales Leben herumkomme. Ich wollte nicht, dass jemand Verdacht schöpft. Aber ab jetzt bin ich für alle weg und für dich da!“

„Azim, es ist gut und ich freue mich auf jede Minute mit dir!“

Wir setzten uns wieder und genehmigten uns Wein und Zigarette und schwiegen eine Weile. Nun gehörte die Zeit uns. Azim schaute mich an, blies langsam und genüsslich den Rauch aus.

„So meine Wüstenkönigin, was fangen wir mit unserer Zeit an? Wir können auch etwas unternehmen, denn nun bist du ja eine erprobte Marokkanerin.“ Er hatte schon wieder einen schelmischen Blick drauf.

„Ah, du willst mich nur wieder barsch anmachen, wie bei der Kontrolle! Das hat dir sicher großen Spaß gemacht, ich habe es gespürt!“ Er lachte.

„Ein Mann muss tun, was er tun muss!“

„Du arroganter Kerl du!“ Ich ging zu ihm setzte mich auf seinen Schoß, küsste ihn verwegen und flüsterte ihm ins Ohr: „Und eine Frau muss auch tun, was sie tun muss!“ Und ich fing an, ihn langsam verrückt zu machen. Er stöhnte auf und wollte mitmischen, aber ich schlug ihm harmlos auf die Finger, drückte seine Hände wieder auf die Stuhllehnen. Ich genoss meine Macht ihn nur durch meine körperliche Nähe, meinen Küssen und Händen wahnsinnig zu machen.

„Nele, lass uns reingehen!“ Seine Stimme war fast heiser, aber ich schüttelte den Kopf.

„Du bleibst hier!“ Es dauerte nicht lange und ich spürte, dass er sich nicht mehr lange beherrschen konnte und einen Moment später war es um ihn geschehen.

„Du Biest, was machst du nur mit mir?!“ Ich spielte die Gleichgültige und zuckte die Schulter. Azim stand auf, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und ging rein. Mir fiel mein Gespräch mit Youssef ein, irgendwie musste ich ihn noch unauffällig auf diese Begegnung bringen. Ich war neugierig, wie gut sich die beiden kannten. Und ich wollte wissen, ob er mir Fotos mitgebracht hatte. Eine Weile später kam er wieder nach draußen, er hatte Bilder in der Hand.

„Hier, ich habe dir Fotos mitgebracht. Aber zuvor erzähle mir, wie dein Stadtrundgang war. Wie hast du dich gefühlt?“ Ich war froh, dass er von selbst meinen Spaziergang angesprochen hatte, so konnte ich auch unverfänglich von meinem Gespräch mit diesem Youssef berichten.

„Nun, sehr weit bin ich eigentlich nicht gekommen. Zuerst bin ich hier ein paar Meter im Viertel unterwegs gewesen und habe mir Vorstellungen vom Leben der Menschen hier gemacht. Danach habe ich nach Art der Einheimischen todesmutig versucht die Straße zu überqueren. Ich gelangte dann, ohne Blessuren und verursachte Blechschäden in ein Wohnviertel. Dort hatte ich eine Begegnung mit einer alten Frau. Azim, es gibt eh schon eine Menge Erlebnisse, wonach man mich für verrückt erklären könnte, nun kommt noch eines dazu. Diese Frau war mir so vertraut, ich hatte ein starkes Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Eine Wildfremde, aber auch ihr schien diese Begegnung merkwürdig, dennoch warm, freundlich - ich kann das gar nicht richtig beschreiben. Noch beschäftigt mit diesem Moment, lernte ich nur ein paar Meter weiter einen Mann kennen. Ich war, wie auch bei der alten Frau neugierig und starrte einfach in die Häuser rein. Du kennst ihn, quasi ein Kollege - Youssef.“ Ich machte eine Pause, um seine Reaktion abzuwarten.

„Ah, Youssef, ja natürlich kenne ich ihn. Erzähle, wie ist dieses Aufeinandertreffen abgelaufen?“

„Naja, während ich so unverschämt ins Wohnungsinnere blickte, entdeckte er mich und sprach mich an und nachdem er mitbekam, dass ich Deutsche bin, fing er an, sich mit mir zu unterhalten. Er lud mich auf ein Glas Wein ein. Er …“ Weiter kam ich nicht. Azim sprang auf, baute sich förmlich vor mir auf.

„Nele, das ist jetzt nicht dein Ernst!? Kaum lässt man dich e, hast du nichts Besseres zu tun, als dich am helllichten Tag von einem fremden Mann auf ein Glas Wein einladen zu lassen!“ Er wurde lauter und ungehaltener. „Und dann noch von Youssef. Na, hast du schon ein Date mit ihm? Sicher hat er es nicht unversucht gelassen! Er kann gar nicht anders. Ständig versucht er, Frauen anzumachen, nun auch noch dich! Aber ja, ER ist ja auch frei, hast ja recht, es gibt keinen Grund für dich, es nicht zu tun!“

Ich schoss vom Stuhl hoch und mein Gesicht war ganz dicht vor seinem. Das war die Höhe! Er war nicht besorgt, sondern eifersüchtig! Ich konnte es nicht fassen - mit welchem Recht? Leise und mit bedrohlicher Stimme stoppte ich ihn.

„Moment, wage es nicht, hier irgendeinen Anspruch auf mich zu erheben. Und wage es nicht, mir etwas zu unterstellen. Ich habe hier nichts vor dir zu rechtfertigen! WAS bitte ist in dich gefahren?“ Gerade wollte er wieder laut ansetzen, aber ich hob meine Hand zum Einspruch.

„Azim, überleg dir genau, was du sagst und tust. Wir lieben uns - ja. Aber wir haben keinen Anspruch aufeinander. Das dachte ich, sei nun klargestellt. Und zudem wolltest du wissen, wie es mir ergangen ist auf meiner Erkundungstour durch Agadir. Herrgott, ich erzähle lediglich, was sich dort zugetragen hat!“ Ich spürte, wie Azim versuchte, seine Gefühle wieder in richtige Bahnen zu lenken. Er wusste genau, dass ich recht hatte.

„Nele, es tut mir leid. Was kann ich nur dagegen tun, denn ich bin in der Tat eifersüchtig! Ich habe absolut kein Recht darauf, dennoch ist es so! Zudem kenne ich meinen Youssef auch zu gut!“

„Aber du kennst auch mich. Oder schätzt du mich doch so ein, dass ich mit jeder männlichen Bekanntschaft gleich mehr will? Glaubst du, nur weil ich zu dir gekommen bin, ohne dich richtig zu kennen, mache ich das immer? Das würde mich verletzen!“

„Nein, natürlich nicht! Nele, ich weiß, dass alles ist, wie es ist, trotzdem komme ich nicht gut klar damit. Der Gedanke, dich bald gehen lassen zu müssen, quält mich. Und noch mehr quält mich, dass es einen anderen Mann in deinem Leben geben kann. Nein, ich habe eigentlich kein Recht, so etwas auch nur im Ansatz zu denken und doch tue ich es! Ich will mit dir leben, aber es kann nicht sein!“ Ich schwieg.

Nein seine Entscheidung, sein Ehrgefühl waren unumstößlich. Das hatte ich immerhin schon begriffen. Was war mit meiner Eifersucht? Es gab sie, aber irgendwie war sie anders geartet als dieses Gefühl, das ich bisher in meinem Leben kannte. Es war vielmehr Mitleid für die beiden. Sie begaben sich in eine Beziehung, die nicht auf Liebe basierte. Und wer weiß, vielleicht hatte so etwas ja mehr Bestand? Und ich, ich hatte wenigstens noch eine Chance auf die Liebe und im gleichen Moment, indem ich dies dachte, wurde mir klar – nein, die hatte ich auch nicht. Es schien mir unmöglich, noch einmal jemand anders zu lieben. Wenn ich mich je wieder auf eine Beziehung einlassen würde, dann wäre die Gefühlsgrundlage auch eine andere als Liebe. Dieser Gedanke machte mir Angst! Aber sollte ich nicht froh sein, dass alles in ein paar Tagen zu Ende sein würde. Es gab Differenzen zwischen Azim und mir, die womöglich gar nicht zu überbrücken wären, diese Erkenntnis war mir ja nicht neu. Ich ermahnte mich. Nele, denk daran, was du dir geschworen hattest! Genieße die Zeit und lass auch ihm seine Gefühle. Ich atmete einmal tief ein und aus. Wir standen noch immer voreinander. Ich schmiegte mich einfach an ihn. Dieses hin und her der Gefühle ließ sich anscheinend doch nicht so leicht beiseiteschieben, wie wir vorhatten.

Plötzlich erfasste mich wieder der Gedankennebel. Irrsinnig stark und mit tiefen Emotionen …

Eine karge Landschaft mit größeren Felsformationen … ich war unterwegs … eine kleine Ziege war ausgerissen und ich suchte sie. Ich dachte schon, ich hätte sie aufgespürt, als ich etwas hörte. Doch als ich näherkam, vernahm ich männliche Stimmen hinter dem Felsen. Ich ging näher zu dem Felsen und als ich die Stimme meines Wüstenkönigs erkannte, verharrte ich still in einer kleinen Ausbuchtung des Felsens. Ich wusste, es war nicht recht, die Männer zu belauschen, doch irgendetwas hielt mich fest. Ich hörte Azim sprechen und nun erkannte ich auch die andere Stimme. Es war die eines Cousins. Die beiden standen sich sehr nah. Sie unterhielten sich über Azims bevorstehende lange Reise. Vor allem aber über die Gefahr, die diese in sich barg. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Sie sprachen über Waffen, über Überfälle … Mir schien das Herz stehen zu bleiben! Nein, das durfte nicht sein!Mein Wüstenkönig durfte nicht in eine solche Gefahr geraten! Azims Stimme wurde eindringlicher … er bat seinen Cousin um den Schwur, sich um mich zu kümmern, ja sogar mich zu heiraten, sollte er seine Reise nicht überleben. Ich wollte aufschreien, unterdrückte meinen Schrei und hielt mir die Hand auf den Mund. Man konnte mich nicht hören, doch mein Herz schrie weiter! Ich wusste bei jedem Mal, wenn Azim und seine Leute aufbrachen, dass es gefährlich war. Aber irgendwie hatte ich unerschütterliches Vertrauen in seine Kraft und seinen Verstand, sodass ich nie ernstlich geglaubt hätte, er käme nicht wieder. Doch nun schien die Lage eine andere zu sein, sonst würde Azim diese Worte nicht aussprechen! Was hörte ich da? Azim weinte, sein Cousin flüsterte beruhigend auf ihn ein. Ich hörte Wortfetzen…. ich hörte Azims Schmerz… allein der Gedanke mich nie wieder zu sehen, bräche ihm das Herz … wie gut es aber wäre zu wissen, das dann jemand für mich da wäre … und ich konnte sogar die nicht ausgesprochenen Worte fühlen - nämlich diese Eifersucht zu ertragen, dass eventuell sein Cousin dann auch das Recht auf die körperliche Liebe mit mir hätte, die Eifersucht, das ein anderer Mann den Rest des Lebens mit mir verbringen würde … dass ich nicht seine Kinder gebären würde … der Schmerz, der sein Herz zerriss übertrug sich auf mein Herg. Ich dachte, ich müsste zusammenbrechen! Gleichzeitig fühlte ich die Liebe und Wärme zu meinem Wüstenkönigg, indem er versuchte, alles für mich zu regeln, falls wir uns nie wieder sehen würden … wie schwer musste dieser Entschluss für ihn gewesen sein? Und ich wusste auch, dass er mit seinem Cousin einen ehrenwerten, herzlichen Beschützer für mich erwählt hatte. Und indem er vor einem anderen Mann weinte, bewies er umso mehr, wie unbeschreiblich tief unsere Liebe für ihn war … Ich vernahm, wie die Männer aufbrachen und versteckte mich so gut es ging. Er sollte nicht wissen, dass ich ihn belauscht hatte! Schweigend gingen die beiden zurück. Zwei stolze Männer! Ihre Gewänder flatterten im Wind, ihre Schritte entschlossen und vertraut mit diesem Land … Als ich sicher war, dass sie mich nicht mehr entdecken konnten, lief ich aus meinem Versteck einfach weiter, bis ich nicht mehr konnte und schrie mir meine Angst und Verzweiflung aus dem Leib …

Die Nebel verzogen sich. Azim und ich zitterten am ganzen Körper - wir schauten uns an, wir mussten nicht darüber sprechen. Wir wussten, dass wir dasselbe gesehen und gefühlt hatten, wir wussten, dass wir uns trotz unserer tiefen Liebe entlassen mussten und ich spürte seine maßlose Ohnmacht, nicht für mich da sein zu können, nicht dafür sorgen zu können, dass es mir gut ging, dass er wisse, ich wäre beschützt. Dieses Mal wäre es anders als damals, er wäre nicht der stolze Wüstenmann, der für mich sorgen könnte. Ich wusste, ihm war klar, dass ich grundsätzlich keine bedürftige Frau war, hier ging es um etwas anderes.

Es konnte gar nicht viel Zeit vergangen sein, in der wir in unser altes Leben entrückt waren, trotzdem fühlten wir uns beide erschöpft, diese Empfindungen waren so irrsinnig intensiv. Wir beschlossen, uns ein wenig hinzulegen. Wir wollten nicht weitersprechen, wir wollten nur einfach nah beieinander sein. Wir hielten uns einfach fest, ich genoss seine Wärme und Stärke, seinen Geruch und schlummerte in seinen Armen ein.

Als wir erwachten, war es schon dunkel. Ich wollte nicht aufstehen, ich wollte einfach nur so bei ihm sein. Aber irgendwann knurrte mein Magen und auch Azim meinte, er sei hungrig. Er beschloss, uns schnell etwas zu essen zu besorgen. Schnell zog er sich seine Djellaba über, küsste mich und schon war er verschwunden. Ich blieb im Bett hocken. Ich fühlte mich so allein und hoffte, er wäre schnell zurück. Fast wurde ich ärgerlich auf unseren Hunger, der uns durch die Essensbeschaffung um kostbare Minuten brachte. Ich hatte bescheuerte Gefühle. Warum war ich nicht einfach mitgefahren? Azim war es gewohnt hier in seinem Leben zu entscheiden, für ihn war es kein großer Akt, mal eben auf die Schnelle, etwas zu erledigen. Klar, mit mir hätte alles länger gedauert und wir wollten doch heute einfach nur hier zusammen sein, zurückgezogen in unserem Liebesversteck auf Zeit. Dieses ewige auf und ab der Gefühle. Einerseits wollte ich ein wenig ‚normales Leben‘ hier mit ihm mitbekommen, andererseits wollte ich die kostbare Zweisamkeit genießen. Und beides ging nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. So versuchte ich mich abzulenken, schaltete den Fernseher ein. Es lief ein Musikvideo von Enrique Iglesias ‚HERO‘, so traurig und so viel Gefühl in diesem Lied … ein so trauriges Ende … ich fing an zu weinen.

Azim kam zurück, hörte mich schluchzen und stürmte sofort ins Zimmer, nahm mich in den Arm und ich weinte einfach weiter.

„Malak, was ist los?“ Schniefend erzählte ich ihm von dem Lied. Er umschlang mich fest, hauchte mir einen sanften Kuss aufs Haar und flüsterte beruhigend einfach nur in mein Ohr: „Schschsch … alles ist gut … schschsch.“ In seinen Armen war auch alles gut! Langsam beruhigte ich mich wieder. Der exotische Duft des Essens lenkte mich ab.

„Mmh, das riecht irre lecker, was hast du mitgebracht?“

„Kefta belbid, das sind marokkanische Hackbällchen.“ Diese Bällchen waren aufgespießt. Dazu gab es Weißbrot und einen kleinen Tomatensalat. Ich schmeckte den inzwischen heißgeliebten Kreuzkümmel heraus, den ich umso mehr liebte, weil Azim immer danach roch. Wir aßen im Bett und schauten nun die Bilder an. Endlich hatte seine Familie ein Gesicht. Die Geschwister machten auf mich einen freundlichen Eindruck und seine Mutter – eine bildhübsche Frau - strahlte Wärme und Herzlichkeit aus. Wie es wohl wäre, ihre Schwiegertochter … Nele, hör sofort mit solchen Gedanken auf! Dem Vater sah man sein Leid an. Ein vergrämtes, düsteres Gesicht, ein alter Mann, der sich aufgegeben hatte. Dann folgten einige wenige Bilder von Azim als Kind, er war schon immer ein hübscher. Anscheinend hatte die Familie trotz ihres Glaubens keine Probleme, Fotos zu machen, was schon unüblich war, zumindest damals. Neugierig betrachtete ich auch das Haus, in dem mein Wüstenkönig aufgewachsen war. Unspektakulär und marokkanisch eben. Das Betrachten der Bilder löste Gefühle aus, die ich nicht benennen konnte. Ein Cocktail aus Neugier, Freude, Traurigkeit und Zutaten, die ich nicht definieren konnte. Ich würde niemals Teil dieser Familie sein! Trotzdem bemühte ich mich, nicht zu viel davon an mich ranzulassen, um die Zweisamkeit mit Azim auszukosten.

Es gelang uns tatsächlich, einfach ‚nur‘ uns zu genießen. Wir lachten und redeten viel, als gäbe es danach nie mehr die Gelegenheit. Wir versuchten, einander so viel als möglich, am Leben des anderen teilhaben zu lassen. Unsere Körper und Seelen liebten sich über die Schmerzgrenze hinaus mit einer Wonne und Intensität, die fast unmöglich schien. Zwischendurch fuhren wir an den Strand. Wir liebten die Spaziergänge am Meer oder auch nur da zu sitzen und aufs Meer hinauszuschauen.

Ich mutierte außerhalb des Hauses immer zur Marokkanerin und mit jedem Mal fühlte ich mich wohler in dieser Rolle. Bei einem unserer Spaziergänge am endlosen Strand von Agadir sprach Azim so etwas Ähnliches aus. „Nele, du weißt gar nicht wie sehr du mir gefällst. Diese Mischung aus westlicher und arabischer Frau ist so echt und so faszinierend und so außergewöhnlich. Du bist genau beides und du bist meine Nele, meine Malak, meine Wüstenkönigin und die Frau, die ich so sehr liebe.“ Er blieb stehen, nahm meine Hände, schaute mir tief in die Augen und küsste mich. Es war uns in diesem Moment egal, entdeckt zu werden.

Der letzte Tag brach an, eine letzte Nacht, die wir zusammen hatten. Wir versuchten, nicht darüber zu sprechen und doch spürten wir, wie der Schmerz sich nicht unterdrücken ließ. Nach dem Frühstück meinte Azim, ich solle noch einmal meine Djellaba anziehen. Er wolle noch etwas mit mir unternehmen. Ich wäre am liebsten gar nicht vor die Türe, hätte in den letzten Stunden auf Essen und Trinken verzichtet, nur nicht auf ungestörte Stunden mit ihm. Aber ich spürte, dass es ihm wichtig war. So streifte ich mir mein wunderschönes, grünes, reich verziertes Gewand über, zog mir die Sonnenbrille an schnappte mir die Flipflops und wir fuhren los.

„Azim, was hast du vor?“

„Geliebtes Weib, du wirst es sehen. Ich hoffe sehr, es wird dir gefallen. Aber möglicherweise wirst du mich dafür auch erschlagen. Ich weiß es nicht, aber ich muss es tun!“ Ein Berber – ein Wort! Ich hatte nicht den leisesten Schimmer.

Wir fuhren zum Souk. Dieses vertraute Durcheinander, die leckeren Gerüche, ich sog es noch einmal auf. Azim ging zielstrebig mit mir zu einem Stand mit wunderschönen Djellabas.

„Nele, ich möchte dir noch eine kaufen.“ Ich sagte nichts, ich nickte nur.

„Darf ich dir eine aussuchen?“

„Klaro!“ Ich ließ dies einfach geschehen, wollte nicht darüber nachdenken, dass es sich um ein Abschiedsgeschenk handelte. Azim ließ sich nur weiße Gewänder zeigen, laberte mit dem Verkäufer und beachtete mich gar nicht mehr. Er war voll in seinem Element. Irgendwann hatte er sich entschieden. Irgendwie fühlte ich mich wie in einem falschen Film, denn er präsentierte mir einen Traum von Djellaba. Weiß, wunderschön verziert mit ganz zarten goldenen gestickten Ornamenten, Dazu passend ein durchsichtiger weißer Schleier, mit dem gleichen Muster verziert. Mich durchzuckte nur ein Begriff: HOCHZEIT. Er überreichte sie mir mit solcher Liebe und Stolz und ich musste mich sehr zurückhalten, ihn nicht mitten im Souk wie irre zu knutschen. Er lächelte, er verstand. Nun suchte auch er sich eine aus. Während er sich verschiedene Modelle zeigen ließ, stieg die Lautstärke zwischen den beiden Männern an.

Gleich würden sie sich an die Gurgel gehen und ich bereute, nicht ihre Sprache zu sprechen. Doch kaum hatte Azim sich für seine Djellaba entschieden, glaubte man, die beiden würden sich lieben. Zwei Männer – ein Herz und eine Seele. Ich schüttelte den Kopf, die waren schon ein bisschen ‚Balla‘. Azims Djellaba war matt glänzend und gestreift in zwei dunkelroten Farbtönen mit Stickereien an den Knöpfen. Er würde prächtig darin aussehen, eben wie ein Wüstenkönig.

Wir gingen weiter durch das Gedränge der Menschenmenge, bis wir vor unzähligen Schlappen, genannt ‚Babouchen‘ stehen blieben. Nach lautstarker Diskussion und Verhandlung mit dem Händler erwarb Azim passend zum Kleid, gold verzierte Babouchen aus weißem Leder, die vorne leicht spitz zuliefen. Für sich wählte er schlichte schwarze. Schon zog er mich weiter. Er schien wie im Fieber. Wir verließen den Souk durch einen der zahlreichen Ein - und Ausgänge. Ich trottete einfach mit, folgte im blind durch das Gewirr der Autos auf die andere Seite der Straße. Nach ein paar Metern betraten wir einen Laden und erst nun registrierte ich, dass es ein Fotograf war.

„Azim…?“ stotterte ich und hatte tausend Fragezeichen in den Augen.

„Malak, ziehe da hinten hinter dem Vorhang die Sachen an, bitte!“, sagte er ohne weitere Erklärung. Ich befolgte stumm seine Anweisung. Sofort kam eine Frau zu mir, lächelte mich an und fing ungefragt an, mir zu helfen. Ich ließ es geschehen. Sie kämmte mich, legte mir den Schleier gekonnt und lässig um den Kopf und schminkte mich wie eine Marokkanerin. Ich bekam dicke, schwarze Lidstriche und die Lippen bekamen ein sattes, kräftiges Rot. Sie war zufrieden mit ihrem Werk und nun durfte ich mich im Spiegel betrachten. Vor mir stand eine andere Frau. Ich war mir fremd und doch war ich ich. Nele, die marokkanische Frau.

Die Frau deutete mir, die Umkleidekabine zu verlassen und vor mir stand mein Wüstenkönig. Er sah umwerfend gut aus! Er strahlte und raunte mir zu: „Malak, du wunderschöne Braut, ich würde dich gerne jetzt sofort vernaschen.“

„Du bist unmöglich!“, gab ich zurück, aber die Vorstellung missfiel mir ganz und gar nicht. Der Fotograf schob uns in einen anderen Raum und wunderte sich nicht, denn mittlerweile hatten sie ja mitbekommen, dass ich eine Ausländerin war. Er schien nur am Geschäft interessiert zu sein.

Wir wurden vor einer Fototapete platziert, die so hässlich war, dass sie fast schon wieder schön war. Furchtbar kitschige Blumen in Übergröße und in grässlich schrillen Farben und Glitzer in Silber und Gold waren darauf in Übergröße abgebildet. Azim lachte und meinte, so sei es nun mal, der Hang seiner Landsleute zum Kitsch. Nun wurden wir angehalten, uns tief in die Augen zu sehen, danach sollten wir beide lächelnd und stolz den Fotografen anschauen. Dieser Moment war rührend und doch musste ich mich zurückhalten nicht gleich lachend loszuschreien. WAS war hier los? Azim bezahlte wir zogen uns wieder um.

„Die Bilder können wir morgen früh abholen. Er hat versprochen, sie noch in der Nacht zu entwickeln.“

„Aha“, war alles, was mir dazu einfiel.

Azim schleppte mich wieder zurück in den Souk. Nun steuerte er die Schmuckstände an und blieb entschlossen vor einem stehen. „Nele, meine süße Nele, es mag dir bescheuert vorkommen, aber ich möchte uns Ringe kaufen, als Zeichen unserer Liebe.“ Ich nickte. Ich glaube, hätte man mir diese Geschichte in einem Fernsehfilm präsentiert, ich hätte abgeschaltet. So viel Schmalz hätte ich nicht ertragen. Aber es war kein Film. Azim hatte einen Plan und ich gab mich dem hin. Und so suchte er auch die Ringe aus. Er hatte konkrete Vorstellungen und schnell hatten wir ein Paar gefunden, was uns passte. Azim schien sehr zufrieden mit sich. Nun ging es im Eiltempo zurück zum Auto. Geschickt manövrierte er uns durch Agadir.

Vor einem kleinen schäbigen Supermarkt hielt er an, sagte ich solle warten und schon war er in dem Laden verschwunden. Nach ein paar Minuten kam er mit einer dieser typischen dunkelgrauen Plastiktüten heraus und ich konnte nicht sehen, was er besorgt hatte.

Wir fuhren zurück zum Haus. Drin angekommen sammelte ich mich langsam.

„Azim, kannst du mir bitte jetzt erklären, was das Ganze hier soll?“ Er kam zu mir und sagte mir leise ins Ohr: „Nein“, und fing an mich auszuziehen. Er betrachtete mich, er verwöhnte mich, er bewunderte mich, er genoss es, mich zu verführen.

Wir waren selig eingeschlummert, es war früh dunkel. Azim küsste mich wach.

„Komm Wüstenkönigin, lass uns duschen.“ Ich wusste immer noch nicht recht, was er im Schilde führte, aber ich fügte mich. So duschten wir unter dem Rinnsal von Wasser, wir schäumten uns gegenseitig ein und wir liebten uns schon wieder. Als wir wieder frisch waren, bat er mich, mich ein wenig zu schminken, die Haare schön zu machen und dann die neuen Sachen anzuziehen. Er erschien in seiner dunkelroten Djellaba. Mir schwante etwas.

„Azim du hast doch nicht vor … du wirst doch nicht?“

„Schsch … bitte, lass es einfach zu! Bitte!“ Als wir fertig waren, nahm er einen Korb, darin zwei Gläser, eine Rose und das Päckchen mit den Ringen.

Wieder bestiegen wir sein Auto und fuhren durch Agadir. Ein letztes Mal im Dunkeln. Schon morgen würde … NEIN Nele! Du wirst nicht daran denken! Schon bald wusste ich, wo er hinwollte. Wir fuhren hinauf zur alten Kasbah von Agadir. Von dort oben hatte man einen irrsinnig schönen Blick auf Agadir, den Strand und das Meer. Die Kasbah war bewacht, aber Azim schien heute nichts zu teuer. Er bestach den Wärter mit einem anständigen Trinkgeld und er ließ uns etwas abseits in Ruhe und sorgte dafür, dass niemand uns störte. Es war ein lauer Abend, ein warmer Abendwind wehte, die Stadt mit ihren Lichtern lag uns zu Füßen. Azim nahm die Gläser aus dem Korb, öffnete eine Flasche Wein, goss uns ein, reichte mir ein Glas und fing an zu sprechen:

„Nele, ich hoffe inständig, du wirfst mich nicht gleich in die Tiefen. Ich möchte dich heute Abend symbolisch zur Frau nehmen, ich weiß, das ist sehr egoistisch von mir, aber ich werde das Leben besser ertragen, wenn du die Frau meiner Liebe bist. Ich werde diesen Ring immer tragen, ich will, dass so ein Teil von dir immer bei mir ist.“ Er sah mich mit großen, erwartungsvollen Augen an. Das hier war bescheuert, aber ja, ich wollte ihn genauso sehr. Wir liebten uns und daran würde sich nichts ändern.

„Ja Azim, das ist wirklich schön. Ich möchte es auch!“

Und so gab er mir die Rose, die so schön duftete. Dann nahm er die Ringe und nahm meine linke Hand.

„Ich nehme die Linke, weil man sagt, dass diese direkt zum Herzen geht.“ Und dann sprach er weiter: „Meine Wüstenkönigin, hiermit nehme ich dich zu meiner Herzensfrau. Ich will dich nie vergessen und ich werde dich immer lieben!“ Dann steckte er mir den Ring an. Ich nahm den anderen Ring und sprach: „Mein Wüstenkönig, hiermit nehme ich dich zu meinem Herzensmann. Ich werde dich nie vergessen und dich immer lieben!“ Und ich steckte ihm den Ring an. Wir küssten uns und er nahm mich fest in den Arm und wir schauten auf die Stadt hinunter. Und plötzlich war er wieder da, der Nebel und die Gedanken zogen uns fort …

Wir standen auf einem kleinen Felsplateau und schauten von dort in die Nacht. Die Sterne über uns funkelten klar wie Diamanten … Azim hielt mich fest in den Armen. Wir spürten diese Kraft zwischen uns, diese Zusammengehörigkeit, die mehr war als eine offizielle Verbindung … Wir waren erfüllt von Liebe …

Die Nebel zogen wieder weg und wir beide schauten gleichzeitig in den Himmel zu den Sternen. Wir mussten nicht mehr darüber sprechen, es war klar, dass wir immer zusammen in unsere Vergangenheit gingen. Würde mir jemand diese, unsere Geschichte auftischen, ich würde mich schlapp lachen über so eine Gefühlsduselei. Und wiederholt dachte ich, wäre es ein Film, ich würde ihn nicht sehen wollen. Aber alles war echt, es gab sie diese verrückte Geschichte von Nele aus Deutschland und Azim aus Marokko und Malak und Azim aus der ‚Früherwelt‘ in der Wüste.

Nachdem wir noch etwas Wein getrunken hatten, fuhren wir zurück. Eine letzte Nacht lag vor uns und ich durfte auf keinen Fall an morgen denken und an die kommende Zeit. Vor uns lag unsere ‚Hochzeitsnacht‘. Azim bat mich im Hof zu warten. Dann kam er zurück, hob mich hoch und trug mich ins Schlafzimmer. Dort hatte er viele Kerzen angezündet. Im Hintergrund lief leise marokkanische Musik und um das Bett herum hatte er Rosenblätter gestreut.

„Azim, wie wunderschön du das alles heute gemacht hast! Und ich habe nichts für dich!“

„Doch Malak, du bist da. Das ist es, was ich will!“ NEIN Nele, NICHT daran denken, er könnte ja haben, was er will! Schluss! Da ist dein Mann und nun beschenke ihn. Dieses Mal verführte ich Azim und nahm ihn mit in den Liebeswahnsinn. Er bekam ‚seine‘ Frau vollkommen mit Leib und Seele. Wir konnten nicht genug voneinander haben. Als wir später so da lagen schwiegen wir eine Weile. Ich spürte, dass Azim etwas auf der Seele lag.

„Nele, ich möchte es ungern ansprechen, ich will die letzten Stunden mit dir genießen, aber ich muss dir dennoch noch einmal etwas sagen. Ich liebe dich wirklich, aus tiefstem Herzen und indem ich dich heute mit dem Herzen zu meiner Frau gemacht habe, muss es dir wie ein Hohn vorkommen, dass ich trotzdem meine Entscheidung nicht ändere. Und ich weiß, wie wahnsinnig schwer es dir fallen muss, diese Tatsache zu akzeptieren. Ich weiß, du kannst es auch nur, weil unsere Liebe echt ist. Was aber nicht heißt, dass es deswegen weniger weh tut. Ich danke dir für alles, ich war nie glücklicher, als in diesen Tagen mit dir und mir tut es ebenso weh!“

Ich hatte mich bis jetzt unter Kontrolle, ich hatte es mir so sehr vorgenommen stark zu sein und diese Geschichte einfach hinzunehmen, aber nun brach es aus mir heraus. Ich fing an zu weinen, ich konnte nicht mehr aufhören, auch Azim weinte und wollte mich gleichzeitig beruhigen. Ich trommelte mit den Fäusten an seine Brust. Er drückte mich fester an sich, ich stieß ihn weg, er nahm mich wieder in den Arm. Ich konnte nicht mehr sprechen und ich begann ihn zu schlagen. Da stieß er mich nach hinten, ich lag auf dem Bett, er hielt mich fest und erneut liebten wir uns mit unserer gesamten Verzweiflung, fast schon brutal, aber der Schmerz brauchte ein Ventil.

Irgendwann waren wir zu erschöpft, um weiter zu denken. Wir hielten uns fest, wollten uns nur noch spüren, riechen, sehen. Immer wieder schlummerten wir ein, wurden wieder wach, aber richtig schlafen konnten wir nicht. Ich schaute ein paarmal auf diesen furchtbar kitschigen Wecker und versuchte ihn zu hypnotisieren, damit er endlich aufhören würde zu gehen. Aber ich bekam die Quittung dafür, dass ich ihn als hässliches Ding bezeichnet hatte. Er schlug unbarmherzig weiter. So lange, bis es Morgen wurde. Diesen Morgen, den ich schon jetzt hasste. Der Muezzin rief zum Gebet und ich schickte wütende Worte an den Gott da oben, der es zuließ, dass wir nun getrennt sein würden. Ich war wütend und dachte: „Pah, mein Freund da oben! WIR sind noch nicht fertig miteinander!“ Irgendjemand musste einfach meine Wut und meinen Schmerz und meine Angst vor der bevorstehenden Zeit abbekommen!

Azim schaute mir in die Augen und küsste mich unendlich liebevoll und zärtlich. Und ich küsste diese wunderschönen Lippen und tauchte ein in diesen Blick, der mich so sehr betörte. Wir streichelten uns, ich schnupperte an ihm und dann war es so weit. Ich musste aufstehen. Nele, sagte ich mir, du funktionierst jetzt einfach. Duschen, Kaffee trinken, Koffer packen, ins Auto steigen, zum Flughafen fahren, Heim fliegen, weiterleben wie früher! Ja, GENAU SO!

So bemühte ich mich nach Leibeskräften, mich an meine Ansagen zu halten. Azim und ich sprachen kaum, nur das Nötigste. Während ich mein ‚Hochzeitskleid‘ und all die anderen Erinnerungen packte, dachte ich, das ist doch alles nur ein Traum. All das was mir mit Azim passiert ist, kann nur ein Traum sein – gleich würde ich aufwachen und dann wäre auch der Schmerz, der sich dreist wagte, sich langsam in mich reinzubohren, weg sein.

Als ich fertig war, hielt Azim mir einen Kaffee hin. Ich schlürfte langsam und sah mich noch einmal um, in dem fremden Haus, dass mir für ein paar Tage ein Zuhause geworden war. Plötzlich wurde ich hektisch. Ich musste die letzten Minuten mitnehmen, festhalten und ich wühlte in meiner Handtasche nach dem Fotoapparat. Ich fotografierte wie besessen alles. Bis zur Toilette. Dann hielt ich die Linse auf Azim, gefühlte tausendmal. Heimlich schnappte ich mir noch das T-Shirt, das er getragen hatte und achtlos aufs Bett geworfen hatte und versteckte es schnell im Koffer. Durch diese, für mich mal wieder typische und bescheuerte Aktion, hatte ich keine Zeit mehr für ein kleines Frühstück. Azim meinte, wir müssten ja noch den Umweg zum Fotografen machen, um unsere Fotos von gestern abzuholen und wir würden am Flughafen etwas essen. Es war nicht aufzuhalten. Azim wollte schon ins Auto steigen und ich verstand nicht.

„Azim, wir können uns nicht in der Öffentlichkeit küssen. Möchtest du dich nicht richtig von mir verabschieden?“ Verlegen kam er zurück.

„Nele, ich dachte, es wäre besser so.“ Er küsste mich, aber ich spürte, dass er mit Gewalt nicht mehr viel Gefühl da reinlegte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Adieu, meine Stadt, ciao Chaos, Krach, Geruch. Azim hielt vor dem Fotogeschäft und kam wenige Minuten später mit zwei Umschlägen wieder raus. Er übergab sie mir wortlos und ich sah seine feuchten Augen. Am Flughafen angekommen begleitete er mich noch in die Abflughalle, aber ich bemerkte seine Angespanntheit.

„Azim, hast du Angst, dass deine Kollegen dich sehen?“

„Nein, nein, alles okay! Du kannst schon mal einchecken, ich komme gleich wieder. Dann können wir noch eine Kleinigkeit essen. Passt das, meine Wüstenfrau?“

„Ja klar.“ Ich bewegte mich zum Schalter und drehte mich noch einmal um. Auch er drehte sich um und dann war er draußen. Ich ahnte etwas. Nachdem mein Gepäck aufgegeben war, wartete ich noch ein paar Minuten. Dann ging ich nach draußen, um nach ihm zu sehen. Kein Azim weit und breit. Ich zückte mein Handy. Er ging ran. „Nele, ich bin gleich wieder da.“ Ich wurde tierisch nervös. Er würde doch nicht einfach so wegfahren, DAS würde er doch NICHT tun! Nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckte ich seinen Freund Youssef. Ich lief zu ihm.

„Hi, nett, dich zu sehen.“

„Hi, fliegst du zurück?“

„Ja.“

„Schade, du hast mich versetzt, hast mich nicht auf einen Drink besucht.“

„Das nächste Mal versprochen! Sag mal, hast du Azim gesehen? Ich warte auf ihn.“ Youssef kräuselte fragend die Stirn. Verdammter, großer Mist! Ich dusselige Kuh! Jetzt hatte ich mich verplappert! Wie kam ich nun aus der Nummer raus? Aber Youssef war schneller.

„Ach, SO ist das. Du bist mit Azim verwandt. Hättest du mir auch erzählen können!“ Sein Ton triefte vor Ironie. Und schon hatte er sein Handy gezückt und wählte eine Nummer. Oh nein, bitte nicht! Doch, er hatte Azim angerufen.

„Azim, mein Freund. Wo steckst du? Deine ‚Verwandte‘ wartet am Flughafen auf dich.“ Und er lachte und dann hörte ich die beiden fast schon brüllen in ihrer Sprache, die ich nicht verstand.

„Nun, Liebes, dein Azim ist unterwegs zu seiner Verlobten, ich soll dich grüßen. Er kann leider nicht mehr kommen, um sich zu verabschieden.“ Sein fieses Grinsen hätte mich fast dazu gebracht, ihm so richtig eine mitten ins Gesicht zu schlagen. Die Lust dazu war riesengroß, aber ich hielt mich zurück.

„Tja, meine Liebe, das hättest du mit mir nicht gehabt. Wir hätten jede Menge Spaß gehabt und ich bin frei! Guten Heimflug.“ LIEBER GOTT, LASS MICH NICHT SPUCKEN! Ich drehte mich um und ging. Wie bitte sollte ich diese Situation aushalten? Azim war einfach verschwunden! Dieser Schweinehund, dieses riesengroße Miststück, dieser Wüstenhurensohn! Oh Azim, mein Wüstenkönig …

Wie leistet man erste Hilfe bei sich selbst? Atmen? Ja atmen war gut! Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, immer wieder und schön tief! Nicht denken, auf keinen Fall denken! Funktionieren, einfach weiter funktionieren! Ich ging mechanisch Richtung Gate, ließ alle Kontrollen über mich ergehen, ich war praktisch gar nicht mehr richtig anwesend. Ich nahm nichts mehr richtig wahr, ich setzte mich einfach hin und wartete auf den Flieger. Irgendwann muss ich doch einmal kurz ins hier und jetzt zurückgekehrt sein, denn ich nahm war, dass mein Körper auf die Toilette wollte. Mir wurde schwindelig beim Aufstehen, ich hatte schon ewig nichts mehr gegessen und fast nichts getrunken, aber sollte ich hier umfallen - von mir aus! Irgendwie funktionierte es doch und als ich aus der Toilette kam, wurde zum ‚Boarding‘ aufgerufen. Die letzten Meter auf dem Rollfeld, kurz bevor ich die Treppe zum Flugzeug bestieg, durchstach mich ein Schmerz, bohrte sich wie ein Dolch durch mich hindurch, ich wollte schreien, aber kein Laut verließ meine Kehle … Ich bückte mich, streichelte ein letztes Mal den marokkanischen Boden. Mein Marokko. Mein Schicksal. Schon wieder … und doch niemals mehr …

Ich fand meinen Platz und hoffte, niemand würde sich neben mich setzen, der nervte. Ich hatte Glück. Der Flieger war nicht voll und meine Sitzreihe blieb leer. Ich wollte allein sein, mit all meinen Gefühlen. Das Flugzeug rollte an, gab Gas, erhob sich in die Lüfte. Letzte Blicke auf mein Land, unser Land. Ich dachte in diesem Moment, ich müsse sterben.

In diesem und im anderen Leben

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