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FÜNF

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Wie bereits nach dem ersten Eintrag, fiel es mir auch gestern wieder schwer, die Lektüre wegzulegen. Das Mädchen, oder die Frau, sie ist ja erst 20 Jahre alt, ich habe Schwierigkeiten, sie bereits als erwachsene Frau zu sehen, erweckt mein Mitgefühl.

Sicher, sie hat sich selbst in diese Situation gebracht und ich könnte mir niemals vorstellen, in eine ähnliche Situation zu kommen, schon ihr Trip, ganz allein nach Italien, ist für mich unverständlich und wie man dann so naiv sein kann, zu glauben mit Prostitution „leicht“ Geld zu verdienen, erschließt sich mir nicht. Doch mein Interesse ist geweckt, wenn ich auch nichts, aber auch gar nichts mit dieser Frau gemeinsam habe, so möchte ich doch dringend wissen, wie es mit ihr weitergeht.

Ich sollte vielleicht nicht so schnell urteilen, eventuell tue ich ihr unrecht.

Da mir die Musik der 80iger schon immer sehr gut gefallen hat, habe ich mich mit diesem Jahrzehnt etwas näher beschäftigt. Ich bin zwar Mitte der 80iger geboren, aber mal ganz ehrlich, wer erinnert sich schon an die ersten fünf bis sechs Jahre seines Lebens. Wenn überhaupt, dann erinnert man sich an die Dinge, die unmittelbar in der Familie, oder im Freundeskreis passieren, das Weltgeschehen nimmt man in diesem Alter wirklich noch nicht wahr.

Immer wenn ich mir Berichte über dieses Jahrzehnt ansehe, fällt eines ganz besonders auf, so ziemlich jeder der zwischen 1975 und 1985 ein junger Erwachsener war, hatte damals das unbestimmte Gefühl, er würde seinen dreißigsten Geburtstag nicht erleben.

Es war die Zeit des „Kalten Krieges“.

Den Westmächten, allen voran den Amerikanern, den Franzosen und den Deutschen, stand die damalige Weltmacht Russland gegenüber. In Deutschland waren Atomraketen stationiert und die Grenze zu Russland war gefühlt, im geteilten Berlin.

Unterschwellig war die Bedrohung immer da.

Tausende Soldaten waren in Deutschland stationiert, allein in Augsburg gab es drei Kasernen und amerikanische Soldaten gehörten ebenso zum Stadtbild, wie die Trambahnen, oder die Taxis. Dass in Russland jemals ein Mann, wie Gorbatschow an die Macht kommen könnte, der Ende der 80iger Jahre den Mauerfall ermöglichte, war Anfang des Jahrzehnts unvorstellbar.

Vor diesem Hintergrund ist ein Gedankengang, wie ihn diese Frau wohl hatte, nicht mehr sosehr von der Hand zu weisen. Wenn sie ebenfalls davon ausging, in die kurze Zeit, die ihr vielleicht bleibt, so viel Leben zu packen, wie irgend möglich, dann wird ihr Wunsch nach dem schnellen Geld etwas verständlicher.

Immer noch schwer nachvollziehbar für mich, aber verständlicher.

***

Die Aufzeichnungen fesseln mich so sehr, dass ich beschließe meinen Aufenthalt hier in der Pension um einen Tag zu verlängern und mache es mir im angrenzenden Biergarten bei einem ausgiebigen Frühstück gemütlich.

Montag

01.Sept.1980

Hallo liebes Tagebuch,

inzwischen habe ich gelernt, dass das „Falle schieben“ viel einfacher ist wenn ich oben sitze und dass ich eine ausgezeichnete Schauspielerin – im Hinblick auf die Ablenkung – bin. Was aber leider nicht darüber hinweg täuschen kann, dass ich mir das alles viel einfacher vorgestellt hatte.

Bei den Freiern ist nicht einer dabei, der mir auch nur annähernd sympathisch ist, im Gegenteil, ich finde die Männer durchweg ekelhaft, ja geradezu widerlich.

Einzig der Gedanke an das viele Geld, ich verdiente tatsächlich einen Arsch voll Kohle und die Tatsache, dass ich die Typen ja eigentlich nur verarsche, halten mich bei der Stange und Alkohol natürlich. Auch die Tatsache, dass der Akt an sich immer sehr schnell vorbei ist, lässt es mich aushalten, dass ich meinen Körper verkaufe.

Eines der Mädchen erzählte mir heute, dass ich, wenn ich wirklich schnell viel Geld verdienen möchte, mich nie länger als vier bis acht Wochen in einer Stadt, aufhalten sollte.

Freier wollen „Frischfleisch“, neue Mädchen verdienen immer am besten.

Um Stammfreier zu bekommen, bin ich augenscheinlich nicht freundlich genug.

Ich halte mich jetzt seit einer Woche hier auf und obwohl ich immer wieder Freier sehe, die erst vor ein paar Tagen mit mir auf dem Zimmer waren, kommen sie doch nicht zu mir zurück. Was für mich im Grunde in Ordnung ist, aber doch zeigt, dass ich dem Rat der Frau nachkommen sollte.

Ich bin ungebunden und frei, also was hält mich – auf zu neuen Ufern.

Mittwoch

17.Sept.1980

Hallo liebes Tagebuch,

da bin ich wieder, gerade frisch angekommen in Böblingen, einer Kleinstadt in der Nähe von Stuttgart. In der Zeitung wurden Frauen für ein Prostituiertenwohnheim gesucht.

Da gibt es nichts zu lachen, der Puff nennt sich tatsächlich so.

Rückblickend hätte ich sofort nach der Erläuterung der Hausordnung wieder gehen sollen.

Ich tat es nicht.

Als ich heute gegen Mittag ankam, wurde mir eröffnet, dass „Falle schieben“ nicht erlaubt sei.

O- Ton – hier wird sauber gearbeitet.

Haben die sie noch alle?

Gut, ich dachte mir, rede du, ich mache was ich für richtig halte.

Kobern“ war auch verboten.

Ja, liebes Tagebuch, habe es schon kapiert, muss ich kurz erklären.

Im Normalfall ist es so, dass die Freier im „Kontaktraum“, meist ein Raum mit einer Bar, angesprochen und heiß gemacht werden. Man nennt dann einen Ausgangs- oder Anfangspreis, mit dem man den Freier erst einmal aufs Zimmer lockt, hat man ihn dann auf dem Zimmer, ist es meist ein Leichtes mehr Geld, als Anfangs ausgemacht zu bekommen. Man bietet vielleicht an, Dessous zu tragen, oder man schwärmt dem Mann vor, dass man ganz wahnsinnig auf Oralverkehr steht, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, kostet alles natürlich mehr.

Der Typ ist geil, sein Blut steckt im Schwanz, nicht mehr im Hirn.

Hört sich böse an, ist aber so.

Diese Vorgehensweise nennt sich „Kobern“.

Ein absolut gängiger Vorgang, der in jedem Haus praktiziert wird.

Wie sich im Verlauf meiner, zugegeben erst kurzen Tätigkeit herausstellte, bin ich darin ein wahres Genie und hier soll dies nicht gestattet sein?

Geradezu lächerlich.

Nun ist es hier jedoch leider so, dass das gesamte Obergeschoss dieses Hauses, wo sich die Arbeitszimmer befinden, ursprünglich ein einziger großer Raum war, der nur durch Leichtbauwände in mehrere kleinere Räume eingeteilt wurde. Diese Wände reichen nicht bis an die Decke und sind so dünn, dass Gespräche aus den Nebenzimmern, nahezu Wort für Wort mitgehört werden können, sofern man darauf Wert legt.

Ganz richtig liebes Tagebuch, es kommt, wie es kommen muss.

Ich werde erwischt.

Nachdem ich meinen Freier verabschiedet habe, werde ich in den Kontaktraum, geradezu beordert und von zehn aufgebrachten Nutten zur Sau gemacht.

Was denken sich diese Schlampen eigentlich?

Sich hinlegen, die Beine breit machen und sich von jedem Hans und Franz durchficken zu lassen ist nun wirklich keine Kunst und genauso sagte ich ihnen das auch.

Ich spukte Gift und Galle, wie habe ich in diesem Moment diese Frauen verabscheut.

Kurz bevor ich mich, wütend und aufgebracht wie ich war, auf die Meute werfen wollte, mischte sich der Wirtschafter des Ladens ein und brachte mich in Sicherheit. Kurz entschlossen zerrte er mich in sein Büro, drückte mir seinen Hausschlüssel in die Hand, rief ein Taxi und bat mich, bei ihm zu Hause auf ihn zu warten, meine Habseligkeiten würde er mitbringen.

Völlig überrumpelt und noch immer sehr aufgebracht, wurde mir klar, dass er mir wohl soeben zwar nicht gerade mein Leben gerettet hat, aber mir mit seinem Eingreifen, wohl einige Blessuren erspart hatte und ich willigte ein.

Erni, so heißt der Typ, ist sehr amüsiert über meinen Auftritt und bewundert meine Courage, mich gegen mindestens zehn wütende Frauen stellen zu wollen. Außerdem ist er voll und ganz meiner Meinung, Frauen die sich so billig verkaufen und noch nicht einmal versuchen „Falle zu schieben“, hätten auch von ihm keinen Respekt verdient.

Ich bin auf einen Zuhälter der alten Schule getroffen.

Ich hatte es schon in den letzten Tagen in Kassel bemerkt und jetzt bestätigte Erni mir, dass sich die Zeiten gerade verändern und ich mich, wollte ich den Job nicht aufgeben, wohl oder übel damit abfinden muss, mich vögeln zu lassen.

Ich hatte ein ganz schlechtes Timing in Bezug auf meine berufliche Zukunft.

***

Das Mädchen hat wirklich Mut, ich hätte die Beine in die Hand genommen und wäre abgehauen, oder ich hätte mich der Mehrheit gefügt. Prinzipien scheint sie ja zu haben, das ringt mir, zu meiner eigenen Überraschung, schon Respekt ab.

Doch dann nimmt sie einfach die Schlüssel eines ihr völlig fremden Mannes und fährt in dessen Wohnung.

Wirklich unglaublich.

Das würde mir im Traum nicht einfallen. Angst kennt diese Frau wohl gar nicht.

Genauso gut könnte der Typ ein Perverser sein und sie hockt bei ihm in der Wohnung, ihm hilflos ausgeliefert. Ich ärgere mich richtig über so viel Naivität, schlage die Kladde zu und mache erst einmal einen langen Spaziergang.

Die letzten Zeilen haben mich richtig aufgewühlt.

LOST AND FOUND

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