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Auswirkungen auf die heutigen Lebenswirklichkeiten

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Wie schon kurz erwähnt beeinflusst der Entstehungshintergrund des Wertbegriffes und die folglich entstandenen Bewertungsskalen das heutige Leben in einem außergewöhnlichen Umfang.

Es ist in den Gesellschaften völlig normal, dass einfach alles, ob Beziehungen, Dinge, Handlungen (ebenso und besonders die Sexualität), sonstige Lebensumstände, etc. einen Wert haben müssen und einer Wertbeimessung unterliegen, da sonst im Verständnis des Menschen buchstäblich jeweils der Sinn fehlen würde. Ohne Wert würde demnach das Leben an sich keinen Sinn haben und machen, also nicht lebenswert sein. Dem Leben und damit ebenfalls der eigenen Person muss Bedeutung zugeschrieben und gegeben werden.

Der Mensch vergibt einerseits Wertigkeiten bzw. Wertbeimessungen, um sie sich wieder auf der anderen Seite anzueignen, so den Wert auf sich selbst zu übertragen und die persönliche Wertigkeit zu steigern.

Ein Beispiel: Produkte werden mit einem hohen Wert (Preis) versehen oder mit Bedeutung befrachtet (sinnbildlich: hohes Befriedigungspotenzial bzw. –wirkung; Marken- und keine No-Name-Artikel) und über die Besitznahme wird versucht, den Menschen mit dieser Wertigkeit aufzuladen respektive an dieser Wertigkeit partizipieren zu lassen. In diesem Zusammenhang ist auch die Idolbildung zu sehen. Je größer der jeweilige Wert, desto größer der vermutliche Befriedigungs- und Partizipationsfaktor.

Diese Suche und Orientierung nach Wert und Nutzen hat zum Leistungsgedanken und -leitbild geführt (Motto: „besser sein als andere“, konkurrieren um Wertigkeit), die die für den Selbstwert notwendigen (Ersatz) Befriedigungen realisieren sollen.

In der kapitalistischen Wirtschaftsform hat jenes zur Folge, dass einerseits alles (s) einen Preis haben muss und auf der anderen Seite je höher ein Preis, je bekannter eine Marke oder ein Mensch, je größer das darauf begründete Image und je erfolgreicher ein Mensch oder Produkt sind, desto wertvoller, besser, begehrenswerter, attraktiver, erstrebenswerter und vorbildhafter scheint die Sache, der Zustand oder die Person zu sein.

Der moderne Mensch treibt diese Einteilungen und Wertzumessungen auf die Spitze und bis zum Exzess (Stichwort: Superlative), in dem er zum Beispiel in sportlichen Wettkämpfen nicht nach Sekunden, nicht nach Zehntel-, hingegen nach Hundertstel- und sogar Tausendstelsekunden misst, oder die Geschwindigkeit der Datenübertragung mit kaum vorstellbaren Dimensionen vonstattengeht, oder die Beschleunigung von Kraftfahrzeugen immer mehr steigert, oder die Kurse an der Börse, die sich sekündlich und mittlerweile nanosekündlich – teils mit dramatischen Ausmaßen - ändern und demgemäß die Bewertungen von Firmen, Rohstoffen oder sonstiger Vermögenswerte.

Rekorde, vor allem bei Schnelligkeit, Größe (u. a. Datenvolumen, höhere Leistungsfähigkeiten, aber gleichfalls in Bezug auf wirtschaftliche Güter {Reichtum}) und Kompaktheit (u. a. Nanotechnologie, permanente Verkleinerung von Geräten), sind die besonderen Steckenpferde menschlicher Kategorisierung, Wertskalierung und Wertbeimessung. Die Kategorisierung wird zum Wert an sich.

Darüber hinaus gibt es nahezu keinen Bereich, der nicht auch einer Bewertung unterworfen ist, ob in Form von Bemessungseinheiten, Benotungen, Bestsellerlisten, Tabellen, Statistiken, Wettkämpfen, Wahlen, Ehrungen, Auszeichnungen, Orden oder sonstiger – häufig (selbst) beweihräucherungsgemäßen – Preisen.

Hier nur einige, stellvertretende und veranschaulichende Beispiele, zumal die Liste hinsichtlich ihrer Länge sonst den Rahmen sprengen würde.

Ob Schönheitskönigin, die schnellsten Sportler, das höchste Gebäude, die bestgekleidete Person, der größte Intelligenzquotient, der stärkste Motor, die am höchsten ausgezeichnete Sterne-Küche, das Volumen größte Kreuzfahrtschiff, die höchste Einschaltquote eines Fernsehfilms, der beste Studienabschluss, das meistgekaufte Buch oder CD, die teuerste Immobilie, der reichste Mensch, das höchste Einspielergebnis eines Kinofilmes, das teuerste Kunstwerk, das höchst bewertete Unternehmen der Welt, der stärkste Mensch, das höchste Jahreseinkommen, der volumengrößte Autohersteller, die schnellste Speed-Bergbesteigung, das risikoreichste Abenteuer, die mächtigste Frau bzw. der mächtigste Mann, die größte Legende, an allem müssen ein Wertmaßstab und eine Einwertung angelegt werden.

Den diesbezüglichen menschlichen Ideen - und man kann durchaus von spezieller Hybris und Paranoia sprechen, besonders sobald die damit verbundenen sozialen, gesellschaftlichen und umweltgemäßen Konsequenzen dieser Grundhaltung mit einbezogen werden - sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt.

Diese Ausrichtung ist auf „Mehr-Wert“, auf Zuwachs bzw. Steigerung von Wert angelegt und eine wesentliche Ursache für die Fokussierung der Menschen auf Wachstum.

Über wachstumsgetriebene Ersatzhandlungen – wohlgemerkt äußeres Wachstum im Sinne von immer mehr an Erfolg, Status, Aufmerksamkeit, Reichtum, Güteransammlung, etc., alle Aspekte der modernen Lebensverhältnisse – versucht der Mensch unbewusst die Befriedigung seiner ursprünglichen Bedürfnisse zu erreichen, die in der Kindheit frustriert wurden, deshalb ein Leben lang im psychischen Untergrund gegenwärtig sind und auf Satisfaktion drängen.

Wie schon im Kapitel „Definition Identität“ aufgeführt, liegt die ausschlaggebende Motivation der Wachstumsorientierung in der nachlassenden Befriedigungswirkung der Ersatzhandlungen (Defizit an Wert), die, um einen einigermaßen ausreichenden Befriedigungswert zu erlangen, in ihrem Ausmaß und Gehalt ständig bestätigt und gesteigert werden müssen.

Interne, psychische Verlangen werden mit externen Ersatzhandlungen erfüllt, wobei die psychischen Urbedürfnisse seit Jahrtausenden nahezu unverändert sind, die Art der Ersatzhandlungen sich aber den modernen Lebensverhältnissen angepasst hat und dies nach wie vor der Fall ist (laufender Prozess).

Oberflächlich betrachtet wird in diesem Zusammenhang dann von der vorhandenen Anlage des Menschen gesprochen (Stichwort: Natur bzw. Naturell), sich stets nach Anerkennung zu bemühen, immer höher hinaus, immer mehr und immer gewinnen zu wollen oder von dem Streben nach dem Besseren, dem Größeren und dem Außergewöhnlichen, dessen Antrieb in der Natur des Menschen liegt.

Dieser Verweis auf die vermeintliche wesensgemäße Disposition für die genannten Verhaltensweisen kommt einem Freibrief gleich, da der Mensch sich durch diese Argumentationslinie von einem kritischen Hinterfragen seines Handelns entbindet und eine einfache Rechtfertigung nach der Devise „zutiefst menschlich“ präsentieren kann (Motto: „Der Mensch kann sich nicht grundlegend ändern, er ist so, wie er ist.“).

Anders formuliert: Der Mensch bemüht sich – unbewusst – seine psychischen Notwendigkeiten über materiellen Konsum und weitere gehalt- und substanzlose Verhaltensweisen zufriedenzustellen und bildet auf diese Weise lediglich eine auf Schein und Fassade basierende, in ihrer Befindlichkeit instabile, Pseudo-Identität.

Die Ausrichtung auf die Erzielung von „Mehr-Wert“ zeigt sich hauptsächlich in der Profilierung, dem Abgrenzen und dem Hervorheben der eigenen Person im Vergleich zur Umwelt, wobei diese Ausrichtung nicht nur auf einzelne Menschen zutrifft, jedoch ebenfalls Gruppen und ganze Nationen mit einbezieht und Nährboden für die Diskreditierung anderer Menschen ist.

Das bedeutendste und offensichtlichste Mittel im täglichen Leben zur Dokumentation einer Wertbeimessung ist das Geld. Geld ist in der heutigen Zeit allerdings nicht bloß ein bestimmender wirtschaftlicher Faktor und Zahlungsmittel (mit materiellem Wert), hingegen gleichwohl Synonym für Anerkennung, Akzeptanz, Annahme, Liebe, etc. (mit immateriellem Wert).

Wenn ein Mensch mehr Geld verdient, dann kann er sich nicht nur mehr oder teurere Güter leisten (die meistens wiederum mit einer angemessenen Wertigkeit/Status versehen sind), sondern desto mehr fühlt er sich – unbewusst - anerkannt und bestätigt. Diese Systematik unterliegt auch der Maxime „je mehr, desto besser“ und erklärt, warum manche Menschen – salopp ausgedrückt - den Hals nicht voll bekommen können bzw. unersättlich sind, weil die im Hintergrund bestehende Kausalität berücksichtigt werden muss.

Eine Nebenbemerkung: Die Vorstellung vom modernen Menschen ist eine weitgehende Illusion, obwohl der Geist zwar in der Regel modernen Ansprüchen genügt, aber die Seele im Kern altmodisch ist. Unter altmodisch darf in diesem Kontext nicht veraltet, rückständig und überholt verstanden werden, indessen bezieht sich der Begriff des Altmodischen auf Attribute wie echt, originär, ursächlich und der Natur entsprechend.

Der moderne Geist, der verantwortlich für die Entstehung moderner Ersatzhandlungen ist, überfordert den Menschen und seine Psyche zunehmend, am besten zu sehen am wahnwitzigen Globalisierungstempo mit seinen Veränderungs-, Rationalisierungs-, Optimierungs- und Innovationsauswüchsen.

Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 4)

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