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Selbstwert und Selbstwertgefühl

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Der Selbstwert stellt die Beschaffenheit der psychischen Konstitution in qualitativer und quantitativer Hinsicht dar. Er ist eine Größe, die nicht von Geburt an besteht, sondern bis auf einen gewissen anlagebedingten Grundsockel ein Entwicklungsprodukt des menschlichen Auf- und Heranwachsens ist.

Im Selbstwert sind die frühkindlichen und kindlichen Erfahrungen, Bedürfniserfüllungen und Frustrationen als substanzieller Bodensatz im Sinne einer Basis, die den statischen, festen Bereich des Selbstwerts ergibt, gebündelt und strukturiert. Diese - abstrakt formuliert - unterste Schicht beinhaltet die primäre bzw. erstrangige psychische Substanz, die hinsichtlich der Konsistenz und Qualität am stärksten und besten und folglich am wichtigsten ist.

Hinzu addiert sich die im Laufe der Zeit (spätere Kindheit, Jugend, frühe Phase des Erwachsenseins) dank der individuellen Lebenssituation (angesammelte Erfolgserlebnisse, Bestätigungen {nicht zu verwechseln mit Selbstbestätigungen} und Enttäuschungen, auch vermittelt von den weiteren Identitätsstiftern) gebildete nachrangige, sekundäre psychische Substanz, die auf der vorhandenen Basis aufbaut und als zweite Schicht zu bezeichnen ist. Dieser Bereich ist ein dynamischer, sich verändernder.

Als Maßstab für die positive oder negative Bewertung der angesprochenen Erlebnisse und die anschließende Transformation in psychische Substanz oder gleichfalls in ein psychisches Defizit dient die Vorgabe des menschlichen Bauplans (konkrete fundamentale Erwartungen im Sinne der notwendigen Grundbedürfnisse und -bedingungen) unter Einbeziehung der Urangst.

Das Zeitfenster der Frühkindheit und Kindheit ist deshalb eine so elementare Periode für die Entfaltung eines Selbstwertfundaments, da die selbstwertgemäße Konsistenz wegen der altersgemäßen, unbewusst gefühlten Minderwertigkeit im Bezug zu Erwachsenen (Stichwort: totale Abhängigkeit) und der nicht verfügbaren Abwehrmöglichkeiten überdies nicht gefestigt – bildlich gesehen noch flüssig - ist. Das sich aufbauende identitätsgemäße Gleichgewicht ist in dieser Zeit sehr labil und fragil.

Das Kind reagiert daher äußerst sensibel auf entsprechende, oft unüberlegte Äußerungen und Handlungen der erwachsenen Bezugspersonen und fühlt sich schnell entwertet. Bisher erreichte Selbstwertsubstanz durch positive Bedürfniserfüllungen kann somit in Kürze wieder zunichtegemacht werden.

Vergleichbar mit einem Baufundament, bei dem der Beton (= erstrangige psychische Substanz) noch nicht ausgehärtet ist und infolgedessen bei Betreten mehr oder minder starke bzw. tiefe Abdrücke (= Entwertung) entstehen, die die Qualität des Fundaments nachhaltig (lebenslang) negativ beeinträchtigen.

Der Selbstwert ist die persönliche, den psychischen Bereich betreffende Bilanz (Aktiva und Passiva) eines Menschen, die zwar weder bewusst wahrnehmbar noch genau messbar, aber dennoch real ist und sich im Grad der Stärke, (Tat) Kraft, Lebensenergie, Stabilität und Ausgewogenheit zeigt und manifestiert.

Der Selbstwert besteht ergo aus dem in der frühen Kindheit und der Kindheit gebildeten Substanzumfang, der das Fundament, ob stark oder schwach, ist und dem mit dem Grundstock verbundenen, weil darauf an- und aufsetzend und sich auf die aktuellen Lebensereignisse anpassenden, Segment.

Der Zustand und die Beschaffenheit des Selbstwerts werden erst durch das Auftreten von Persönlichkeitsproblemen sichtbar, ob in Form von selbstgefühlten Defiziten oder anhand des sozialen Vergleiches mit anderen Menschen.

Der Selbstwert, zwar bis auf die Basis nicht statisch, ist ein substanzielles Faktum und kein bloßes Gefühl, das je nach individueller Stimmungslage einmal groß und das andere Mal klein ist.

Es ist darum falsch, wenn behauptet wird, dass das Selbstbild über den Selbstwert entscheidet, als würde der Glaube an sich oder Autosuggestion ausreichen, um den Selbstwert positiv zu beeinflussen bzw. überhaupt zu erzeugen.

Selbstwert und Selbstwertgefühl, häufig fälschlicherweise mit Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen als identisch angesehen, bedeuten nicht das Gleiche, sondern müssen differenziert betrachtet werden.

Das Selbstwertgefühl bezieht sich nicht nur auf das unterschwellige psychische Gut Selbstwert, denn es spiegelt auch die Summe der nachgelagerten, aufgrund der selbstwertgemäßen Lage erforderlichen psychischen Reaktionsformen (u. a. Verdrängungen, Rationalisierungen, Neurosen, Psychosen) und den folglich initiierten Kompensationen und Ersatzhandlungen mit ihren speziellen, sehr unterschiedlichen Befriedigungswerten wider. Zusätzlich fließen in das Selbstwertgefühl ebenfalls alltägliche Erlebnisse positiver und negativer Natur mit ein.

Das Selbstwertgefühl als das Gefühl für den Status der eigenen Persönlichkeit mit ihren Fähigkeiten und Mängeln, also die subjektive und selektive Wahrnehmung des bewussten Ichs, unterliegt wegen der vielfältigen laufenden Beeinflussungen in Gestalt von Ereignissen und Erfahrungen, die mal bestärkend, mal abwertend ausfallen, erheblichen Schwankungen bezüglich seiner Verfassung, die, je nach Art der Beeinflussung, entweder als stark oder als schwach (respektive positiv oder negativ) empfunden wird.

In diesem Zusammenhang spielen auch die gesellschaftlichen Normen, der sogenannte Zeitgeist (was gilt als erstrebenswert, was nicht?) und der vergleichende Moment (was stellen andere Menschen dar und was man selbst, ob in puncto Aussehen, Fähigkeiten, Besitz, etc.) wichtige Rollen für die jeweilige Qualität des Selbstwertgefühls.

Die Heftigkeit und Häufigkeit der Schwankungen ist wiederum abhängig von der Stabilität des Selbstwerts. Je gefestigter, substanzieller, energiegeladener und demgemäß sicherer der Selbstwert (das Fundament) ist und deshalb Ersatzhandlungen und –befriedigungen eine untergeordnete Bedeutung einnehmen, desto unmittelbarer strahlt die existente Kraft des Selbstwerts auf das Selbstwertgefühl aus (positives Gefühl aus sich selbst heraus) und desto weniger anfällig ist dieses für externe Einflüsse.

Im Ergebnis hat dieser Mensch ein gleichmäßigeres, vitaleres und widerstandsfähigeres Selbstwertgefühl, da die emotionale Schwankungsbreite geringer ist.

Im gegenteiligen Fall, bei einem schwachen mit vielen Defiziten versehenen Selbstwert, herrscht ein hoher Grad von Angewiesenheit auf externe, Energie absorbierende Ersatzhandlungen vor, deren Befriedigungsniveau höchst unterschiedlich und meist nicht lange anhaltend ist. Die Konsequenz ist eine lediglich temporäre Bestandsdauer des Selbstwertgefühles angesichts der ständigen Änderungen, weil der Betroffene in relativ kurzen Abständen ein stimmungsgemäßes Hin und Her bzw. Auf und Ab erlebt.

Dem Gefühl der (vermeintlichen) Stärke, Sicherheit und Zufriedenheit folgen in schnellem Wechsel die Empfindung der Schwäche, Unsicherheit und Unzufriedenheit. Der Ausspruch „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ umschreibt diesen Personenkreis sehr gut. Das Gefühl der Euphorie wird schnell vom Fall ins „tiefe Loch“ abgelöst. Die Schwankungsbreite und damit implizierte Instabilität und zudem Manipulierbarkeit der Persönlichkeit sind viel größer.

Die Abhängigkeit von äußerer Bestätigung ist ferner deswegen so problematisch, da der Betroffene sein Verhalten so lenken und anpassen muss, dass er die benötigte Bestärkung von anderen Personen erhält. Er steckt buchstäblich in einer Bestätigungsfalle. Aufgrund des defizitären Grundzustandes muss er immer auf der Suche nach Situationen und Menschen sein, die ihm Anerkennung ermöglichen, verschaffen oder zu Teil werden lassen.

Diese Menschen werden ihr Leben lang von außen geformt und gestützt und können ihre tiefen Bedürfnisse und Vorstellungen nicht ausleben, was unweigerlich zu einer dauerhaften Frustration und somit Festigung oder auch Verstärkung des negativen selbstwertgemäßen Befindens führt.

Der Betroffene hängt am Gängelband der Selbstwertgefühlstifter, kann keine wirklich eigenständigen Wege beschreiten und Entscheidungen treffen und lebt in latenter, unterschwellig präsenter Angst vor Bestrafung und Entwertung durch Bestätigungsentzug. Die persönliche Freiheit und Selbstbestimmtheit ist wesentlich beschnitten und in extremen Fällen überhaupt nicht existent.

Solche Menschen sind ob ihres hohen Anpassungsdrucks mit einer Grundunzufriedenheit ausgestattet, die oftmals eine erhöhte Aggressivität (Stichwort: Frustrationsstau; niedrige Frustrationsgrenze) zur Folge hat.

Der Bestätigende und Bestärkende hat Einfluss wie Macht über den Betroffenen und übt bzw. nutzt diese, meist subtil oder unbewusst, aus, um das eigene System respektive Pseudogleichgewichtskonstrukt zu stützen. Hier zeigt sich – so paradox es auf dem ersten Blick erscheinen mag – der korrelierende Charakter in der Beziehung zwischen Selbstwertgefühl-Nehmer und -Geber und das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis.

Das unbewusste Agieren ist dem im Hintergrund unterschwellig wirkenden metaphysischen Prinzip des Ausgleichs geschuldet.

Obwohl das Selbstwertgefühl bewusst wahrgenommen wird, bedeutet dies nicht immer, dass der persönliche Eindruck, besonders der der Stärke, auch den Realitäten entspricht. In diesem Fall liegt eine Selbsttäuschung vor – der Mensch macht sich ein falsches Bild von der Situation des Selbst -, die kraft starker Verdrängungskräfte unter beträchtlichen energetischen Einsatz zustande gekommen ist.

Sobald die existierenden Verdrängungs-/Rationalisierungskräfte sich abschwächen oder sogar aufgehoben werden, bricht die Fassade zusammen.

Der Selbstwert verkörpert die psychische Innenwelt des Menschen (überwiegend Produkt der Vergangenheit), das Selbstwertgefühl richtet sich als Mixtur sowohl nach innen (als Aufsatz bzw. Aufbau des Selbstwerts) wie nach außen.

Durch ständigen Austausch und Vergleich mit der Umwelt reagiert das Selbstwertgefühl auf die laufenden externen Einflüsse mit unentwegten Veränderungen des Stimmungszustandes, komparabel mit einem Pegel, der je nach Wasserstand steigt oder fällt oder eines Seismografen.

Auf die modernen Massengesellschaften übertragen haben der Selbstwert und das Selbstwertgefühl den animalischen Selbsterhaltungs- bzw. Überlebenstrieb abgelöst und ihn in weiten Teilen seiner Funktion ersetzt.

Der Selbsterhaltungstrieb ist also zur Selbstbehauptung und zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit/Funktionsfähigkeit mutiert, um mit den speziellen An- und Herausforderungen der heutigen Zeit, wie beispielsweise in Form von Verstädterung, Mega-Citys, Profilierung in der Masse und permanenten sozialen Vergleich, standhalten zu können.

Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 4)

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