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DAS TISCHGEBET
26. JULI, ANN ARBOR, MICHIGAN
Torsten | Mein Opa hat immer diesen Spruch gehabt, den von der Kirche im Dorf lassen und so. Nun ja, die Amerikaner lassen die Kirche jedenfalls nicht dort, nein, sie nehmen sie mit nach Hause – und zwar bis an den Esstisch.
Sarah hatte für uns heute Abend eine Lasagne gekocht. Als wir alle am Tisch saßen, sagte ich höflich »Guten Appetit!« und wollte schon nach dem Besteck greifen, als Sarah plötzlich meine Hand nahm und auch die von Mark, der schon Susannes kleine Hand in seiner gewaltigen Krankenpflegerpranke hielt. Was zum Teufel war denn jetzt los?
Während Mark und Sarah den Kopf gesenkt hatten und Susanne und ich uns fragend ansahen, fing Mark mit dem Beten an. Das Ganze zog sich in die Länge. Mark sagte irgendwas von Brot (obwohl wir doch Lasagne essen würden) und auch unsere Namen fielen. Am Ende folgte Marks »Amen!«, auch Sarah sagte »Amen!« und drückte meine Hand gleichzeitig etwas fester.
Susanne stimmte ebenfalls mit einem »Amen!« ein und sah mich eindringlich an. Ich aber wollte nichts sagen, schließlich bin ich kein Christ – und überhaupt, so ein Gruppenzwang war doch wohl eher typisch für den Ostblock gewesen, und diese Zeiten sind ja nun Gott sei Dank vorbei. Mark und Sarah sahen mich ebenfalls erwartungsvoll an, aber nachdem wir uns alle etwa drei Sekunden lang angestarrt hatten, begann Mark einfach wortlos mit dem Essen. Nichts von wegen »Guten Appetit!« oder so. Ich habe zwar keine Ahnung, wie man das auf Englisch sagt, aber jedenfalls sagte er gar nichts in dieser Richtung. Ich befürchtete schon, dass er sauer war, weil ich nicht mitgebetet hatte. Dann aber fingen er und Sarah an, sich ganz normal mit uns zu unterhalten, so als ob überhaupt nichts gewesen war, und wir hatten noch einen sehr schönen Abend zusammen.
Nachtragend schienen die beiden jedenfalls nicht zu sein. Wahrscheinlich waren sie als Christen einfach sehr geübt im Vergeben … Nur zweimal bemerkte ich, wie sich die beiden vielsagend anschauten, das erste Mal, als ich mir nach dem Essen die Nase laut ausschnaubte, und dann eine Minute später, als ich zu Sarah sagte, dass ihre Lasagne »nicht schlecht« war. Warum sie daraufhin ganz still war, weiß ich nicht, aber manche Leute werden ja verlegen, wenn sie gelobt werden.
Susanne | Also, ich bin ja auch nicht christlich, aber wir sind doch hier Gäste und irgendwie war es doch auch nett, dass Sarah und Mark für uns gebetet haben. Da muss man sich doch nicht so anstellen und auf seinem Standpunkt beharren.
Beim Händehalten ist mir übrigens aufgefallen, dass die beiden ihre Eheringe an der linken Hand trugen und dass Sarah dazu noch einen schönen Diamantring am selben Finger hatte. Das war natürlich der Verlobungsring, und Sarah erklärte mir, dass die amerikanischen Frauen den Ring nach der Hochzeit auch weiterhin an diesem Finger tragen, allerdings wird der Ehering nun zuerst aufgesteckt. Das machen ja auch bei uns immer mehr Frauen, nur an der rechten Hand. Mark meinte noch, ganz unromantisch, dass der Mann in vielen Bundesstaaten der rechtmäßige Eigentümer des Verlobungsringes bleibt. Kommt es vor der Hochzeit zu einer Trennung, muss die Frau ihn zurückgeben. Da kann man mal sehen, wer die Gesetze macht!
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Drei Viertel der Amerikaner haben eine mehr oder weniger religiöse Lebenseinstellung und insbesondere das Christentum spielt in den USA eine weitaus größere Rolle, als das vielerorts im deutschsprachigen Raum heutzutage noch der Fall ist. Daher kann es durchaus sein, dass man bei einer Familie zu Gast ist, die vor dem Essen ein Tischgebet bzw. das Vaterunser spricht. Die Höflichkeit gebietet es, sich diesem nicht aktiv zu entziehen oder zu verweigern, auch wenn Sie selbst z. B. Atheist sind.
Diskussionen und abwertende Bemerkungen zum Thema Religion sollte man in den USA darüber hinaus ganz generell vermeiden, insbesondere am Arbeitsplatz. Für die meisten Amerikaner ist Religion ohnehin eine Privatangelegenheit und auf die Religionsgemeinschaft und das Zuhause beschränkt.
Das Amen am Ende des Gebetes und damit unmittelbar vor dem Essen nimmt zudem in gewisser Weise auch die Funktion des »Guten Appetit!« ein. Wenn vor dem Essen nicht gebetet wird, z. B. wenn Sie mit einer weniger religiösen Familie oder im Restaurant essen, sollten Sie daher nicht überrascht sein, wenn die am Tisch Sitzenden einfach drauflos essen. Zwar kann man »Enjoy your meal!« sagen (und die Kellner sagen das auch in der Regel, nachdem sie das Essen auf den Tisch gestellt haben), man muss es aber nicht. Auch steht es eher den Gastgebern zu, dies zu sagen, insbesondere wenn diese das Essen zubereitet haben.
Mit Lob sollte man allerdings nicht sparen, wenn man zum Essen eingeladen wurde. Die deutsche Redewendung »nicht schlecht«, also not bad, reicht da nicht aus. Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie sich in der Küche abgerackert haben und Ihre Gäste bezeichnen das Essen dann mit »ganz gut«. Sagen Sie daher lieber, dass das Essen great (großartig) oder yummy (lecker) war, auch wenn das etwas übertrieben scheint oder das Essen vielleicht wirklich nicht so besonders geschmeckt hat.
Wenn Sie sich längere Zeit in den USA aufhalten, werden Sie feststellen, dass Amerikaner mit Lob generell sehr großzügig umgehen und insbesondere Kinder für jede Kleinigkeit gelobt werden. Daran muss man sich zwar erst einmal gewöhnen, aber wenn man es einmal genauer betrachtet, wird man feststellen, dass viele Situationen dadurch eine positivere Atmosphäre haben und dass Kinder in richtigen Verhaltensweisen bestärkt werden. Damit wird die in Amerika vorherrschende Einstellung, dass sich jedes Problem bewältigen lässt, wenn man es nur will, schon von Kindesbeinen an entwickelt. Wie realistisch und lebensnah ein solches Herangehen ist und ob den Kindern damit wirklich ein Gefallen erwiesen wird, darüber kann man sich natürlich streiten. Aber hier soll es ja in erster Linie darum gehen, Dinge zu erklären, die man in den USA beobachten kann, und nicht darum, ob sie letztendlich auf der Grundlage unserer eigenen Maßstäbe wirklich Sinn machen. Also sparen Sie nicht mit Lob, auch wenn Sie sich dabei anfangs vielleicht ein wenig merkwürdig vorkommen.
Eine andere Sache, die sich für Sie als Neuling in den USA möglicherweise als gewöhnungsbedürftig erweisen wird, ist die Abneigung der Amerikaner gegenüber dem Nase ausschnauben in Gemeinschaft – und besonders am Esstisch. Hier erwartet man eine gewisse Diskretion. Falls Ihnen nur die Nase läuft, können Sie ohne Weiteres ein Taschentuch benutzen, ein lautes Ausschnauben sollten Sie jedoch, anders als Torsten das tat, vermeiden. Gehen Sie am besten kurz auf die Toilette oder zumindest aus dem Raum.
Trennung von Staat und Kirche – oder doch nicht?
In der amerikanischen Verfassung sind sowohl Religionsfreiheit als auch Trennung von Staat und Kirche verankert. Beide Prinzipien überschneiden sich jedoch in vielen Bereichen. So steht z. B. auf amerikanischen Geldscheinen und Münzen In God We Trust (Wir vertrauen auf Gott). Auch kann man Geldbeträge, die man religiösen Organisationen spendet, von der Steuer absetzen. Anders als in Deutschland treibt der Staat jedoch keine Kirchensteuer ein; man gibt vielmehr das Geld, oft zehn Prozent seines Einkommens, selbst an die jeweilige religiöse Vereinigung bzw. Kirche, in der man Mitglied ist.
Die Trennung von Staat und Kirche untersagt organisiertes Gebet und Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Wer diese Dinge jedoch für wichtig hält, kann sein Kind auf eine private Schule schicken, die von einer Religionsgemeinschaft getragen wird. Insbesondere katholische Schulen sind aufgrund ihrer starken Ausrichtung auf Disziplin und Unterrichtsqualität auch bei nicht- oder andersreligiösen Eltern beliebt. Der Besuch dieser Schulen ist aber oft mit recht hohen Gebühren verbunden.
Die bereits erwähnte Trennung von Staat und Kirche trifft auf den Unwillen einiger sehr konservativer Christen. Diese einflussreiche politische Strömung, die als sogenannte Christian Right in der Republican Party beheimatet ist, hat u. a. die Zulassung von Gebeten in staatlichen Schulen und das landesweite Verbot von Abtreibungen zum Ziel. Für die meisten Amerikaner ist Religion jedoch eine Privatangelegenheit, über die außerhalb der Familie und der Glaubensgemeinschaft nicht gesprochen wird.
RELIGIONSLANDSCHAFT IM UMBRUCH
Die religiöse Landschaft der Vereinigten Staaten hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Während 2007 die Bevölkerung in 37 Bundesstaaten mehrheitlich aus weißen Christen bestand, war das laut einer Studie des Public Religion Research Institute 2016 nur noch in weniger als der Hälfte der Staaten der Fall. Über einen längeren Zeitraum betrachtet sind die Veränderungen noch dramatischer: 1976 identifizierten sich 81 Prozent der US-Bevölkerung als weiße Christen, 2016 nur noch 43 Prozent.
Die Katholische Kirche in den USA ist dem stärksten Wandel unterworfen. Zum einen ist ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in nur zehn Jahren (2006-2016) von 16 Prozent auf 11 Prozent gefallen, zum anderen ist die Zahl der weißen Katholiken innerhalb von 25 Jahren von 87 Prozent auf 55 Prozent gesunken. Bei den Katholiken unter 30 stellen Hispanics mittlerweile die Mehrheit.
Ein starker Zuwachs bei anderen Religionen ist jedoch nicht zu verzeichnen: 2 Prozent der Bevölkerung sind Juden, und Muslime, Buddhisten und Hindus machen jeweils nur rund 1 Prozent aus. Nichtchristliche Religionen haben allerdings einen wesentlich größeren Anteil an jungen Menschen als christliche Glaubensgemeinschaften, die Mormonen, deren Zahlen auch insgesamt stabil sind, einmal ausgenommen.
Vielmehr hat sich die Zahl der Menschen, die keiner Glaubensgemeinschaft angehören, seit Anfang der Neunzigerjahre verdreifacht und liegt jetzt bei 24 Prozent. Die Tendenz ist steigend, denn unter jungen Leuten (18-29 Jahre) beträgt diese Zahl sogar 38 Prozent. Allerdings bezeichnen sich nur ein Viertel derjenigen, die in keiner Glaubensgemeinschaft Mitglied sind, als Atheisten oder Agnostiker.