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Einen im Tee

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Als ich an diesem Tag zu einer Zeit nach Hause komme, von der man nicht genau sagen kann, ob sie noch später Nachmittag oder bereits früher Abend ist, erwartet mich meine Nachbarin Frau Rieke bereits mit einer Torte im Hausflur. Zumindest sieht das, was sie in der Hand hält, auf den ersten Blick danach aus. Im Näherkommen sehe ich, dass es sich nicht um eine Torte handelt, sondern erkenne eine braune Keramikfliese, wie ich sie aus meinem knapp vier Quadratmeter großen, fensterlosen Wellnessbadezimmer kenne. Die vermeintliche Sahne entpuppt sich beim genauen Hinschauen als eine Mischung aus feuchtem Mörtel und Fugenkitt.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass die offene Wohnungstür, vor der sie steht, meine eigene ist und die Männer in blauen Arbeitshosen nicht die Gäste einer Überraschungsparty, sondern Handwerker bei der Arbeit sind.

Ehe ich ein Wort sagen kann, hält mir Frau Rieke die Fliese entgegen und genießt den Moment sichtlich. „Alles unter Wasser, die ganze Wohnung. Ich hoffe, Sie sind gut versichert, junger Mann.“

Ich bin. Aber das geht sie einen Dreck an, der so feucht ist wie der Mörtel auf der Fliese.

Ich stürme in meine Wohnung und patsche über den nassen Teppich. Schnell erkenne ich das Badezimmer als Epizentrum der Überschwemmung. Einer der Männer dort, ein magerer Typ im Blaumann mit fliehendem Kinn, Schnurrbart und Überbiss sagt: „Welcher Idiot vergisst denn, die Badewanne auszumachen?“

„Einer wie ich“, entfährt es mir. Die Wanne ist inzwischen leer und eine Pumpe saugt leise brummend Wasser vom Boden über einen Schlauch in den Abfluss.

„Super“, murmele ich, während ich aus dem Bad in mein Wohnzimmer taper. Als ich stehen bleibe, rempelt mich Frau Rieke an. Sie ist mir offenbar dicht gefolgt und grunzt, als sie aufläuft.

„Also hier können Sie erst mal nicht wohnen“, stellt sie scharfsinnig fest. Alles in Bodennähe ist patschnass. Meine Billyregale sind unten dunkel verfärbt und Rocky Balboa hängt in den Seilen. Die Nässe hat sich in der Pappe hochgefressen, sodass er tatsächlich in die Knie gegangen ist und halb auf meinem Schreibtisch liegt. Zum ersten Mal ist Rocky k.o. Was Apollo Creed nie gelungen ist, hat meine Badewanne geschafft und fast spüre ich einen Anflug von Stolz auf deren Leistung, stünde da nicht Elvira Rieke hinter mir, die mich mit ihrer Sensationslust ein wenig an Hans Meiser zu besten Notrufzeiten erinnert.

„Frau Rieke“, sage ich etwas gepresst durch meine Zähne, aber immerhin so freundlich ich kann, „Sie können davon ausgehen, dass ich erstens gut versichert bin und zweitens nicht beabsichtige, in dieser Grotte zu übernachten, bis alles getrocknet ist. Und drittens darf ich Sie bitten, zukünftig Ihre Schuhe an der Haustür auszuziehen, da Sie mir garantiert Flecken auf meinen Veloursteppich machen. Sie sehen doch, dass ich hier feucht durchgewischt habe!“

Ich schiebe sie genervt zur Seite und eile durch die Nässe in die angrenzende Küche. Es platscht unter meinen Schuhen und das Wasser kriecht langsam meine Hosenbeine zu den Waden hinauf.

„Nun werden Sie mal nicht frech“, bellt sie hinter mir her und fasst mein Badewannenmalheur knapp, aber inhaltlich unbestreitbar korrekt zusammen: „Sie haben wohl das laufende Wasser vergessen! Recht nachlässig, junger Mann!“

Ich bugsiere sie aus der Wohnung und bin kurz vorm Platzen. „Warten Sie mal ab, was Sie alles vergessen, wenn Alzheimer ein Jahr weiter ist.“

Ich drehe mich um und warte ihre Reaktion erst gar nicht ab. Vor Empörung laut nach Luft schnappend, rauscht sie ab.

Die Handwerker erklären mir, dass sie noch ein paar Heiz­lüfter aufstellen werden, um die Feuchtigkeit möglichst schnell aus den Böden zu bekommen. Einer von ihnen, ein Typ, für den die Begriffe ‚Gas, Wasser, Scheiße‘ hätten erfunden sein können, blickt sich fachmännisch um und blickt mir schließlich entschlossen in die Augen. Ich spüre, dass dieser Mann Klartext sprechen wird, unbequem und mit der Entschlossenheit einer BILD-Zeitungsschlagzeile. „Die Teppiche reißen Sie besser gleich raus – die sind im Arsch.“

Ich danke ihm für seine ehrlichen Worte, so wie man einem Arzt dankt, der keinen Hehl aus dem Sensenmann vor der Tür macht, versichere ihm aber, dass die Teppiche allenfalls nass sind, da ich seit heute weiß, was es heißt, wenn etwas tatsächlich ‚im Arsch‘ ist, und unterzeichne seinen Stundenzettel mit der gleichen Geschäftsmäßigkeit, wie wenige Stunden zuvor meinen Praktikantenvertrag.

Irgendwann bin ich endlich allein in meinem feuchten Traum von einer Wohnung und greife zum Telefon. Tot. Ein Blick unter den Schreibtisch gibt Aufschluss. Die Anschlüsse und der Router haben ihren Frei- und Fahrtenschwimmer gemacht. Nichts zu machen – ich bin von der Außenwelt abgeschlossen. Wenn ich heute Nacht von Schimmel oder Hausschwamm gefressen werde, kann ich nicht mal einen Notruf absetzen. Ich ermahne mich zur Besonnenheit und dazu, nicht gleich den Teufel an die Wand zu malen, als mir mein Firmenhandy einfällt. Auch an Luxus muss man sich erst gewöhnen. Ich rufe meinen Kumpel Armin an und schildere in knappen Sätzen, was passiert ist.

Und da Armin eben ein echter Kumpel ist, schlägt er vor, ich könne bei ihm wohnen, bis meine Wohnung wieder trocken ist.

Mit den wichtigsten Habseligkeiten, wie meinem Kulturbeutel und ein paar trocken gebliebenen Klamotten, steige ich vor seiner Wohnung aus dem Auto. Ich schleppe mich das Treppenhaus eines Altbaus bis in die fünfte Etage hinauf und stehe schließlich vor einer weiß gestrichenen Holztür.

Als ich die Schelle drücke, ertönt ein tibetischer Gong und Ella öffnet die Tür.

„Mensch Hirni, hab schon gehört. Komm rein.“

Ich drücke Ella und schaue mich um.

„Wo ist Armin?“

„Klo.“

„Komme sofort“, schallt es hohl aus dem Bad und wenig später rauscht die Spülung.

„Tee?“

„Gern“, sage ich.

„Magst du Jasmin Wildkirsche?“

„Sagt mir nichts. Eine Freundin von dir?“

Ella verdreht die Augen. „Hab ich gerade aufgesetzt, Hirni.“

„Ach so. Klar.“

Auch Ella nennt mich konsequent ‚Hirni‘. Spontan fiele ihr mein richtiger Name vermutlich gar nicht ein und auch Jack Bauer müsste für seine Verhältnisse pampig werden, um meinen wahren Namen aus ihr herauszupressen.

Als Armin Ella vor Urzeiten kennenlernte, war sie ein ganz normales Mädel, wie die meisten anderen auch. Sie verkaufte Nachos mit Käsesoße im Dortmunder CineStar, wo Armin und ich ‚Titanic‘ gucken wollten – ich, wie ich behauptete, wegen der tollen Effekte und Kate Winslet, Armin wegen Ella. Dass wir beide den Film in Wirklichkeit sogar richtig geil fanden, behielten wir vor den anderen Mushrooms selbstverständlich für uns. Es gibt Dinge, die nimmt man als Mann besser mit ins Grab. Dazu gehört auch, wenn man auf Weihnachten und Tannenbäume steht oder auf Milchkaffee mit Haselnussaroma. Ella – und das machte Armin anfangs eine ganze Weile zu schaffen – fand Leonardo DiCaprio unglaublich süß, nicht jedoch so toll wie Richard Gere. Dann erfuhr sie, dass der Offizier und Gentleman praktizierender Buddhist ist und entschied sich, das Gleiche zu werden. An jenem Tag änderte sich ihr Leben grundlegend oder sagen wir besser, sie dekorierte es um.

Sie hat vom wahren Buddhismus nämlich in etwa so viel Ahnung wie ich von der Quantenphysik und feiert nach wie vor Weihnachten und Ostern, ohne dass ihr daran irgendetwas merkwürdig vorkommt. Zudem trägt sie Klamotten, die wahlweise aus drittklassigen Bollywood-Filmen stammen könnten, was dem aufmerksamen Beobachter zeigt, dass für sie Buddhismus und Hinduismus ohnehin das Gleiche sind. Seit Jahren mutmaße ich heimlich, dass sie den ehemaligen Kostümfundus der Kelly Family aufträgt. Egal, Hauptsache alles wirkt alternativ und riecht nach immerwährend qualmenden Räucherstäbchen, die auch heute die Wohnung meines Kumpels in eine Opiumhöhle verwandeln.

Armin und Ella sind seit drei Jahren verlobt und sparen auf eine Reise nach Tibet, wo sie rituell getraut werden wollen. Anschließend wünscht sich Ella allen Ernstes, mit Armin auf einem Elefanten zur Feier zu reiten und weder Armin noch ich haben es bisher übers Herz gebracht, ihr zu erklären, dass die Indischen Elefanten im Himalaja selten geworden sind und mit Ausnahme einer Handvoll tapferer Exemplare unter Haniballs Führung das Hochgebirge eher meiden.

Ich sitze mit meiner dampfenden Tasse orientalisch duftendem Tee auf einem violetten Sofa, als endlich Armin erscheint.

„Kerl, Kerl, Kerl, Hirni! Das ist ja ein Ding.“ Wir nehmen uns kurz herzlich in den Arm und er drückt mich fest. „Jetzt erzähl mal, was passiert ist.“

Armin hat sein Rockerimage der Narcotic Mushrooms längst hinter sich gelassen, trägt eine Halbglatze sowie Anzüge mit Weste und stellt das optische Gegenteil von Ella Kunterbunt dar. Er arbeitet als Patentanwalt in einer Zwanzig-Personen-Kanzlei. In der Hierarchie dort steht er recht präzise an Stelle zwanzig. Verglichen mit mir hat er aber richtig Karriere gemacht und wahrscheinlich ahnen weder Kollegen noch Mandanten, in welche Orientkulisse er allabendlich steigt.

Während ich ihm erzähle, was passiert ist, spüre ich, wie mir immer heißer wird. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn und Armins Gesicht verschwimmt zusehends. Fühlt sich so ein kommender Nervenzusammenbruch an? Ein Burn-out-Inferno? Brauche ich nach einem einzigen Arbeitstag bereits meinen ersten Urlaub oder gar einen Kuraufenthalt?

Das Letzte, was ich höre, ist Ellas Stimme, die fragt: „Was hat er denn?“ Dann macht jemand das Licht aus und ich schlafe ein.

Als ich von einer grellen Taschenlampe geweckt werde, blicke ich in ein finsteres Gesicht mit stoppeligem Bart und stechendem Blick. Da ich mir Petrus oder gar den lieben Gott definitiv anders vorstelle, bin ich, wie es aussieht, in einem Prince-of-Persia-Computerspiel erwacht.

„Challo, könne Si mischören?“, fragt der orientalische Mann und leuchtet abwechselnd mal in das linke und dann in das rechte Auge.

Ich nicke zaghaft und versuche mit Rollbewegungen meiner Augäpfel dem grellen Licht auszuweichen.

„Isch bi Dotor Akadschai“, stellt sich der Mann vor. Hinter ihm kommt Ellas Kopf in mein Blickfeld.

„Hirni, bist du okay? Wir haben den Notarzt gerufen. Du warst fast zehn Minuten weg.“

„Wo war ich denn?“, frage ich kraftlos und matt.

Ellas Blick verklärt sich und es gelingt ihr, mit einem Anflug rühriger Glückstrunkenheit allen Ernstes zu sagen „im Nirvana, Hirni“, ehe Armin sie beiseite zieht und ihr den ersten Vogel ihrer Beziehung zeigt.

Mit gebrochener Stimme antworte ich: „Und dafür ruft ihr einen Arzt aus Persien? Wie originell.“

Mein offenkundig persischer Arzt findet mich nicht besonders witzig und ignoriert mein Gelaber. Offenbar hat er schon blödere Sprüche von Erwachenden gehört. Ella huscht wieder in mein Blickfeld und wirkt total aufgeregt, jedoch lässt sich nicht eindeutig zuordnen, ob aus Sorge um mich oder aus Begeisterung über den finster dreinblickenden Medizinmann, den sie intuitiv über ihren asiatisch-orientalischen Kamm schert.

„Wi chet es Inen?“, fragt er und leuchtet mir erneut erbarmungslos in die Augen.

„Ich bin in Ordnung. Wenn nur dieser helle Schein nicht wäre …“

Dann verdrehe ich die Augen und schließe sie wieder. Panik unter den Anwesenden kommt auf. Mein Arzt ruft: „Bringe ihn hie chaus. Isch rufe in dea Nottaufnamme an.“

Schlagartig reiße ich die Augen wieder auf. „War nur ein Witz, schon gut. Emergency Room.“

Ella fällt fast alles aus dem Gesicht und diesmal zeigt mein Doktor einen Vogel, allerdings mir. Ich richte mich auf. „Es ist wirklich alles in Ordnung“, beruhige ich.

Ein Sanitäter riecht an der Kanne mit Tee. „Was ist denn das?“

„Jasmin Wildkirsche“, erklärt Ella. „Meine eigene Mischung.“ Der Stolz in ihrer Stimme ist offenkundig. Sie blickt den Arzt an, als erwarte sie einen nach oben gereckten Daumen.

„Das riecht wie Weihnachten.“

„Ich habe noch ein wenig Zimt reingemacht. Und Nelken und Kardamom und etwas Koriander.“

„Aber wie Weihnachten in der Hölle“, stellt der Sanitäter befremdet fest.

„Und einen Hauch Cayenne.“ Ella blickt, als habe sie leise Zweifel an der Werthaltigkeit ihrer Teemischung.

„Pfeffer?“, fragt mein Doktor irritiert.

„Für die Schärfe.“

Mir wird bei der Aufzählung der Zutaten klar, dass Ella mir eine Art Hardcore-Glühwein ohne Wein gereicht hat. In Kombination mit der Hitze und der benebelnden Wirkung des Raumduftes hat mich das zweifelsohne umgehauen.

„Und nach was stinkt es hier so penetrant?“, fragt der Sanitäter, dessen ehrliche Art etwas Erfrischendes hat und so kaum in die Szenerie passt.

„Meditationsstäbchen. So Räucherstäbchen“, erklärt Armin, dem die Sache tendenziell peinlich zu sein scheint.

„Auch meine eigene Mischung“, sagt Ella trotzig. „Patchouli und Panchavati.“

Verblüffend, denke ich. Es riecht tatsächlich exakt so, wie es klingt.

Der Sanitäter rollt mit den Augen und mein Doktor deutet mit der Hand auf mich: „Chat er etwa nur meditiert?“

Nun wird mir die Sache allmählich zu blöd. „Nein, habe ich nicht!“, sage ich laut und richte mich auf. „Es geht mir blendend und ich hätte gerne ein Wasser oder besser ein Bier.“ Mein Blick fällt auf die Kanne Tee. „Aber bitte, Ella, nicht noch mal diesen Orienttee. Der ist außerdem scharf wie Chili!“

Mein Arzt blickt mir mit tiefschwarzen Augen ins Gesicht. „Sinne Si sischa?“

Ich nicke so glaubwürdig, wie ich kann.

Er schüttelt mir die Hand und verschwindet mitsamt dem Sanitäter im Treppenhaus, wo sein fliegender Teppich sicher bereits auf ihn wartet.

„Hirni?“, fragt Ella schließlich, „bist du mir böse?“

Ich schüttele den Kopf. „Quatsch.“

„War wohl etwas zu viel Pfeffer“, gibt sie zähneknirschend zu. „Habe gerade mal einen Schluck probiert. Ging gar nicht.“

„Wie viel habe ich denn getrunken?“

„Einen ganzen Becher.“

Armin lacht. „Oha, der Morgen danach. Ella, wo genau war die Penatencreme noch mal?“ Witzbold! Er haut mir auf die Schulter. „Bier haben wir zwar keines im Haus, aber Lust auf eine kleine Runde durch die Kneipen?“

„Perfekt“, murmele ich.

„Geht nur. Da könnt ihr mal in Ruhe reden.“

Ich drücke Ella und verlasse mit Armin das Haus.

In der Kohlenpinte spendiert mir Armin ein kühles Pils, das aber bereits in der Hitze meines Halses verdampft, bevor es meinen Magen erreicht. Ich revanchiere mich mit der nächsten Runde und kann erst mein zweites Bier richtig genießen.

Nach und nach lockert sich meine Zunge und ich erzähle Armin mit viel Liebe zum Detail von meinem ersten Tag im Job.

„Sensationell“, schlägt er mir auf die Schulter, „dass das so schnell ging. Bist ja doch keine Graupe und gehaltsmäßig hast du uns bald alle im Sack, was?“

Ich schäme mich ein wenig dafür, ihm im Hinblick auf meinen Praktikantenstatus nur die halbe Wahrheit erzählt zu haben. Da ich jedoch überzeugt bin, die Firma von hinten aufzurollen und schon in wenigen Wochen weit oben in der Hierarchie zu stehen, halte ich mein Vorgehen für vertretbar. Etwas genauer berichte ich ihm von Kathrin und offeriere ihm beim dritten Bier meinen Plan, mich in ihr Team einzuschleusen, sobald ich mir mit diesem Restaurantquatsch die Sporen verdient habe.

„Konzentrier dich doch erst mal bloß auf den Job“, gibt er mir skeptisch zu bedenken, „anstatt gleich diese Tussi im Kopf zu haben.“

„Du hast gut Reden“, protestiere ich, „du hast ja eine Frau. Aber ich bin voll auf Entzug!“

Ein Typ am Nebentisch dreht sich zu mir um und grinst. Ich grinse zurück. Danach grinse ich auch die Leute an den anderen Tischen an. Ich fühle mich herrlich beschwingt und bin voller Tatendrang. Dass mein Vorhaben kein Selbstläufer werden könnte, kommt mir nicht ansatzweise in den Sinn.

„Weißte was“, schlage ich vor, „wir machen richtig einen drauf. Ich lad dich ein!“

Wenn Armin auch etwas besorgt wirkt, so willigt er dennoch ein. Im Gegensatz zu mir merkt er offenbar sehr wohl, dass meine drei Bier eindeutige Rauschwirkung zeigen, nach einem so aufregenden Tag und wenig im Magen außer einem Teecocktail, der auch das Aussterben der Dinosaurier hätte verursacht haben können.

Am Geldautomaten, der mich mit dem wirtschaftlichen Rüstzeug ausstatten soll, um den Abend zu gestalten, gelingt es mir erst im dritten und letzten Anlauf, mein Geburtsjahr als PIN einzutippen. Meinen Plan, zweihundert Euro abzuheben, lehnt der Automat kategorisch ab und schlägt mir als Alternative die Hälfte vor. Ich ärgere mich einen Moment über die Knauserigkeit der Maschine, gehe dann jedoch diplomatisch auf das Angebot ein.

Wir betreten das Jekyll n’ Hyde, eine angesagte Mischung aus Klub, Cocktailbar und Diskothek, in der das Motto ‚sehen und gesehen werden‘ gilt. Eine bunte Mischung cooler Menschen verteilt sich bereits auf die diversen Bars. Zwar ist die Tanzfläche in der Regel gut besucht, jedoch nicht im Moment, da der DJ sein Publikum mit einer aufgepoppten Variante eines Udo-Jürgens-Schlagers in die Flucht getrieben hat. Ein einzelnes Paar tut dort etwas, das es selbst als Tanzen empfinden muss, und zeigt eine mutige Mischung aus Freestyle-Funky-Monkey und biederem Discofox. Während sie ihre Bewegungen hoch konzentriert mit todernster Miene abruft und den Takt der Musik immer recht präzise um genau einen halben Takt verschleppt, geht er voll aus sich heraus. Ein Polohemd der Marke Lacoste steckt in einer hellen Bundfaltenhose und umschmeichelt einen Körper, dem das Hüftgold lacht. Seine Grimassen deute ich als Ausdruck grenzenloser Leidenschaft. Als der DJ die Musik brutal abbricht und Lady Gaga spielt, verlassen die beiden enttäuscht das Parkett.

Armin und ich steuern zielstrebig auf die Bar zu. Mit zwei Caipirinhas bewaffnet, stellen wir uns in die Nähe der inzwischen wieder ordentlich gefüllten Tanzfläche und beobachten eine Reihe herausgeputzter Tussen, die ihre tanzmuffeligen Kerle aufs Parkett zerren.

Der Rohrzucker meines Cocktails knirscht herrlich zwischen meinen Zähnen und ich schlürfe mit dem Strohhalm die Reste des Alkohols zwischen den Eisstückchen hervor. Im Gegensatz zu Armin, der nicht mal ein Viertel seines Cocktails getrunken hat und mich erneut skeptisch mustert, überlege ich bereits, womit ich meinen Gaumen als Nächstes verwöhnen kann. Also begebe ich mich erneut zur Bar und kehre kurze Zeit später mit einem unaussprechlichen blauen Getränk in der Hand zurück, das intensiv nach Schlumpf riecht, aber fürchterlich nach Anis schmeckt und nicht wirklich mein Ding ist. Es sieht aber unsagbar cool aus und nach meinem Jasmin-Wildkirsche-Trip kann meine Geschmacksnerven nicht mehr viel schocken.

Der Laden füllt sich zusehends und eine Gruppe von Neuankömmlingen macht es sich im eleganten, offenbar extra reservierten Loungebereich bequem.

Ich atme meinen blauen Anisbecher weg und neutralisiere den Geschmack in meinem Mund mit zwei Gläsern Bier und einem Cocktail, den zu bestellen sich als problematisch erweist, da der Barkeeper mich erst im vierten Anlauf versteht. Ich empfehle ihm eine professionelle Ohrspülung und wundere mich, dass Armin mich ernsthaft fragt, ob wir nicht gehen wollen. Nachdem ich ihm eine hochnotpeinliche Szene gemacht und ihn als Spaßbremse beschimpft habe, suche ich mein Glück auf der Tanzfläche, wo ich mich ungeniert der Musik hingebe. Die meisten Frauen weichen mir instinktiv aus und mir wird nach einem kurzen Moment der Entrüstung erst allmählich klar, dass dies eine nicht nur typische, sondern vollkommen natürliche und nachvollziehbare weibliche Reaktion ist. Wenn ein männliches Alphatier die traditionelle Balz bestreitet, muss das grundsätzlich paarungswillige Weibchen erst einmal weichen, um wenigstens einen Hauch keuschen Anstands vorzutäuschen. Ihre Begleiter, die potenziell unterlegenen Rivalen, wirken heute eher genervt und schieben sich immer wieder zwischen mich und meine unzähligen Tanzpartnerinnen – eine Spielart der Balz, die lästig ist.

Das grundsätzliche Problem von Alkohol liegt darin, dass sich die allgemeine Wahrnehmung stark zugunsten eines allzu schmeichelhaften Selbstbilds verlagert. Wie auch immer man sich fühlt, es bedeutet nicht, dass die Allgemeinheit diese Selbsteinschätzung teilt.

Diese Tanzfläche fühlt sich an wie etwas, das man gerne ,sein Wohnzimmer‘ nennt. Was für Boris Becker der No. 1 Court in Wimbledon war, ist für mich heute Abend dieses Etablissement. Alles fühlt sich seltsam vertraut an, wenngleich ich mir sicher bin, mich nie zuvor auf dieser Tanzfläche zum Affen gemacht zu haben. Ich bin mir dessen deshalb so sicher, weil ich eigentlich nie tanze und auch immer davon überzeugt war, nicht mal ansatzweise tanzen zu können. Imke jedenfalls vertrat diesen Standpunkt vehement. Heute fühle ich mich jedoch wie John Travolta und mache Bewegungen, von denen mir Armin später allerdings erzählen wird, dass sie eher ausgesehen haben wie die von Audrey Landers in ,A Chorus Line‘. Cool jedenfalls ist anders. Nicht nur mein Terrain erscheint mir seltsam vertraut, auch die genervten Leute um mich herum tun es. Irgendwo scheine ich einen Teil dieser Menschen schon einmal gesehen zu haben, nur weiß ich spontan nicht, wo. Während ich in jenem kleinen Teil meines Hirns, der mir den Zugriff noch nicht gänzlich verweigert, nach einer Erklärung suche, beginne ich Madonnas ,Like a Prayer‘ mit einer touretteartigen Samba zu interpretieren – unkonventionell kombiniert mit Schrittfolgen aus afrikanischen Fruchtbarkeitsritualen und Elementen von Limbo ohne Stange.

Urplötzlich schlägt mir jemand mit aller Wucht gegen den Hinterkopf und drückt meinen ganzen Körper flach gegen die Wand. Empört, aber auch mit Erstaunen, stelle ich fest, dass ausnahmslos alle anderen nun jeglicher Schwerkraft trotzen und sich wundersam leichtfüßig die Wand hinaufbewegen, beziehungsweise darauf umhertanzen. Faszinierend. Dann steht plötzlich Armin vor mir und fragt mit unangemessen panischem Blick, ob alles in Ordnung sei und weist mich an, ruhig liegen zu bleiben. Ich lasse meinen Blick umherwandern und muss meine Einschätzung der Situation revidieren. Ich stehe nicht an der Wand, sondern liege auf dem Boden. Dann wird es zum zweiten Mal an diesem Tag um mich herum dunkel und dumpfe, wohltuende Stille umfängt mich. Als ich nach gefühlt nicht mal fünf Sekunden die Augen wieder öffne, kniet Ellas persischer Arzt vor mir und mustert mich mit der Erfahrung aus tausendundeins Nächten als Vertrauensarzt im Harem des Prinzen von Persepolis.

„Herr Doktor Akadschai“, sage ich, „wie kommen Sie denn hierher?“

„Isch wurde gerufen.“

Irgendwie erinnert er mich zunehmend an einen Flaschengeist.

„Chaben Si widda diese Tinktur von der Bekloppten getrunken?“

„Was hat er gesagt?“, fragt Armin etwas belämmert einen jungen Mann, der neben ihm steht. Der zuckt nur mit den Achseln und tritt einen Schritt zur Seite, um Dr. Akadschai besser über die Schultern sehen zu können. Sein Blick ist sensationslüstern und fast fürchte ich, dass er ein Foto von mir machen will. Ginge es nach ihm, begänne der Perser nun damit, die Umrisse meines Körpers auf dem Boden mit weißen Klebestreifen abzukleben. Ich hebe meine Hand, um ihm einen Vogel zu zeigen und erstarre. Vogel! Mein doofer Kollege aus der Agentur! Aus meiner Geste der Abneigung wird ein lächerlich jovialer Gruß.

„Moschen“, murmele ich unsouverän und binnen weniger Augenblicke fügen sich Vermutungen nahtlos aneinander und verfestigen sich zu der Tatsache, dass mich dieser arme Typ ohne Freunde offenbar nach bereits einem gemeinsamen Tag in der Agentur stalkt.

Ich will mich aufrichten, werde von meinem Arzt jedoch gleich ermahnt, liegen zu bleiben.

Ein anderer junger Mann neben Armin beugt sich zu mir herunter.

„Hirni, alles gut?“

Sein Gesicht erkenne ich für meinen derzeitigen Zustand erstaunlich klar. „Ben“, brabbele ich, „du bist auch hier?“

Mein ebenfalls neuer Agenturkollege nickt und deutet auf die anderen Gestalten, die längst aufgehört haben, zu tanzen.

„Wir haben vergessen, dir Bescheid zu sagen. Fast die ganze Agentur ist hier.“

Ich blicke ihn so debil an, als hätte mein Verstand das geistige Niveau eines Stutenkerls erreicht. Ich nicke langsam und vorsichtig. Mein Kopf schmerzt höllisch und ich ahne, dass die Schmerzen unerheblich sein werden, verglichen mit dem Kater, der an gleicher Stelle heranwächst.

„Sag mal, kennst du diese Leute?“

„Armin, ich habe dir doch von meinem neuen Job erzählt“, will ich leise ausholen.

„Wo du die scharfe Tussi angraben willst.“

Armin, was bist du doch manchmal für ein Idiot. Ich denke es, bin mir aber sogleich nicht mehr ganz sicher, wer der größere Idiot ist und schließe die Augen.

Im Raum ist das allgemeine Gemurmel schlagartig betretenem Schweigen gewichen. Eine bekannte Frauenstimme, die sich mir Stunden zuvor als Pia vorgestellt hat, durchbricht die peinliche Stille als Erste. „Du nennst ihn Hirni?“

„Ist wohl ’ne lange Geschichte“, höre ich Ben sagen. „Die erzählt er uns vielleicht mal in Ruhe, wenn er wieder flüssig sprechen kann.“

„Also ich kenne das.“

Whitney! Nicht auch noch die! Jetzt ein blöder Kommentar von ihr und ich bitte Dr. Akadschai um aktive Sterbehilfe.

„Was kennst du?“, fragt Pia irritiert.

„Wenn jemand genau so auf dem Boden liegt. Mein Opa hatte die gleichen Syndrome.“

Hä?

„Als der seinen ersten Schlaganfall hatte.“

Schlaganfall?!

„Der hat nie mehr richtig sprechen können.“

Ich schlage meine Augen auf und sehe sie schockiert an. Whitney ist doch noch blöder, als der vergangene Tag es auch nur ansatzweise hat vermuten lassen.

„Was redest du da?“, fragt Pia. „Der Thomas hat doch keinen Schlaganfall! Der hat allenfalls ’ne Beule.“

„Ruhe jetzt!“, brüllt mein Arzt. „Dasch is ja nicht zum Aushalten!“

Unter den Anwesenden herrscht schlagartig Stille, da vermutlich jeder Angst hat, bei grobem Ungehorsam vom Arzt des Sultans persönlich gesteinigt zu werden.

„Wo chabbe Si die Schmerzen?“, fragt er im sachlichen Tonfall des aus tausendundeins Blaulichtfahrten abgeklärten Notfallarztes.

„Eigentlich nur im Kopf“, murmele ich.

„Sin Si gestürzt?“

Als ich nicht antworte und Armin fragend ansehe, ergreift der für mich das Wort.

„Auf den Hinterkopf. Er wollte gerade einen Kasatschok tanzen.“

Mein Arzt blickt mich fast ungerührt an und scheint zu überlegen, ob ich ein Fall für die Klinik bin und wenn ja, welche wohl möglichst große Mengen schwerer Psychopharmaka auf Lager hat. Ehe er meine Einlieferung in eine geschlossene Anstalt in Betracht zieht, will ich mich flugs zu dem Sachverhalt äußern.

„Ich tanze sehr gut Kasatschok. Wirklich gut“, rechtfertige ich mich.

„Isch nemme Si mit inni Krankenhaus zum Kopfröntgen und Beobachtung“, beschließt Herr Dr. Akadschai, ohne mir die Chance zu lassen, ein überzeugendes Gegenargument zu finden.

„Ist doch nichts“, protestiere ich halbherzig und stoße auf. Eine Fahne aus Bier, Anis und Schlumpf liegt in der Luft.

„Chabbe Si getrunken? Nicht die Tee von bekloppte Frau, sondern Alkohol?“

Ich verneine entschieden, wie man es bekanntlich auch in jeder polizeilichen Alkoholkontrolle tun sollte.

Im Augenwinkel sehe ich den Sanitäter, der Armin mein leeres Cocktailglas aus der Hand nimmt und zur Nase führt. Zum zweiten Mal riecht er so an diesem Abend an einem olfaktorischen Abgrund.

„Oh Gott!“, entfährt es ihm und seine an Dr. Akadschai gerichtete Geste, die einen Schnitt durch die Kehle andeutet, drückt mehr aus als tausend Worte.

Hätte der Barkeeper in dem Moment herübergesehen, wäre das Schicksal des Sanitäters garantiert kurzerhand im Eiscrusher besiegelt worden.

„Alles klar“, sagt mein Arzt, „Si sinne besoffen!“

Das, fürchte ich, beschreibt den Sachverhalt recht präzise.

Unter den Augen der nahezu ausnahmslos kompletten LIVECOMMUNCATIONS-Belegschaft, wird mir auf die wackeligen Beine geholfen. Mein Gangbild gehört eindeutig in eine Naturdokumentation über Pferde, nur dass ich weder kurz zuvor trockengeleckt noch soeben geboren wurde.

Als ich mit meinem Leibarzt die Tanzfläche verlasse, werde ich von Armin gestützt, wie es sonst nur Frédéric Prinz von Anhalt mit Zsa Zsa Gabor macht und wünsche mir erstmals, nicht Besitzer eines alten VW Polo, sondern eines Rollators zu sein. Ich blicke mich um und fange den Blick einer Frau auf, die zu erobern vor Stunden noch als hochambitioniertes, fast unerreichbares Ziel erschien. Nun sieht alles anders aus. Mein Vorhaben ist nämlich purer Utopie gewichen. Kathrins Blick beinhaltet alles, was man als Mann nicht braucht – Fremdschämen, Schadenfreude und Mitleid, die heilige Dreifaltigkeit aller armen Schweine. Und ich bin das Größte unter ihnen und wanke von dannen mit brummendem Schädel und geringeltem Schwanz.

Montagsmeeting

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