Читать книгу Montagsmeeting - Kai Preißler - Страница 8
Der Arschlutscher
ОглавлениеDer Konferenzsaal wird beherrscht von einem riesigen Tisch, der in der Form eines Os locker fünfundzwanzig Menschen Platz bietet. Exakt so viele Stühle sind um den Tisch platziert und warten auf ihre Herrchen. Vierundzwanzig, um genau zu sein, denn auf einem Stuhl sitze bereits ich.
„Warten Sie doch einfach schon mal hier“, hatte Pinella Dahlke gesagt, nachdem sie mich schweigend und mit noch immer offenem Reißverschluss am Rock hierher geführt hatte, „die Kollegen werden gleich alle kommen.“
So so, sie werden gleich alle kommen. Ich hatte den schwanzgesteuerten Danny Hahn vor Augen und stellte mir vor, wie die gesamte Belegschaft kollektiv aufstöhnen würde, sagte aber nichts und nickte. Seither sitze ich hier und warte.
Mein Blick ruht abwechselnd auf vier großen Bildern, die jeweils locker als Matratzen französischer Doppelbetten durchgehen könnten. Der Künstler hat die weiß angestrichenen Leinwände mit Hunderten bunter Federn beklebt – einmal mit roten, dann mit blauen, gelben und schließlich, auf dem vierten Bild, mit allen zusammen. Wenngleich den Bildern ein gewisser dekorativer Pfiff nicht abzusprechen ist, erinnern sie erschreckend an das, was an der Volkshochschule entstehen könnte, in Kursen wie „Kreatives Basteln für Unbegabte“, „Grundkurs Farbenlehre – wahrnehmen und gestalten“ oder „Raus aus dem Alltag – ein bunter Workshop für Hausfrauen in den Wechseljahren“.
Ich bin so fasziniert von den albernen Bildern, die bei jedem sensiblen Menschen eine üble Migräne auslösen könnten, dass ich fast meinen jungen Kollegen übersehen hätte, der soeben den Raum betritt und mich mit einem vitalen „Moschen“ begrüßt, der lässigen Version des „Morgen“.
Ich antworte höflich mit „Guten Morgen“, womit die zart sprießende Konversation jedoch schon wieder abreißt, da mein Kollege sich bereits mit seinem Notebook beschäftigt und sich über irgendwas Lustiges, das er dort vorfindet, demonstrativ beömmelt. Okay, noch ein Idiot. Ein paar Versuche hat LIVE COMMUNICATION ja noch.
Als nächstes betreten zwei junge Damen den Raum, die mich überhaupt nicht beachten und aussehen, als gehörten sie eigentlich zu Douglas. Also tue ich es ihnen gleich und verhalte mich so, als wären wir noch immer zu zweit – ich und Kollege Moschen, dessen Heiterkeit inzwischen zu einem miserabelst gespielten, aber wenigstens stillen Lachkrampf ausgewachsen ist. Nicht mal vor dem abgedroschenen Schenkelklopfer macht er halt. Ich kann seinen stummen Schrei nach Aufmerksamkeit regelrecht hören. Wenn ich jetzt jedoch darauf eingehe und ihn danach frage, was es denn dort Lustiges auf seinem Laptop gibt, habe ich den Typ bis zur Rente an der Backe. Wahrscheinlich ist er der, den schon in der Schule keiner mochte. Ich mag die arme Sau irgendwie auch nicht und schätze, dass die beiden Douglas-Tussen wenigstens da auf meiner Wellenlänge liegen.
Nach und nach trudeln immer mehr Kollegen ein und nur die wenigsten nehmen mich wirklich wahr. Darunter sind eine ganze Reihe skurriler Gestalten – blutarme Computer-Nerds, glatzköpfige Kreative, die schwarze Rollis unter dem gleichfarbigen Armani-Anzug tragen und ständig an irgendwelchen Blackberrys rumfingern, und ab und an hübsche Partymäuse, von denen ich später erfahre, dass sie studentische Hilfskräfte sind und im Dienstrang theoretisch noch unter mir rangieren. Danny Hahn jedenfalls rangiert sicher ganz gerne mal über ihnen. Wahrscheinlich sind die rangierwilligen Hollister-Schnecken sogar noch leichter zu kündigen als ich.
Dann betritt ein Typ den Raum, der irgendwie nicht so recht in die Szenerie passen will. Jeans, T-Shirt, Sneakers. Er blickt in die Runde und sagt „Morgen zusammen“, erhält aber nur vereinzelt eine Antwort. Ein unpassend offensives und viel zu lautes „Morgen Boss“ erhält er von dem Kollegen mit dem inzwischen abgeklungenen Lachkrampf, der auf einen freien Platz neben sich deutet.
,Boss?‘, frage ich mich. ,Der Typ? Wie ein Vorgesetzter sieht der nicht gerade aus und keiner nennt seinen Chef allen Ernstes Boss, zumal Danny Hahn hier doch der unangefochtene Leithengst sein muss.‘
Der Typ jedenfalls winkt freundlich ab und ignoriert den freien Platz geflissentlich. Er mag den Affen scheinbar auch nicht. Mir fällt fast ein Stein vom Herzen, denn der Neuankömmling ist hier im Raum der Einzige, den ich spontan als sympathisch bezeichnen würde.
Offenbar denkt er das auch über mich, kommt näher und fragt: „Ist der noch frei?“
„Klar“, sage ich und mache eine einladende Geste.
„Neu hier?“
„Flatschneu“, antworte ich etwas unsicher und frage dann ziemlich dämlich: „Und Sie? Du?“
„,Du‘ ist schon richtig. Gefühlte Ewigkeit. Ein Jahr.“
Klingt ja schon mal super.
„Ich bin Ben“, stellt er sich vor.
„Thomas“, antworte ich. Nach einer kurzen rhetorischen Pause ergänze ich, warum auch immer: „Meine Freunde nennen mich Hirni.“
„Ich glaube, dann nenne ich dich lieber Hirni. Thomas heißt der Vogel da drüben nämlich auch.“ Er deutet unauffällig auf Kollege Moschen. „Thomas Vogel.“
Mir schießen spontan eine ganze Handvoll Mördergags zum Namen ,Vogel‘ durch den Kopf, behalte sie aber für mich und sage stattdessen: „Alles klar. Und warum nennt der dich Boss?“
„Ach das. Ich habe mal den Fehler gemacht, dem Ochsen anzuvertrauen, dass ich gerne Bruce Springsteen höre. Seitdem glaubt der, wir wären so was wie Kumpel.“
„Verstehe. Und was machst du hier so?“
„Konzepte und Planung. So was halt in der Art.“
„Klingt ziemlich interessant.“
„Ja, ist ganz in Ordnung. Und du?“
„Ich habe bisher Werbetexte gemacht“, strunze ich. „Hab Germanistik studiert. Bin mal gespannt, was mich hier so erwartet.“
„Dem Himmel sei Dank! Ein Mann von Bildung. Dann kommt vielleicht doch mal so was wie Niveau in die Bude hier“, freut sich Ben und lacht.
„So schlimm?“
„Na, guck dir die ganzen Pfosten hier doch mal an. Die meisten bekommen nicht mal Groß- und Kleinschreibung auf die Kette. Du musst mal sehen, wie die E-Mails schreiben.“
Ich blicke ihn ratlos an und Ben zieht leicht resigniert die Schultern hoch.
„Sag mal“, fragt Ben, nachdem er mich einige Momente nachdenklich gemustert hat, „habe ich dich schon mal irgendwo gesehen?“
„Mich?“, frage ich ahnungslos. „Keine Ahnung, wüsste nicht, wo.“
„Kommst mir irgendwie bekannt vor.“
Ich zucke die Achseln und hoffe inständig, dass er mich nicht in einer der Quizshows gesehen hat.
„Warst du vielleicht mal Kandidat bei ,Wetten dass …?‘?“
Klarer Fall – er kennt mich wirklich aus einer Quizshow, wenngleich er mit ,Wetten dass …?‘ gehörig danebenliegt.
„Muss dich leider enttäuschen.“
Ben überlegt noch einen Moment, schüttelt dann aber ratlos den Kopf.
„Wo hast du denn dein Büro?“, fragt er schließlich.
„Hab ich noch nicht. Ich weiß eigentlich noch gar nichts. Weder, wo ich hin soll noch, was mich erwartet.“
„So geht’s mir jeden Tag.“ Er lacht und ich habe den Eindruck, dass man den Laden hier nur lachend ertragen kann.
„Habe nur mitbekommen, dass ich ins Team von irgendeiner Pia soll.“
Ben reicht mir ein zweites Mal die Hand und sagt: „Partner, willkommen, wir sind in einer Band“, als hätte ich es in den Recall der zweiundsechzigsten PopStars-Staffel geschafft.
Ich steige darauf ein und recke meine Faust, als hätte Dieter Bohlen mir einen Vertrag auf Lebenszeit gegeben.
„Und“, frage ich, „wie ist diese Pia so?“
„Super. Die ist echt super. Macht keine Riesenwelle und von den anderen hier kann der eigentlich keiner das Wasser reichen.“
Ich nicke anerkennend.
Dann betritt eine Frau den Raum und für einen Moment herrscht in meinem Kopf vollkommene Stille. Die kann noch keine dreißig sein und ist definitiv waffenscheinpflichtig. An ihr stimmt ausnahmslos alles und der Weg zu ihrem Platz bei den Douglas-Tussen wird augenblicklich zum Catwalk. Stünde sie vor Heidi Klum, wäre sie diejenige, die sagt: „Ich habe heute leider kein Foto für dich“ und Heidi verließe weinend den Raum.
Ich tippe Ben an und frage: „Ist das Pia?“
Ben schüttelt den Kopf und lacht. „Nee, Gott bewahre – das ist nicht Pia.“
„Schade.“
Ben schmunzelt und beugt sich zu mir rüber: „Vorsicht! Verpackung und Inhalt sind zwei Paar Schuhe. Wie immer in unserer Branche.“
„Egal“, entfährt es mir.
Ben sieht mich an, als hätte ich ihm anvertraut, dass ich Mike Tyson die Handtasche stehlen will.
„Wer ist das denn?“, frage ich leise und Ben antwortet verschwörerisch: „Kathrin! Ein ganz heißer Knaller. Aber ein Charakter aus blanker Scheiße.“
Ein schönes Bild, das ich nun vor meinen Augen habe! Ich will ihn fragen, ob die Konsistenz wenigstens formbeständig ist oder weich und breiig, doch Ben scheint meinen Gedanken erraten zu haben und flüstert: „Einer dieser Haufen, die man ganz lange unter den Schuhen hat, wenn man reingetreten ist. So tief in den Rillen, weißte?“
Ich versuche mir diesen Traum von einer Frau aufrechtzuerhalten, indem ich mir eine plausible Erklärung für Bens Abneigung zusammenreime. Wahrscheinlich hat sie ihm den Korb seines Lebens gegeben und seitdem missgönnt er auch jedem anderen diesen Ferrari in engen Jeans.
„Darf ich dich mal was fragen?“, frage ich nach einer Weile und senke meine Stimme so, dass bloß keiner mithören kann.
Ben beugt sich zu mir.
Ich räuspere mich. „Hast du hier einen richtigen Vertrag?“
„Einen Vertrag? Ja klar habe ich einen Vertrag“, lacht er, wobei sein Lachen einen Hauch zu bitter klingt.
Ich nicke und schaue resignierend auf den Tisch.
„Fragt sich nur, was für einen Vertrag“, sagt er genüsslich. „Nämlich einen Scheißvertrag! Die meisten kriegen hier Praktikantenverträge und eine Bezahlung unter aller Sau.“
„Du auch?“
„Natürlich. Du etwa nicht? Wir sind hier doch nur die Deppen.“
„Und ich hatte schon gedacht, ich bin der Einzige, der hier verarscht wird.“
„Keine Sorge, Hirni. Richtige Verträge mit entsprechender Bezahlung haben hier nur die wenigsten. Außer dem Chef nur der Hahn, die Dahlke und ein paar Idioten aus der IT.“
„Ist Danny Hahn denn nicht der Chef?“
„Ach woher? Der leitet hier den Vertrieb und akquiriert die meisten Kunden. Sozusagen unser oberster Klinkenputzer. Aber wirklich zu sagen hat der nichts. Hätte er nur gerne.“
Interessant! Fast so interessant wie der Auftritt von Whitney, mit der ich ja bereits ein anregendes Gespräch an Benjamins Grab hatte.
Mit ihrem Hintern drückt sie die Tür auf, um einhändig ein Tablett mit zwei Thermoskannen und mehreren Tassen, Untertassen, Löffeln, Zucker und Milch zu balancieren. In der anderen Hand hält sie ein schnurloses Telefon, ihr iPhone und eine Tüte Chupa-Chups-Lutscher. Sie wirkt für ihre Verhältnisse hochkonzentriert, da sie der Balanceakt offensichtlich nicht nur motorisch, sondern auch kräftemäßig maximal auslastet.
,Jetzt bloß nicht auf die Uhr gucken, Whitney‘, denke ich beschwörend.
Auch Ben verfolgt gespannt jede ihrer Bewegungen.
„Ein Zuckerstick mehr und der Arm bricht ab“, flüstert er mir zu.
Whitney ist inzwischen in leichter Not und das Tablett neigt sich merklich, aber keiner der Anwesenden greift ein und hilft. Als wäre das Schicksal ein Charakterschwein, beginnt nun zu allem Überfluss noch das Telefon zu piepen. In ihren Augen flackert die Panik und sie versucht tatsächlich, das Telefon in ihrer vollen Hand zu wenden, um den Anruf entgegenzunehmen. Wenn ihr das gelingt, ohne dass sie hier einen halben Polterabend vom Zaun bricht, ist sie definitiv reif für das Zirkusfestival von Monte Carlo oder wenigstens für ein Stipendium an der Artistenschule in Berlin. Warum nur kommt ihr denn keiner zu Hilfe? Sollte ich als Agentur-Novize etwa derjenige sein, der hier den Retter spielt?
Erneut scheint Ben meine Gedanken zu erraten, hebt beschwichtigend die Hand und flüstert: „Nichts machen, nur genießen.“
Wie aufs Stichwort erhebt sich Oberspacko Vogel und eilt Whitney entgegen. Anstatt ihr jedoch zu helfen und eventuell das Tablett oder wenigstens die blöden Lutscher abzunehmen, macht er das einzig Falsche und setzt eine Choreografie in Gang, die selbst Stan Laurel und Oliver Hardy als überzogen aus dem Drehbuch gestrichen hätten. Der Depp greift nach einer der Thermoskannen und bringt das gesamte Tablett vollkommen aus dem Gleichgewicht – der Alptraum jeder Kellnerin. Mit einem kehligen Schrei, der klingt wie ein gewürgter Frosch, reißt Whitney die Hand unnötigerweise hoch und bringt so erst richtig Schwung in das Desaster. Während die zweite Thermoskanne zu Boden stürzt, fliegen die restlichen Gegenstände bis unter die Decke, wo sie nicht nur selbst zu Bruch gehen, sondern zudem eine elegante Halogenkonstruktion zerschmettern. In Panik schnappt Whitney nach dem Tablett, das auf sie zurück stürzt, und katapultiert dabei das Mobiltelefon quer durch den Raum. Erst das gelbe Federbild stoppt den Flug, wobei vereinzelte Federn zu Boden gehen.
Wo ein Telefon ist, da sind auch Lutscher, deren Tüte mit einem lauten Ratsch aufreißt, sodass gut drei Dutzend bunt gestreifter Projektile auf die Anwesenden herabregnen. Mit offenen Mündern und ungläubig staunend, ertragen sie den Beschuss. Unfassbar – es ist Karneval und keiner hat’s bisher gemerkt!
Wie eine tragische Heldin steht Whitney in einem wahren Schlachtfeld, aber, Gott sei Dank, sie ist unverletzt und lebt. Mit zittriger Hand führt sie das Telefon ans Ohr, um den Anruf mit zwei knappen Sätzen abzuwürgen: „Ist grad schlecht. Ich hab hier voll die Scheiße.“
Besser kann man es nicht sagen. Szenenapplaus wäre fällig. Das undankbare Publikum jedoch schweigt und wendet sich nach einer kurzen Phase des Fremdschämens wieder den eigenen Gesprächen zu. Comedy kann so unbarmherzig sein.
Ohne jede Würde beginnt Whitney jedoch auf allen Vieren das Trümmerfeld zu ordnen. Dabei wimmert sie leise Flüche, was wie ein orientalisches Gebetsritual wirkt. Ihre aufreizend enge Hüfthose offenbart eklatante Schwächen und gibt den Blick nicht nur auf ein kapitales Arschgeweih frei, sondern gleichwohl dorthin, wo nie die Sonne scheint. Knapp zwei Meter vor mir krabbeln zwei halbentblößte Arschbacken über den Vorwerkteppich, ohne dass Whitney auch nur ansatzweise ahnt, welchen Anblick sie den Anwesenden zumutet. Männer mögen in der Regel zwar Popos, aber nicht das, was sich in der Tiefe dazwischen verbirgt.
Ben blickt zur Decke und lächelt mir dann entschuldigend zu. Fast wirkt es, als sei ihm die Situation peinlich.
Die anderen Männer glotzen mit offenen Mündern und selbst Vogel hat für den Moment den Sendebetrieb eingestellt.
Allein die granatenscharfe Kathrin scheint Whitneys Selbstdemontage richtig zu genießen und lutscht voller Hingabe einen der vom Himmel geregneten Chupa-Chups-Lutscher. Dann kommt sie auf die sensationelle Idee, sich über den Tisch zu beugen und den klebrigen Lutscher am langen Arm in den verrutschten Hosenbund von Whitney fallen zu lassen, wo er präzise zwischen den Pobacken in der Tiefe des Raumes verschwindet.
Whitney stöhnt qiekend auf, wobei sich nicht eindeutig sagen lässt, ob sie wirklich erschrocken ist oder ihr der Lutscher im Arsch nicht doch ganz gut gefällt.
Kathrin grinst und erntet huldigendes Gelächter – interessanterweise ausschließlich von den männlichen Kollegen. Bens Warnung und Verweis auf den nicht ganz astreinen Charakter der Dame gewinnt zunehmend an Glaubwürdigkeit.
Während Whitney, noch immer auf Knien, verzweifelt versucht, sich vom Lutscher zu befreien und mit der Hand von hinten in die Hose greift, lässt Kathrin den Blick triumphierend durch die Reihen wandern. Ich verfolge ungläubig, wie Whitneys Hand bis zur Mitte des Unterarms in der Hose verschwindet und dort verzweifelt herumfingert. ,Das wird hier kein Meeting‘, schießt es mir durch den Kopf, ,das ist die Vorrunde vom ,Supertalent‘!‘ Fast nebensächlich nehme ich angesichts dieses würdelosen Schauspiels wahr, dass Kathrin mich inzwischen ansieht. Ich reiße mich von Whitneys Rektal-Performance los und meine Augen geraten in den Bannstrahl von Kathrins Blick. Fast unmerklich fährt sie sich mit der Zunge über die Lippen und ich spüre, wie sämtliches Blut meinem Kopf entweicht und sich in den Füßen sammelt. Wer mich jetzt nach meinem Namen fragt, wird keine vernünftige Antwort erhalten. Kathrin reduziert mich mit einem einzigen Blick zu einem sabbernden Volltrottel. Alles, was ich in diesem Moment weiß, ist, dass Kathrin die mit Abstand aufregendste Frau der Welt ist. Mein Wissen von charakterlichen Defiziten ist wie weggeblasen, was leider offenbar auch für mein Gehirn gilt. Ich muss aussehen wie ein Idiot im Wachkoma und nehme vollkommen handlungsunfähig zur Kenntnis, wie Kathrin abfällig lächelt und mich so im Gleitflug aufkommender Glückseeligkeit eiskalt abschießt.
„Was ist denn hier passiert? Ist jemand verletzt?“ In der Tür steht eine junge Frau, die schätzungsweise in meinem Alter sein dürfte und ungläubig das Chaos auf dem Boden begutachtet.
„Mir ist das Tablett hingefallen“, untertreibt Whitney.
„Und was um alles in der Welt machst du da?“, fragt die Frau mit kurzem, blondem Pferdeschwanz fassungslos und mustert Whitney, deren Arm noch immer in der Hose wühlt. Für einen Moment herrscht betretene Stille, dann endlich zieht Whitney den feuchten Lutscher hervor und hält ihn, wie einen Beweis ihrer Unschuld, in die Luft.
Die Frau blickt fragend in die Runde, entschließt sich jedoch offenbar, keine weiteren Fragen zu stellen, deren Antworten sie nur verstören würden.
Sie schüttelt den Kopf. „Wie auch immer, die Dahlke und der Hahn sind im Anmarsch. Lasst uns den Saustall hier wegräumen.“
Sie legt ihr Mini-Notebook beiseite und kniet sich zu Whitney, die den Lutscher auf den nächtsbesten Tisch gelegt hat. Gemeinsam sammeln sie die Scherben ein. Die Douglas-Tussen, eigentlich prädestiniert für leichte Aufräumarbeiten, bewegen sich kein Stück und starren, noch immer von dem Schauspiel konsterniert, angeekelt auf den langsam antrocknenden Lutscher.
„Könnte vielleicht mal einer mit anpacken?“, fragt der blonde Pferdeschwanz nach einer Weile und sieht mich an. Ein wenig unschlüssig suche ich Rat bei Ben. Der zuckt die Schultern, steht auf und hilft. Ich folge ihm und vermeide, Kathrin meinen Hintern zuzudrehen.
Während wir so auf allen Vieren versuchen, die Spuren von Whitneys Malheur zu beseitigen, streckt mir die junge Frau die Hand entgegen.
„Neu?“
„Nee, mit Perwoll gewaschen“, erkläre ich und schüttele ihre Hand.
„Riesenwitz“, antwortet sie und wirkt leicht genervt. „Pia.“
„Pia“, wiederhole ich im gleichen Tonfall, als käme ich vom Ork und müsse mir den komplizierten Namen erst gewissenhaft einprägen. Mich selbst vorzustellen, vergesse ich dabei komplett.
„Ja, genau! P-I-A. Wie man’s spricht.“
Ich überlege, ob ich gerade verarscht werde und wiederhole den Namen erneut: „Pia“.
„So prima, jetzt kannst es ja. Und du?“, hakt sie nach. „Oder heißt du etwa auch Pia?“
Ich werde verarscht. Eindeutig.
„Thomas“, sage ich etwas unsouverän und begreife, dass sie diejenige sein muss, in deren Team ich arbeiten soll. Das fängt ja gut an. Im Augenwinkel sehe ich hinüber zu Kathrin, die unseren Reinigungstrupp mit aufreizender Lässigkeit beobachtet. Mein Gott, ist die scharf! In welchem Team die wohl arbeitet, frage ich mich. Ganz gleich, welche Veranstaltungen auch immer sie zu organisieren hat, dort will ich hin – und wenn es Tupper-Partys sind. Vielleicht sollte ich einen Karriereplan entwickeln und Pia nur als vorübergehende Station auf meinem Weg nach oben betrachten. Immerhin ist die mir aber immer noch wesentlich lieber als so hohle Fritten wie Whitney oder Pinella Dahlke.
Wie aufs Stichwort steht die Partykanone prompt in der Tür. Und neben ihr die schmierige James-Bond-Persiflage, der Mann mit den tausend Eiern.
„Was sucht ihr denn da?“, fragt er. „Den Sinn des Lebens?“
„Noch ein Superwitz“, zischt mir Pia zu, steht auf und geht zu ihrem Platz. Kollege Vogel findet den Witz offenbar klasse und beömmelt sich mal wieder, diesmal etwas leiser und verstohlener. Er gibt ein dämlich verkniffenes und peinlich gehemmtes „Gnihihihihi …“ von sich. Oh mein Gott, ist der doof.
Ben und ich, wir setzen uns ebenfalls und fühlen uns wie zwei blöde Schuljungs, die Hofdienst hatten.
Vom Platz aus beobachte ich Pia, die ihr Notebook hochfährt und sich eine Strähne aus der Stirn bläst.
,Eigentlich ganz hübsch‘, denke ich. ,Ihr Problem ist nur, dass sie mit einer Göttin den Raum teilt und da verblasst jeder zwangsläufig zum hässlichen Entlein.‘
„Also, was steht an?“, fragt Danny Hahn und gibt sich als unumschränkte Führungskraft.
„Wollen wir nicht auf den Chef warten?“, unterbricht ihn Pinella mit fast körperloser, gleichbleibend langweiliger Stimme, die garantiert jedes Hörbuch zum Ladenhüter machen würde.
Danny Hahn wirkt pikiert. Autsch, das hat gesessen. Fast glaube ich, er ist eine kleine Mimose, die sich hinter einem Nebel aus großzügig versprühtem Testosteron versteckt.
Ein vollkommen deplatziertes „Gnihihihihi …“ ist zu hören.
Agent 0,07 wirft Kollege Vogel einen bitterbösen Blick zu und nuschelt genervt: „Meinetwegen“. Dann greift er nach einem Lutscher auf seinem Tisch. Danny Hahn kommt offenbar nicht im Traum auf die Idee, dass diese Lutscher normalerweise in klare Folie gewickelt sind, und schiebt sich Whitneys Arschlutscher gelangweilt in den Mund. Jeder im Raum, außer Pinella Dahlke, verfolgt den Vorgang voller Entsetzen, aber keiner sagt ein Wort. Für einen kurzen Moment, der sich anfühlt wie eine kleine Ewigkeit, verharrt er, als würde ihn etwas an diesem Lutscher irritieren. Dann beginnt er genüsslich zu lutschen und fingert sein iPhone aus der Tasche. Endlich weiß auch ich, was Fremdekeln ist.
Fast dankbar für die Zäsur nehme ich die Ankunft eines graumelierten Herrn zur Kenntnis.
Ben stupst mich an. „Dietmar Döbel. Dein neuer Chef.“
„Der Typ?“
Ben nickt. „Eigentlich ganz nett, hat aber ein leichtes Autoritätsproblem.“
„Dietmar Döbel?“, frage ich ungläubig nach.
„Genau so! Leider auch fachlich eine echte Null.“
Der untersetzte Mann, der den Raum betritt, hat eine borstige Glatze, einen ziemlich deplaziert wirkenden Schnurrbart und geht schätzungsweise stramm auf die Sechzig zu. Er sieht aus wie eine Karikatur und könnte nicht nur namentlich, sondern auch optisch einem Benjamin-Blümchen-Hörspiel entsprungen sein. Ich kämpfe einen aufkommenden Lachanfall herunter und gerate fast in Panik, da ich ahne, dass ich hier heute noch unangenehm auffallen werde.
Als Dietmar Döbel zu sprechen beginnt und die Belegschaft mit einem offensiven „So, alle da?“ begrüßt, brechen bei mir sämtliche Dämme und ich lache laut auf. Dietmar Döbel hat eine Stimme ohne jeglichen Bass und krächzt zudem noch heiser wie ein korrupter Mafia-Pate. Etwa zwanzig Augenpaare sehen mich irritiert an und Dietmar Döbel fragt gepresst: „Junger Mann, Sie scheinen hier neu zu sein. Was bitte ist so lustig?“
Ich breche erneut in Lachen aus und könnte gleichzeitig im Boden versinken. Ein schlechterer Einstand am ersten Tag ist wohl kaum denkbar, aber dieser ganze Laden ist einfach zu viel für mich. Richtig normal ist hier keiner. Das ist keine Eventagentur, sondern eine Freakshow! Ich bekomme einen ausgewachsenen Lachkrampf und kann nichts dagegen tun.
Trotz des Rauschens in meinem Kopf höre ich das leise, verkniffene „Gnihihihihi …“ von Kollege Vogel. Diesmal würde ich ihm gerne einen bösen Blick zuwerfen, kann es aber nicht.
Während ich mein Gesicht, vom Lachen inzwischen puterrot, in meinen Handflächen verberge, nimmt Dietmar Döbel langsam Platz. Erst als Ben mich anstupst und mir zuzischelt, dass Döbel vor zwei Jahren Kehlkopfkrebs hatte, klingt mein Lachkrampf ab. Ich blicke in die Runde und in zumeist verständnislose Gesichter. Nur Kollege Vogel hat noch seinen Spaß.
„Gnihihihihi.“
Pia schmunzelt unmerklich. Kathrin dagegen grinst unverhohlen. Sie steht offenbar auf Geschmacklosigkeiten jeder Art. Alle anderen zeigen keine Regung und Pinella Dahlke schüttelt fast unmerklich missbilligend den Kopf. Ich fühle mich wie jemand, der als Einziger im roten Sakko zur Beerdigung erschienen ist und statt Blumen brennende Wunderkerzen auf den Sarg wirft.
„Nun denn, wenn wir es dann haben?“ Dietmar Döbel krächzt in die Runde. Nach einigen gewürgt klingenden Einführungssätzen übergibt er das Wort an Pinella Dahlke, die monoton über die aktuelle Lage der Agentur referiert und mit den Namen illustrer Unternehmen um sich wirft. Nach einer Reihe, den Gesichtern der Versammelten nach zu urteilen, offenkundig sehr positiven Informationen, kommt sie, zumindest ihrer Mimik nach, zu den unerfreulicheren Themen des Tages und stellt mich als neuen Mitarbeiter vor. Sie erklärt, dass ich Pia Sieberts Team unterstützen werde, die mich mit großen Augen ansieht. Ich versuche, sie mit einem Lächeln zu überzeugen, bin aber nur mäßig erfolgreich und wirke offenbar eher hilflos. Sie nickt mir beruhigend zu.
„Apropos, wie läuft’s denn bei dir?“, will Danny Hahn von Pia wissen und ich, aber auch alle anderen, zucken fast zusammen. Im direkten Kontrast zu Dietmar Döbels Mickerstimme und Pinella Dahlkes emotionslosem Vortrag, klingt Danny wie ein Megafon am Anschlag.
„Ganz gut. Wenn nichts schiefgeht, sollten wir den Auftrag für Berlin haben“, antwortet Pia. Sie zupft ihre Ärmel gerade. „Um elf sind zwei Leute vom Konzern hier und dann werden wir ja sehen. Ich bin aber ganz optimistisch.“
„Wen schicken die?“
„Irgendeine Sabrina Monk. Und einen …“ Pia blättert in einer dünnen Projektmappe, „… einen Markus Lecknepper.“
Ich atme schwer. Zwar verstehe ich keine Zusammenhänge, aber bei der Vorstellung, gleich in Pias Team einem Typen gegenüberzusitzen, der „Lecknepper“ heißt, macht mir jetzt schon Angst. Heute darf ich mir kein weiteres Fettnäpfchen mehr leisten.
„Und habt ihr schon über das Budget gesprochen?“
„Das Agenturhonorar liegt bei zwölftausend. Die Fremdkosten bestimmt noch mal bei acht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die noch drücken wollen.“
„Noch mehr drücken?“, fragt Dietmar Döbel mit panischem Unterton in der ohnehin schon kämpfenden Stimme. „Ich denke, die wollen die ganz große Nummer!“
Pia zieht ratlos die Schultern hoch. „Klar! Am liebsten Oscarverleihung, aber es darf nichts kosten. Ist doch wie immer.“
Dietmar Döbel prustet empört. „Dass Sie mir das nicht versaubeuteln!“
Ich tippe Ben an und frage leise: „Was für eine Firma ist das denn?“
„’ne Restaurantkette. PastaFigaro.“
„Die?“, frage ich begeistert. „Die gibt’s doch hier in der Innenstadt auch.“
„Die gibt es inzwischen schon fast überall“, antwortet er gelangweilt.
„Und was macht ihr da?“
„Eröffnungsveranstaltung. Mit Promis und so.“
„Nicht schlecht.“ Ich nicke anerkennend.
Wenn ich auch nicht weiß, wie so eine Eröffnung aussieht und was da genau gemacht werden muss, merke ich dennoch, wie in mir Begeisterung wächst. Das PastaFigaro ist eines der angesagtesten Restaurants in der Stadt und immer rappelvoll. Ich war zwar selbst noch nicht drin, weil alle, die hingehen, auf erfolgreich und busy machen, also keine klassischen ,Wash & Go‘-Mitarbeiter sind, aber die Vorstellung, bald auch so cool und lässig zu sein, fasziniert mich.
Noch mehr fasziniert mich allerdings Kathrin.
„Und was für Projekte betreut die?“, flüstere ich Ben zu und nicke in Kathrins Richtung.
„Private Events.“
Ich blicke ein wenig ratlos aus der Wäsche und Ben wird konkreter.
„Meistens Hochzeiten. In manchen Fällen auch mal Geburtstage, wenn irgendein hohes Tier fünfzig wird oder so. Vorletzten Monat war sogar eine Beerdigung dazwischen.“
„Jemand beauftragt für seine Beerdigung eine Eventagentur?“
„Ne“, amüsiert sich Ben, „das haben die Mitarbeiter gemacht. Der Typ, der das Zeitliche gesegnet hatte, war Seniorchef von so ’nem Großunternehmen. Da waren sogar die großen Fernsehsender mit Kamerateams und dem ganzen Firlefanz.“
„So was kann die alles?“
„Ach, alles kein Hexenwerk. Und im Zweifelsfall rettet ihr dann wieder irgendjemand den Hintern. Meistens die Kerle natürlich.“
Wen wundert’s. Ich jedenfalls würde ihr gerne mal den Hintern retten dürfen. Auch wenn mich Hochzeiten jetzt eher nicht so interessieren – der Hintern wäre es Wert, auf jede PastaFigaro-Eröffnung zu verzichten.
„Braucht den Raum hier gleich jemand?“, fragt Pia. „Dann würde ich die PastaFigaros nämlich ganz gerne hier empfangen.“
Keiner der Anwesenden hat Einwände, sodass Dietmar Döbel das erste Montagsmeeting meiner noch jungen Eventlaufbahn beendet und sich nach und nach jeder der Anwesenden aus dem Raum schleicht. Da Pia und Ben sitzen bleiben, tue ich es ihnen gleich und warte ab. Danny Hahn zwinkert mir zu und tippt sich unsagbar cool mit dem Zeigefinger zum Gruß an die Stirn. Dann entsorgt er den abgenagten Stiel seines Lutschers mit einem nachlässigen Wurf knapp neben den Abfallbehälter und greift sich die Tüte mit den restlichen Chupa-Chups-Lutschern. Er runzelt die Stirn und pfeffert die Tüte in den Müll.
„Spinnst du?“ Pinella Dahlke blickt ihn verständnislos an. Seine Antwort kann ich nicht mehr ganz verstehen, da er bereits auf dem Flur ist; es sind nur Satzfetzen, die an mein Ohr dringen. Was ich aber definitiv noch höre ist „… schmecken total scheiße …“ und „… bestimmt schon abgelaufen.“