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Sechzehntausend

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Eine erfolgreichere Zukunft? Ja, richtig – erfolgreicher. Die ersten fünfunddreißig Jahre meines Lebens entsprachen nicht gerade dem, was man sich unter einer Bilderbuchkarriere vorstellt, zumindest findet man nicht viel Verwertbares, wenn man meinen Namen bei Google eingibt. Jedenfalls nichts, das wirklich mich betrifft. Noch vor wenigen Wochen befand ich mich, mit fünfunddreißig Jahren, in der heißen Endphase meiner Ausbildung zum Vollakademiker und gehörte so zu einer Gruppe von Menschen, deren Alltag meist vollkommen falsch eingeschätzt wird.

Mein Leben als Student war nämlich weit weniger lustig, als oftmals angenommen wird, und Ferien hatte ich prinzipiell nie. Lediglich zweimal drei Monate vorlesungsfreie Zeit ließen mir kurze Atempausen zur Erholung. Mein Germanistikstudium absolvierte ich dank meines enormen Eifers knapp unter der dreifachen Regelstudienzeit in schlappen dreiundzwanzig Semestern. Ja, von den nackten Zahlen bin auch ich selbst immer wieder sehr beeindruckt, aber die Zeit vergeht einfach viel zu schnell, wenn man nur genug Interessen abseits der Uni hat.

Ein Praktikum hier, ein anderes dort und dazwischen eine ganze Reihe bedeutungsloser Auftritte als Gitarrist einer vollkommen unbekannten Band namens ‚Narcotic Mushrooms‘, deren Name mein Kumpel Armin verbrochen hat – Sänger und Frontmann der Mushrooms, in der neben uns noch ein Bassist, ein Keyboarder und ein Schlagzeuger mitwirkten. Gemeinsam träumten wir von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll.

In meinem persönlichen Fall war das Angebot an Sex überschaubar und die Drogen beschränkten sich auf Bier und geschnorrte Zigaretten. Rock ’n’ Roll aber hat es tatsächlich gegeben. Wer erinnert sich nicht an unseren legendären Auftritt als Vorgruppe von Silbermond? Als wir um 14 Uhr wie in Zeitlupe die Bühne betraten, konnten wir ahnen, wie sich Stars in einer solchen Situation fühlen müssen. Ahnen, wohlgemerkt. Man sagt, von einer beleuchteten Bühne aus sei das Publikum so gut wie nicht zu erkennen. Es stimmt. Als ich voller Energie meine Gitarre in die Höhe reckte, konnte ich das Publikum tatsächlich nicht sehen. Wie auch, es war gar keins da. Außer uns lief dort lediglich ein halbes Dutzend Bühnentechniker herum, die mit professioneller Routine die Lichtshow für Silbermond programmierten. Dass die singenden Wimmerpimpanellen ihren Auftritt erst sieben Stunden nach uns haben sollten, war uns nicht wirklich klar gewesen. Auch nicht, dass erst nach uns und vor drei weiteren Bands, die im Gegensatz zu uns sogar die Fahrtkosten erstattet bekamen, der offizielle Soundcheck stattfinden sollte. Im Nachhinein ist mir noch heute peinlich, dass ich einen der schwarz gekleideten und noppenbehandschuhten Bühnenroadies angeblafft hatte, meine Monitorbox würde brummen – das sind jene Lautsprecher, die lässig auf der Bühne herumliegen und dafür sorgen, dass die Musiker ihre eigene Musik hören können. Natürlich nur, wenn sie in Betrieb sind. Meiner hat de facto nicht einmal gebrummt. Schlimmer noch – er war, wie ich hinterher sah, zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht verkabelt.

Dennoch gingen wir in der Rolle von Rockstars voll auf. Besonders glaubwürdig fand ich meinen Einfall, mit dem Schlussakkord einen dieser beweglichen High-End-Scheinwerfer umzutreten. Woher zum Teufel sollte ich auch wissen, dass High-End in dem Fall bei neuntausend Euro anfängt? Solche Missgeschicke sind es, die dafür gesorgt haben, dass ich bei meinen Freunden auf den Spitznamen ‚Hirni‘ höre und den, wie ich finde, unbegründeten Ruf genieße, nicht immer nur Entscheidungen von bestechender Sinnhaltigkeit zu treffen. ,Thomas‘ nennt mich außer meinen Eltern eigentlich kaum noch einer.

Es war aber irgendwie eine tolle Zeit. Man träumte vom ersten Plattenvertrag, von Groupies in der Hotelsuite und langen Fahrten im Tourbus – kurz: von Wein, Weib und Gesang. In meiner Suite, die ich dank einer mutig kalkulierten BAföG-Anleihe monatsweise mietete und mir mit drei weiteren Personen teilte, wartete nur ein Groupie, nämlich Susi, eine dickliche Jurastudentin, die jeden vierten Tag Spüldienst hatte und von einer wirklichen Sahneschnitte etwa so weit entfernt war, wie Barbamama von Shakira.

Und dann gab es da noch Imke. Imke war kein Rauhaardackelweibchen, wie der Name im ersten Moment irreführend suggerieren mag, sondern meine Freundin. Ja, sie war! Zuletzt vor drei Jahren, zehn Monaten und achtundzwanzig Tagen. Seitdem bin ich notgedrungen Single. Was als Notlösung begann, funktioniert inzwischen ganz gut. Was sage ich, es klappt prächtig, sodass ich mich gar nicht beklagen will. Bei genauer Betrachtung hätte ich die drei Jahre davor mit einem Rauhaardackel sogar deutlich entspannter und erfüllter verbringen können. Imke fand mich im Großen und Ganzen zwar gut, aber das meiste von dem, was ich tat, scheiße. Mein Studium fand sie belanglos, meinen Einsatz bemitleidenswert und die Mushrooms schlichtweg unterirdisch. Ihr eigenes BWL-Studium fand sie spannend, das von Papa gesponserte BMW-Cabrio sexy und ihre tranige ,Café del Mar‘-Mucke endgeil.

Imke gehörte zu jener Lifestyle-Generation, der ein Lounge-Würfel allemal lieber ist als mein alter Ohrensessel, an dem zwar viele Erinnerungen, aber eben auch eine gehörige Portion Patina haften.

Alte Ohrensessel gehörten in ihrer Welt auf den Sperrmüll, wie auch mein alter Röhrenfernseher, seinerzeit ein Hammerteil, aber leider ohne Ambilight und unbestreitbar tiefer als 4,9 Zentimeter.

Nach einer Weile muss Imke dann wohl klar geworden sein, dass aus mir weder ein wirklicher Rockstar, noch ein legitimes Mitglied im Nespresso-Club werden würde, sodass ich kurz und schmerzlos aus dem Drehbuch ihres Lebens gestrichen wurde. Mit wenigen Worten war die Sache beendet und der Ohrensessel ein frischer Single.

Ihr Vater, ein schnauzbärtiger Geschäftstyp irgendwo zwischen Dieter Zetsche von Mercedes und Antje, dem NDR-Walross, der allmonatlich ein kleines Vermögen mit seinem BMW-Autohaus scheffelt und Lieferantenrechnungen gerne mal ignoriert, muss darüber so erfreut gewesen sein, dass er seiner Tochter spontan einen Allrad-SUV spendierte, der im Skiurlaub ohnehin viel praktischer ist als jedes Cabrio. Gut erkannt!

Noch heute wirbt Imkes Vater, nennen wir ihn einfach den ,Imker‘, mit jenen Werbeslogans, die ich ihm vor Jahren getextet hatte, ohne dafür jemals einen einzigen Cent gesehen zu haben. Ein richtig feiner Kerl also, dieser Imker, und meine Ex ist die Garantie dafür, dass die besten seiner Charaktereigenschaften der Nachwelt erhalten bleiben.

Dennoch stellte meine Ausmusterung damals natürlich einen Einschnitt dar, der erst einmal alles durcheinanderwirbelte. In meinem persönlichen Fall löste er gleich eine ganze Reihe von Ereignissen aus, deren auffälligstes ein neuer Haarschnitt war – besser gesagt, überhaupt ein Haarschnitt – sowie ein ausgefeilter Businessplan zur Restfinanzierung meines Studiums, verbunden mit einem ersten Grobkonzept für meine Magisterarbeit, die knappe drei Jahre später auch tatsächlich fertiggestellt war und feierlich dem Prüfungsamt übergeben wurde, als handele es sich um die erste Gutenberg-Bibel überhaupt.

Von noch deutlich subtilerer Finesse war indes mein Finanzplan, der ohne jede richtige Arbeit auskam und im Wesentlichen eine Reihe von Besuchen in deutschen Fernsehquizshows vorsah. Den Start meiner Quizkarriere wagte ich mit einer Bewerbung bei Jörg Pilawa. Da ich mich mit dem Quizkonzept offenbar nicht ausreichend befasst hatte, klärte mich eine Redaktionsassistentin freundlich, aber bestimmt per E-Mail auf, dass nur Paare und keine Einzelkandidaten ausgewählt würden und man mich daher nicht für das Auswahlcasting vorgesehen hätte. Kurzzeitig war ich versucht, mich erneut zu bewerben, jedoch hätte mein Kumpel Armin sicher alles versaut, was er nämlich meistens tut.

Da ich mir ein Vorsingen bei ,Deutschland sucht den Superstar‘ oder eine Blamage bei ,Schlag den Raab‘ ersparen wollte und ich von ,Germany’s next Top Model‘ garantiert eine Absage erhalten hätte, blieben mir in Ermangelung von Wim Thoelke nur kleine Formate wie ,Quiztaxi‘ oder das Einsenden unscharfer Handyvideos bei ,Ups – die Pannenshow‘, bei der ich nach einer Reihe allzu schlechter Fakes auf dem Index stand.

Ich hätte jedoch nie geglaubt, dass man sich auf die Art geschlagene drei Jahre über Wasser halten kann. Beinahe hätte es sogar für ein halbes Leben gereicht. Den größten Batzen meines Etats, nämlich sechzehntausend Euro, erwirtschaftete ich schließlich bei Günther Jauch. Das klingt für einen Studenten spontan nach richtig viel Geld. Der routinierte Fernsehzuschauer weiß jedoch, dass die Zahl ‚Sechzehntausend‘ bei ,Wer wird Millionär?‘ nur zwei Dinge bedeuten kann: Entweder der Kandidat kennt zwar alle deutschen Sprichwörter, hat aber die Allgemeinbildung eines Viertklässlers oder aber er ist Opfer seines Halbwissens geworden und hat eine Menge sicher geglaubten Geldes verloren, respektive verzockt. Bei mir war Letzteres der Fall. Nach einem glanzvollen Start – keiner der übrigen Kandidaten hatte die Bremer Stadtmusikanten schneller von oben nach unten sortiert als ich – marschierte ich souverän durch eine ganze Reihe mehr oder weniger intelligenter Fragen und Günther Jauch schien hocherfreut, einen Kandidaten präsentieren zu dürfen, der nicht nur gebildet, sondern auch halbwegs unterhaltsam, charismatisch und eloquent ist. Zumindest war das mein Eindruck, bis ich erstmals bewusst auf die Monitorgrafik sah, der zufolge mich vom Gewinn der Million nur noch zwei läppische Fragen trennten. Doch dann kam der ungebremste Sturz aus den Höhen des gefühlten Geldadels in die Niederungen von Dortmund-Persebeck. Mit noch allen verfügbaren Jokern war ich bei der 500.000-Euro-Frage felsenfest davon überzeugt, dass Mangoldt entweder ein jüdischer Komponist war oder ein Botaniker mit Vorliebe für Gemüse. Einen Nationalökonom aus dem 19. Jahrhundert hatte ich definitiv nicht auf der Rechnung. Günther, der mir auf der anschließenden Aftershowparty spontan das Du anbot, offenbar auch nicht. Wenn man auf dem Weg zur Million beim Einbiegen auf die Zielgerade von einem Mann weggegrätscht wird, dessen Name klingt wie eine Zahnfüllung, hat man alles Recht der Welt, sein Hirn mit geistigen Getränken zu sedieren, insbesondere, wenn diese von RTL bezahlt werden. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Wodka Cola ich an dem Abend getrunken habe und auch nicht, wer mir das Taxi gerufen hat.

Irgendwann zwischen meinem sechsten und siebten Glas stupste mich Peggy, die sympathisch sächselnde Aufnahmeleiterin, an und fragte:

„Herr Krallmann, menen Se nisch, Sie söllten longsam uf e pure Cola umsteigen?“

„Peggy“, bäuerte ich etwas unappetitlich hervor, „Punkt A, ich bin der Hirni, kannst ruhig ,du‘ sagen und Punkt B, Alkohol ist zwar keine Lösung“, jetzt bekam ich nicht nur Schluckauf, sondern musste zudem kurz, aber intensiv aufstoßen, „Cola aber auch, ups, aber auch nicht. Also pö-prösterchen!“, sprach ich verwaschen wie Harald Juhnke nachts um halb drei an der Hotelbar und führte das Glas weltmännisch zum Mund, wie es vor mir und Harald allenfalls Dean Martin auf der Bühne in Las Vegas gelungen sein mochte.

„Hirni, isch bitte disch.“ Blick und Tonfall waren nun flehend, was ich bei einer knackigen Neunzehnjährigen vermutlich ziemlich aufregend gefunden hätte – nicht jedoch bei einer Fünfundvierzigjährigen vom Fuße des Erzgebirges, die zudem noch den gleichen Namen hat wie das Pflegepferd meiner Cousine Lisa. Seither kann ich Peggy, also das Pferd, nicht mehr am Hals tätscheln, ohne den Geschmack von Jack Daniels, Cola und Erbrochenem auf der Zunge zu haben.

Höre ich seit jenem Abend Namen ostdeutscher Postmoderne, wie Peggy, Mandy oder Doreen, tauchen sie auf, wie von Geisterhand hingezaubert, diese unverkennbaren Symptome eines neunschwänzigen Katers – von leichtem Schwindel kaum zu unterscheiden, für mich, als an Seele und Körper versehrtem RTL-Veteran, jedoch eindeutig spürbar.

Mit exakt diesen Symptomen, nur ungleich intensiver ausgeprägt, hatte ich mich damals im Hotelbett wiedergefunden. Zu gern wüsste ich, wie sich der Dialog zwischen mir und dem Taxifahrer abgespielt haben muss, an den ich mich jedoch partout nicht erinnern kann. Als ich am Morgen erwachte, lag ich, komplett bekleidet, im komfortablen Doppelbett. Meine Jacke fand ich schließlich in der Minibar und die Schuhe fein säuberlich im Schrank, kunstvoll auf zwei Kleiderbügeln arrangiert. Weniger überzeugend war der Anblick des Badezimmers. Nach meiner nächtlichen Ankunft hatte ich offenbar die vielen Gläser Cola mit Schuss noch loswerden wollen und mich, da ich prinzipiell nicht im Stehen uriniere, auf die Toilette begeben. Nie wieder, so viel steht nach meinem Kölnausflug fest, werde ich in einer Quizshow am Joker und damit am falschen Ende sparen und noch viel weniger werde ich jemals wieder vergessen, einen Klodeckel aufzuklappen.

Montagsmeeting

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