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Stille Nacht auf dem Meer

von Monika Büchel

Ich genoss die Ruhe, den sanften Wind und die salzhaltige Luft am frühen Morgen auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffes und rekelte mich zufrieden im Liegestuhl, fest in eine dicke Decke gehüllt. Über mir die Sterne, die mehr und mehr verblassten. Unter mir die endlose Tiefe des Atlantiks. Es war der 23. Dezember.

Genau so hatte ich mir meinen Weihnachtsurlaub vorgestellt: keine Verpflichtungen, keine Anrufe, keine Festtagsvorbereitungen. Einfach nur Ruhe und Frieden. Und Weihnachten mal ganz anders feiern: allein, ohne eine Menschenseele, die was von mir wollte.

Die letzte Woche hatte ich Frühdienst im Krankenhaus und meine innere Uhr war noch auf das zeitige Aufstehen eingestellt. Deshalb war ich an Deck gegangen. Ich liebte meine Arbeit und war mit Haut und Haaren Krankenschwester. Aber die 32 Berufsjahre hatten Spuren hinterlassen.

Das Leid mancher Patienten ging mir noch immer sehr ans Herz. Ich litt, wenn ich Verbände wechseln musste, die für den Kranken mit vielen Schmerzen verbunden waren. Mir war zum Heulen zumute, wenn ich wusste, dass die Lebenstage einer jungen Mutter gezählt waren, die mich so hoffnungsvoll anblickte.

Auf der anderen Seite wollte ich nicht gefühlskalt werden und jede menschliche Regung unterdrücken. Ich wollte nicht nachlassen, hin und wieder ein tröstendes Wort zu sprechen, mitfühlend über einen Arm zu streichen und sogar mit einem Patienten zu beten, wenn er das wollte.

Schluss jetzt, ermahnte ich mich. Du bist im Urlaub. Ich sah auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zur Morgengymnastik mit dem lustigen Physiotherapeuten.

Als ich später frisch geduscht am reichhaltigen Frühstücks-Buffet entlangging und allerlei Köstlichkeiten auf meinen Teller türmte, trat eine Dame neben mich, die ich schon einige Male gesehen hatte. Sie war mir unsympathisch. Die rundliche ältere Frau schien in ihrer extravaganten Garderobe immer wie aus dem Ei gepellt. Jedes Härchen ihrer Frisur lag an der richtigen Stelle. In ihrem faltigen Gesicht prangten knallrote unnatürlich breite Lippen, die wohl frisch aufgespritzt waren. Rechts und links davon klimperten lange goldene Ohrringe, die nur noch von ihrem Geschmeide um ihren Hals übertroffen wurden. Diese Frau war offensichtlich darauf aus, überall aufzufallen.

„Guten Morgen“, sagte sie und ein Schwall von blumigem Parfum attackierte meine Nase. „Das wird heute wieder ein herrlicher Tag, finden Sie nicht auch?“, heischte sie nach Zustimmung.

„Ja, die Wettervorhersage verspricht einen sonnigen Tag“, gab ich zurück.

„Ist das Ihre erste Kreuzfahrt?“

„Ja, ist es!“, antwortete ich knapp.

„Ich kann meine schon gar nicht mehr zählen“, fuhr sie fort. „Seit Jahren mache ich zweimal im Jahr eine Kreuzfahrt. Es gibt wohl kaum einen Hafen auf dieser Welt, den ich nicht kenne.

Ich verkniff mir die Frage, wo es ihr denn am besten gefallen hätte, um die Frau nicht weiter zum Reden zu ermuntern. Das war auch nicht nötig.

„Wissen Sie, ich liebe es, mal hier und mal da zu sein. Deshalb wohne ich die eine Hälfte des Jahres in meinem Penthaus in Hamburg, die andere in meiner Villa in Nizza. Und Sie? Wo wohnen Sie?

„Ich wohne in Syke bei Bremen – zur Miete“, ergänzte ich, um ihr die Nachfrage zu ersparen. Ich drehte mich um, entdeckte einen Tisch, an dem nur noch ein Platz frei war, und wünschte der Frau im Weggehen einen guten Tag.

Am Nachmittag stand ein Landausflug auf Madeira an, den ich gebucht hatte. Nach den üblichen Besichtigungen blieb noch eine Stunde zur freien Verfügung. Ich schlenderte durch die Straßen von Funchal und konnte mich an den üppigen Blumen, die überall wuchsen, nicht sattsehen. Ich war gerade dabei, ein besonders schönes, rot gesprenkeltes Exemplar einer Orchidee zu fotografieren, als plötzlich eine Stimme neben mir ertönte.

„Ah, Sie genießen auch diesen wunderbaren Ort“, sagte die auffällige Dame vom Schiff.

Ich hielt in meiner Bewegung inne und schloss für einen Moment die Augen. Da sind auf dem Schiff etwa 1.000 Passagiere und Hunderte von ihnen machen den Landausflug. Und just diese eine Person läuft mir über den Weg.

Ich rang mir ein Lächeln ab. „Ja, es ist schön hier, diese Blumenpracht ...“

„Übrigens, ich heiße Baumann, Rita Baumann.“ Mit diesen Worten streckte mir die Frau ihre Hand entgegen.

„Ramona Stein“, stellte ich mich vor.

„Von meiner Balkonkabine hätte ich eine wunderschöne Aussicht auf die Insel gehabt, aber hin und wieder muss man sich ein wenig bewegen. Welche Kabine haben Sie denn gebucht?“, fragte Frau Baumann beiläufig.

„Eine Innenkabine“, antwortete ich.

„Und ist die auch groß genug? Also ich brauche immer viel Platz um mich“, erklärte Frau Baumann. Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: „Ich habe Sie noch nie in Begleitung gesehen!“

„Ich bin allein unterwegs. Außerdem bin ich nicht verheiratet.“

„Dann sind Sie sicher berufstätig“, bohrte sie nach.

„Ja, ich bin Krankenschwester.“

„Ich habe nie arbeiten müssen, mein ganzes Leben lang“, belehrte mich Frau Baumann, während sie am Diamantring ihres rechten Mittelfingers drehte und ihre makellos lackierten Nägel betrachtete.

Genervt sah ich auf die Uhr. „Ich glaube, wir müssen zurückgehen, sonst verpassen wir noch das Schiff“, versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen.

Zum Glück war es nicht weit bis zum Hafen. Als Frau Baumann einen Herrn mit graumeliertem Haar und einem Gehstock entdeckte, flüsterte sie: „Ein netter Herr vom Schiff!“, und schritt graziös auf ihn zu. Ich atmete auf.

Am nächsten Tag wollte ich am Nachmittag meinen persönlichen Heiligabend mit Kaffee und Kuchen auf dem Sonnendeck einläuten, dann in meine Kabine gehen, eine Kerze anzünden und mir das Weihnachtsoratorium von Bach anhören. Ich hatte mir extra eine Kerze und die CDs eingesteckt.

Ich trank gerade den ersten Schluck Kaffee, als Frau Baumann mir gegenüber Platz nahm. Nein, nicht schon wieder!, ging es mir durch den Kopf.

„Sie sind doch Krankenschwester“, begann sie ohne Umschweife. „Ich bin heute Morgen mit Kopfschmerzen aufgewacht. Die kommen von Verspannungen im Nacken. Deshalb habe ich mich zur Massage angemeldet und zum Glück noch einen Termin vor dem Mittagessen bekommen. Wissen Sie, man muss nur mit einem Schein winken, und schon …“ Sie seufzte. „Aber es hat nichts geholfen. Was soll ich nur tun?“

„Haben Sie keine Kopfschmerz-Tabletten dabei?“, fragte ich mitleidlos.

Langsam kam Wut in mir auf. Ich war im Urlaub und wollte meine Ruhe haben, vor allem vor jemandem wie dieser Frau, die keine Gelegenheit ausließ, mit ihrem Geld zu protzen. Es gab genug andere an Bord, die sich um sie kümmern konnten. Das musste doch ich nicht tun.

Ich überlegte krampfhaft, wie ich sie loswerden könnte, als plötzlich Frau Baumanns Lippen zu zittern begannen und Tränen die gepuderten Wangen hinunterrollten. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit.

„Ach, die Kopfschmerzen“, sagte sie, „viel schlimmer sind die Schmerzen da drin“, wobei sie sich an die Brust klopfte. „Ich bin so einsam“, stieß sie hervor. „Und heute ist doch Heiligabend.“

Ich bin so einsam. Dieses quälende Gefühl konnte ich gut nachempfinden, denn der Satz weckte unversehens schreckliche Erinnerungen an innere Leere, an die Angst, allein zu sein, die in jeden Winkel meines Körpers und meiner Seele gekrochen war – damals, als mein Verlobter bei einem Autounfall starb. Das war jetzt 22 Jahre her.

Doch dann kam mir der Ausspruch meines Vaters in den Sinn: „Du ziehst Leute mit Problemen an wie das Licht die Motten! Du musst lernen, dich abzugrenzen. Du kannst nicht jedem helfen.“ Wie recht er hatte. Sollte ich mir Frau Baumann nicht lieber vom Hals halten? Sie tat mir zwar leid, aber ich könnte sie ja zum Bordarzt bringen, der sicher Übung im Umgang mit einsamen Herzen hatte, und dann in meiner Kabine verschwinden.

Immer mehr Tränen rannen das Gesicht von Frau Baumann hinunter und hinterließen schwarze Spuren der Wimperntusche. Mehr und mehr löste sich ihre sorgsam aufgebaute Fassade vor meinen Augen auf. Dahinter kam eine Frau zum Vorschein, die sich nach zwei gescheiterten Ehen nur nach einem sehnte: Liebe, weil sie lediglich ihres Geldes wegen geheiratet worden war. Ich saß einer Frau gegenüber, die alles hatte – und doch nichts, was das Leben lebenswert macht, weil man sich mit Geld keine Geborgenheit, keine Zuneigung, keine Freunde kaufen kann.

Doch ich war immer noch nicht bereit, mir einen Strich durch mein Weihnachtsfest machen zu lassen. Aber was bedeutete Weihnachten eigentlich? Jesus kam auf die Erde, um sich um das Elend der Menschen zu kümmern. Das kam ihm sicher auch nicht immer gelegen. Trotzdem wies er nie einen Menschen ab.

Ich wusste, wenn ich Frau Baumann irgendwie abwimmelte, würde ich mich den Rest des Tages schäbig fühlen. Aber ich hatte mir meinen Urlaub doch ganz anders ausgemalt – und mein Weihnachtsfest erst recht!

Ich atmete tief durch. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, begann ich. „Wenn Sie möchten, treffen wir uns in drei Stunden im Restaurant und lassen uns unser Weihnachtsmenü schmecken. Was halten Sie davon?“

„Eine ganze Menge“, lächelte Frau Baumann mich durch einen Tränenschleier an.

„Was ist mit den Kopfschmerzen?“, fragte ich Frau Baumann, als wir uns zum verabredeten Zeitpunkt zum Essen an den festlich geschmückten Tisch setzten.

„Die sind weg“, berichtete sie fröhlich. „Ach, ich bin ja so froh, dass Sie diesen Abend mit mir verbringen“, fuhr sie fort und drückte meine Hand. Aus den Lautsprechern drang leise die Melodie von „Jingle Bells“.

„Als ich ein Kind war“, sagte sie nachdenklich, „da war Weihnachten was Wunderschönes. In der Mitte unseres Wohnzimmers stand der Tannenbaum, den ich mit meinem Vater wie jedes Jahr in einem unserer Wälder ausgesucht hatte. Bedienstete schlugen ihn und stellten ihn auf, aber das Dekorieren hatte Vater sich nie nehmen lassen. Übrigens waren unsere Weihnachtsbäume alle viel schöner als der da draußen“, ergänzte sie und deutete auf die mit bunten Kugeln behängte künstliche Tanne vor dem Restaurant. „Das ist für meinen Geschmack nur Firlefanz – und von Weihnachten ist außer dem Baum und einigen Girlanden im ganzen Schiff ja nichts zu merken. Jedenfalls“, fuhr sie nach ihrem kleinen Exkurs fort, „gingen wir Heiligabend immer zusammen in den Gottesdienst. Wieder zu Hause setzte sich Mutter vor der Bescherung ans Klavier und wir sangen Weihnachtslieder. Ja, das war schön.“ Frau Baumann schwelgte in Erinnerungen.

„Als ich erwachsen war“, nahm sie den Faden wieder auf, „war es nie mehr so schön, auch deshalb, weil ich selbst keine Kinder hatte. Weihnachten ist wohl nur ein Fest für Kinder.“

„Nein, es ist ein Fest für uns alle!“, hakte ich ein.

Und dann erzählte ich Frau Baumann, dass Jesus Mensch geworden ist, um uns zu zeigen, wie sehr er jeden Einzelnen von uns liebt. Wie sehr ihm unser Glück am Herzen liegt. Wie nah er uns sein möchte, damit wir uns nicht einsam fühlen müssen.

„Das Kind in der Krippe streckt jedem die Hand entgegen. Wer sie erfasst, wird dieses Wunder erleben. Dann wird wirklich Weihnachten, auch bei uns“, endete ich.

„Das habe ich so noch nie gehört“, sagte Frau Baumann bewegt.

„Was halten Sie davon, wenn wir zum Abschluss des Tages den ökumenischen Gottesdienst besuchen? Dann singen wir sicher Weihnachtslieder, die Sie noch von früher kennen“, schlug ich vor.

„Das ist eine gute Idee“, pflichtete Frau Baumann mir bei.

Wir sangen tatsächlich Lieder, die Frau Baumann aus ihrer Kindheit kannte. Sie war überglücklich, als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten.

Und ich? Ja, der Tag war anders verlaufen als ich ihn geplant hatte. Ganz anders. Aber ich war zum Schluss glücklich, dass ich jemandem etwas davon weitergeben konnte, worum es an Weihnachten eigentlich geht.

Friede kehrt ein

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