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Heilige Nacht im August

von Monika Büchel

Die Nachricht hatte uns aufgeschreckt, dass Opa das nächste Weihnachtsfest wohl nicht mehr erleben würde, das Fest, dem er noch immer mit kindlicher Freude, glänzenden Augen und großer Ungeduld entgegenfieberte.

Wenn sie sich am ersten Weihnachtstag als Familie trafen, hatte er es sich nie nehmen lassen, die Weihnachtsgeschichte aus seiner großen, abgegriffenen Bibel vorzulesen. Wir Erwachsenen kannten das und warteten gespannt auf einen bestimmten Satz. Wenn er an diese Stelle kam, atmete Opa noch einmal tief durch und las mit seiner festen, wohlklingenden Stimme: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Danach schwieg er eine Weile, bevor er fortfuhr. Sogar als die Enkelkinder noch jünger waren, lauschten sie Opa still. Irgendwie spürten sie, wie besonders der Augenblick und wie wichtig Opa dieser eine Satz war.

Ja, der Satz bedeutete ihm alles, denn das „Heute“ war für ihn nicht nur jene eine Nacht, damals vor 2000 Jahren in Bethlehem. Nicht nur in jener Nacht hatte Gott es hell werden lassen. Nicht nur in jener Nacht hatte Gott den Beweis geliefert, uns ganz nah zu sein. Nicht nur in jener Nacht hatte Gott seine tiefe Liebe zu uns in Jesus gezeigt. Dieses „Heute“ galt für Opa jeden neuen Tag, das ganze Leben lang. Auch an dem Tag, an dem er die Diagnose der unheilbaren Krankheit erhielt. Selbst da drang ein Lichtstrahl in die bevorstehende dunkle Zeit, weil Jesus, der Heiland, lebt und bei ihm sein würde, was auch immer geschieht. Das war Opas unerschütterlicher Glaube, weil er es tausendfach erlebt hatte.

Als wir uns einigermaßen von dem Schock erholt hatten, hielten wir Erwachsenen Familienrat bei Mutter. Meine unverheiratete Schwester war aus dem Norden angereist, meine Frau und ich kamen aus dem Nachbarort gefahren. Unser Vater lag zu der Zeit im Krankenhaus. Es war klar, dass die Betreuung zu Hause immer schwieriger werden würde und Mutter die Pflege bald nicht mehr bewältigen konnte. Klar war auch, dass die Schmerzen unseres Vaters zunehmen würden.

„Euer Vater ist sehr gefasst“, sagte Mutter und wischte sich die Tränen vom Gesicht. „Ich wünschte, wir könnten ihm noch eine ganz große Freude machen, bevor alles noch schlimmer wird.“

Wir überlegten hin und her, machten Vorschläge, die wir bald wieder verwarfen. Es musste ja nicht nur etwas sein, worüber er sich freute, sondern etwas, was zu Hause möglich war und Vater nicht zu sehr anstrengen würde. Aber was?

„Warum feiern wir nicht Weihnachten mit Vater?“, schlug meine Schwester vor.

„Weihnachten im August? Mit Christbaum und so? Das geht doch nicht“, sagte meine 10-jährige Tochter, als meine Frau unseren Mädchen davon erzählte.

Und die 14-Jährige meinte: „Da kommt doch gar keine Stimmung auf, mitten im Sommer. Da schmelzen ja die Kerzen am Baum.“

Aber wir hielten an unserem Plan fest und feierten eine Woche später Weihnachten. Ich hatte – sehr zur Verwunderung meines Nachbarn – am Tag davor eine mittelgroße, gerade gewachsene Tanne im Garten gefällt, sie im Wohnzimmer meiner Eltern aufgestellt und mit meiner Frau und meinen Töchtern mit den üblichen Sternen und Kugeln und ausnahmsweise elektrischen Kerzen geschmückt. Darunter hatten wir die Krippe aus dem Erzgebirge aufgebaut. Was sonst ein ausgelassenes gemeinsames Unternehmen gewesen war, geschah diesmal eher traurig und still. Der Gedanke, dass Opa bald sterben würde, hatte uns bedrückt.

Opa war am Morgen aus dem Krankenhaus entlassen worden und lag seitdem blass in seinem Bett. Er wusste, dass wir alle zusammen am Nachmittag Kaffee trinken würden. Der eigentliche Anlass sollte eine Überraschung für ihn sein.

Als es so weit war, half ich meinem abgemagerten Vater aus dem Bett, setzte ihn in den Rollstuhl und legte eine leichte Decke über seine Beine.

„Danke, mein Junge!“, sagte er nach Atem ringend, weil ihn die kleine Aktion angestrengt hatte.

Wie hinfällig der einst so tatkräftige Mann innerhalb weniger Monate geworden war! Ich spürte einen Kloß im Hals, als ich ihn über den Flur schob. Mutter stand bereits an der Wohnzimmertür und öffnete sie mit einem tapferen Lächeln. Ich fuhr meinen Vater in den verdunkelten Raum.

In der Zimmerecke leuchteten die Kerzen am Christbaum. Rechts und links daneben standen die restlichen Familienmitglieder und warteten gespannt auf die Reaktion von Opa. Von einer CD erklang ein Weihnachtslied. Wir hatten beschlossen, nicht selbst zu singen, weil wir nicht wussten, ob wir in Tränen ausbrechen würden.

Opa blinzelte mit den Augen und schaute sich ungläubig um.

„Opa, gefällt es dir, dass wir Weihnachten im Sommer feiern?“, fragte meine 10-Jährige, als der letzte Ton von „O du fröhliche“ verklungen war.

„Weil du Weihnachten so sehr liebst und das Fest im Dezember wohl nicht mehr mit uns feiern kannst …“, Mutter versagte die Stimme.

„… sondern mit Jesus im Himmel“, ergänzte meine Schwester, „wollten wir es mit dir noch einmal zusammen feiern.“

Opa nickte, zu überwältigt von der großen Freude, die wir ihm bescherten.

Dann setzten wir uns, tranken Kaffee und aßen die Weihnachtsplätzchen, die meine Schwester am Vorabend noch gebacken hatte, bevor sie sich am frühen Morgen wieder ins Auto setzte, um zu uns zu fahren.

Zugegeben: Das Zusammensein war nicht so fröhlich und ungezwungen wie am „richtigen“ Heiligen Abend. Und „richtige“ Weihnachtsstimmung kam auch nicht auf an diesem heißen Freitagnachmittag, während draußen die Vögel zwitscherten und betörender Rosenduft durch die Ritzen des heruntergelassenen Rollos strömte. Es gab auch keine Geschenke, außer dem einen Geschenk, das wir Opa mit dem Fest machten.

„Opa“, sagte da mit einem Mal meine Frau, „mir fällt gerade ein, dass bei unserem Weihnachtsfest heute noch was Wesentliches fehlt.“

„Ich weiß, was du meinst“, sagte er und zu Mutter gewandt: „Hol mir bitte meine Bibel!“

Beinah ehrfurchtsvoll nahm Opa das alte Buch in die Hand, rückte sich im Rollstuhl zurecht und schlug den Evangelisten Lukas auf. Dann begann er zu lesen. Seine Stimme zitterte, als er die bekannten Worte vorlas. Doch als er zu seiner Lieblingsstelle kam, wurde sie wie gewohnt fest: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Opa hielt lange inne, zu bewegt, um weiterzulesen. Mutter drückte ihm zärtlich die Hand und las die restlichen Verse der Weihnachtsgeschichte vor.

Zwei Monate später starb Opa. Es war ein schwerer Abschied, und doch tröstete uns der Gedanke, dass für Opa nun jeden Tag Weihnachten war.

Friede kehrt ein

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