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Anders als erwartet

von Ingrid Boller

„Hallo Heike, hier ist Gabi.“

„Hallo Gabi, schön, dich zu hören! Wie geht es dir? Hast du deine Weihnachtsvorbereitungen schon abgeschlossen?“

„Danke, ich bin ganz gut vorangekommen. Aber es ist ja auch nicht mehr viel.“

„Ja, das stimmt. Ich habe auch nur noch ein paar Kleinigkeiten zu besorgen, und übermorgen fahre ich schon nach Bayern zu den Kindern. Sie haben mich für die Weihnachtsfeiertage eingeladen. Ich freu mich so sehr darauf, vor allem auf mein Enkelkind.“

„Ja, das kann ich gut verstehen. Dann bist du also Heiligabend gar nicht hier“, schlussfolgerte Gabi.

„Nein, ich komme erst zwischen den Jahren wieder.“

„Dann wünsche ich dir richtig schöne Feiertage!“

„Danke, ich dir auch! Tschüs!“

„Danke, tschüs!“

Mit einem leisen Seufzer drückte Gabi die rote Auflegetaste ihres Telefons, um das Gespräch zu beenden. Sie hatte vorgehabt, Heike für den Heiligabend zu sich einzuladen. Seit Gabis Mann vor einigen Jahren gestorben war, hatten sie ein paar Mal diesen Abend zusammen verbracht. Heikes Tochter, eine Ärztin, war mit einem Ingenieur verheiratet. Die beiden hatten drei Jahre als Entwicklungshelfer in Uganda verbracht. Im letzten Frühjahr waren sie zurückgekommen, und im Herbst war Heike Großmutter geworden. Gabi gönnte es der Freundin von Herzen, zumal Heike und ihr Mann sich schon vor Jahren getrennt hatten.

Gabi spürte, wie sich Wehmut und Einsamkeit in ihr ausbreiteten. Kai, ihr Sohn, war als Manager eines großen Konzerns beruflich sehr eingespannt. Ihre Schwiegertochter Katja arbeitete als Juristin in einer großen Kanzlei. Die beiden wollten über die Feiertage richtig ausspannen und waren vorgestern nach Thailand geflogen.

Für Gabi war es kaum vorstellbar, Weihnachten ganz woanders zu verbringen, schon gar nicht an einem Strand bei dreißig Grad im Schatten. Nein, am liebsten war sie zu Hause, ganz traditionell mit Christvesper, Weihnachtsbaum, Weihnachtsgans und den vertrauten Weihnachtsliedern. Vielleicht würde es sogar schneien. Aber sie konnte auch verstehen, dass Kai und Katja gern einmal die Möglichkeit eines solchen Urlaubs wahrnehmen wollten. Vielleicht, so dachte Gabi, planten die beiden ja Nachwuchs. Und dann wäre sowieso alles anders.

Verstand und Verständnis war die eine Sache, das Gefühl eine andere. Und das Gefühl drohte sie jetzt doch zu überwältigen. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen hinunterschlucken. Wen könnte sie sonst einladen? Andrea und Frank bekamen Besuch von ihren erwachsenen Kindern. Sie hatten schon drei putzmuntere Enkel, die – wie Andrea sagte – alles ordentlich aufmischen würden. Gabi hatte sich nicht getraut zu fragen, ob sie mitfeiern dürfte, obwohl Andrea und ihr Mann sehr offen und gastfreundlich waren. Aber Gabi wollte auf keinen Fall Gefahr laufen, ein Fremdkörper zu sein. Deshalb kam das nicht in Frage.

Ob sie es mal bei Ute versuchte? 953871 – ja, die Nummer stimmte. „Ute Zimmermann“ stand im Display. Wenigstens auf ihr Gedächtnis konnte sich Gabi verlassen.

Tuuuut – tuuuut – tuuuut – tuuuut – quälend lang kam das Freizeichen. „Zurzeit ist niemand zu Hause. Bitte sprechen Sie Ihre Nachricht nach dem Signalton.“ Sogar die neutrale Stimme des Anrufbeantworters erschien Gabi unfreundlich. Wo steckte Ute bloß? Dann fiel ihr ein, dass die Kollegin am letzten Arbeitstag von einem Wellnesshotel erzählt hatte, wo sie mit Freunden die Feiertage verbringen wollte. Ein supergünstiges Angebot, hatte sie Gabi erzählt. Es wären auch noch ein paar Plätze frei. Ob Gabi nicht ...? Aber Gabi hatte dankend abgelehnt. Nein, das war nichts für sie.

Ihr fiel niemand mehr ein. Sie würde wohl den Heiligabend nach dem Gottesdienst allein verbringen müssen. „Lieber Gott, soll ich wirklich allein sein?“, betete sie laut.

Es half nichts. Energisch putzte sie sich die Nase. Bloß kein Selbstmitleid! Sie würde auch für sich allein ein schönes Essen kochen. Wo hatte sie nur das Rezept hingelegt, das sich so lecker anhörte und das sie ausprobieren wollte? Sie kramte in ihrer Zettelbox. Hier musste es doch irgendwo sein. Ein gelbes Blatt Papier war es gewesen ...

Ihre Suche wurde vom Klingeln ihres Telefons unterbrochen. „Guten Tag, Frau Heine, hier ist Katharina Schober vom CVJM Rechenberg. Ich habe eine Anfrage an Sie.“

Während Frau Schober munter drauflos redete, versuchte Gabi, rational pro und kontra abzuwägen und gleichzeitig ihre Emotionen zu sortieren. Seit einigen Jahren richtete der CVJM Rechenberg an Heiligabend eine Weihnachtsfeier für Bedürftige aus. Auch dieses Jahr liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Ausgerechnet jetzt, so Frau Schober, waren einige Mitarbeiter wegen Grippe ausgefallen. Ausgeschlossen, dass sie in den paar Tagen, die noch bis zum Fest blieben, wieder auf die Beine kommen würden. Ob Gabi vielleicht aushelfen könnte? Es wäre immer ein besonderes Erlebnis für die Mitarbeiter, auch wenn viele zunächst skeptisch seien. Frau Schober klang sehr enthusiastisch.

„Wie kommen Sie denn auf mich?“, erkundigte sich Gabi etwas ratlos, weil sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte.

„Haben Sie nicht letztes Jahr bei unserem Sommerfest geholfen? Wir hatten eine Liste ausgelegt, wo sich jeder eintragen konnte, der grundsätzlich bereit wäre, bei besonderen Aktionen zu helfen. Ich nehme an, Sie haben sich mit Ihrer Telefonnummer eingetragen – zumindest sieht es so aus.“

In Gabi arbeitete es fieberhaft. Ja, sie hatte sich in diese Liste eingetragen, jetzt fiel es ihr wieder ein. Aber sie hatte nicht im Traum daran gedacht, ausgerechnet an Heiligabend zu helfen. Das war schon ein spezieller Abend – und dann mit wildfremden Menschen, die wahrscheinlich so ganz anders waren. Sie hatte gehört, dass nicht nur bedürftige Familien aus der Weststadt, die bekannt war für einen hohen Anteil an Arbeitslosen, die Weihnachtsfeier des CVJM besuchten, sondern auch viele Obdachlose. Ob das ihre Nase verkraften würde? Natürlich waren die vor allem auf ein gutes Essen und die Geschenke aus, für die biblische Botschaft interessierten die sich weniger – da war sich Gabi sicher. Wie konnte sie nur diese Anfrage ablehnen, ohne zu lügen oder intolerant zu erscheinen?

„Frau Schober, das kommt sehr überraschend. Ich brauche etwas Bedenkzeit. Reicht es Ihnen, wenn ich Sie heute Abend zurückrufe?“

„Selbstverständlich. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie einspringen könnten. Dann bis heute Abend.“

Jetzt brauchte sie erst einmal eine Tasse Tee. Während Gabi sich einen „Wintertraum“ aufbrühte, legte sich der Aufruhr in ihrem Innern etwas. Eben noch hatte sie ein Stoßgebet zum Himmel geschickt. War das die Antwort? Nein, das konnte nicht sein! Gott wusste doch, wie wichtig ihr Traditionen waren. Aber war das wirklich wichtig? Ging es nicht um etwas anderes? Sie schämte sich ein bisschen, als ihr klar wurde, dass sie den Bedürftigen unterstellt hatte, es ginge ihnen nicht um die biblische Botschaft, gerade sie, die Traditionen so wichtig nahm.

Frau Schober war hoch erfreut, als sie erfuhr, dass Gabi bei der Weihnachtsfeier helfen würde. Es würde nichts Kompliziertes sein. Gabi sollte nur beim Servieren des Essens und beim Austeilen der Geschenke helfen.

Pünktlich um 18 Uhr betrat Gabi an Heiligabend das CVJM-Haus. Der Geruch von Essen lag in der Luft. Einige Gäste hatten sich schon eingefunden. In der Küche fand sie Katharina Schober, die einen großen Kochlöffel schwang. „Das ist klasse, dass Sie helfen. Würden Sie nachher das Gemüse in die Schüsseln dort füllen und auf die Tische drüben verteilen?“

Während Frau Schober und Gabi zusammen mit vier anderen Frauen und Männern Rotkraut, Gulasch und Nudeln austeilten, füllte sich der Saal mit einer bunten Gruppe von Menschen. Verstohlen musterte Gabi die Besucher. Eben betrat eine Familie mit mehreren Kindern den Raum. Das jüngste Mädchen bekam große Augen, als sie die vielen Kerzen, Strohsterne und Tannenzweige sah, mit denen die Tische geschmückt worden waren. Beim Anblick des Weihnachtsbaumes in der Ecke, an dem viele rote Kugeln, Schleifen und eine lange Lichterkette hingen, breitete sich ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

„Kann ich mich hier hinsetzen?“ Gabis Beobachtungen wurden von der Frage eines offensichtlich Obdachlosen unterbrochen. Der Mann roch streng nach Schweiß und Alkohol, was Gabis empfindliche Nase sofort registrierte. Aber sie riss sich zusammen und schob den Stuhl zurecht, sodass der Mann seine wenigen Habseligkeiten verstauen konnte.

Inzwischen hatte sich der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Christian Koller, der Leiter des CVJM, begrüßte die Gäste, sprach das Tischgebet und wünschte einen guten Appetit.

Als alle Schüsseln und Teller geleert und die Tische abgeräumt waren, begann Koller mit der Andacht.

„Liebe Gäste, an Weihnachten feiern wir, dass Gott seinen Sohn zu uns als Baby auf die Erde geschickt hat. Damit ist alles anders ...“ Kurz, prägnant und verständlich brachte der Leiter die Weihnachtsbotschaft auf den Punkt.

Alles anders ... Gabi blieb mit ihren Gedanken an diesem Satz hängen. Ja, dieses Jahr war alles anders. So hatte sie den Weihnachtsabend noch nie verbracht. Ohne einen vertrauten Menschen, dafür unter lauter Fremden, ohne ein ruhiges, stilvolles Weihnachtsessen in ihrem geschmackvoll dekorierten Zuhause, dafür in einem eher nüchternen Saal. Verstohlen sah sie sich um. Die Aufmerksamkeit der meisten Gäste war ganz auf Koller ausgerichtet. Nur hier und da quengelte ein Kind, oder es führte jemand Selbstgespräche.

„Deshalb, liebe Freunde, hat Gott uns mit Jesus, seinem Sohn, das größte Geschenk gemacht, das überhaupt möglich ist.“ Mit diesen Worten beendete Christian Koller seine Andacht und sprach ein abschließendes Gebet.

Nun wurden die Geschenke ausgeteilt. Es waren überwiegend praktische Dinge des täglichen Bedarfs, die von Bürgern des Ortes und Mitgliedern des CVJM gespendet worden waren. Für die Kinder waren Stofftiere, Spielzeugautos, Bücher und Puppen liebevoll verpackt worden. Ein kleines Mädchen hatte gerade einen weichen Teddy ausgepackt. Ihre Augen wurden ganz groß. Sie stieß einen Freudenschrei aus und drückte ihn fest an sich, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Währenddessen probierte ihr Bruder, wie weit sein Auto mit dem Rückzugantrieb fahren konnte. Am Nachbartisch freute sich eine alte Frau über das Päckchen Kaffee, die Schachtel Tee und das Glas Honig, das ihr einer der Helfer überreicht hatte. Eine warme, freudige Atmosphäre erfüllte den Raum.

Alles anders ... Gabi hatte plötzlich wieder Christian Kollers Worte im Kopf. Auch ihre Vorstellungen von den Gästen, von diesem Abend waren ganz anders gewesen. Voller Vorurteile war sie hergekommen. Sie war überzeugt gewesen, dass es den Leuten doch nur um ein gutes Essen und die Geschenke ging. Sicher waren das für viele auch die überzeugenden Gründe. Aber sie spürte, dass da noch viel mehr war. Die Menschen erlebten, dass sie akzeptiert wurden und man ihnen freundlich begegnete. Sie suchten Gemeinschaft und Frieden und machten hier eine völlig andere Erfahrung als in ihrem Alltag. Damit wurde die Weihnachtsbotschaft für sie greifbar.

Und sie selbst? Eigentlich war es genau das, was auch sie brauchte und gesucht hatte: Gemeinschaft, Annahme, Freundlichkeit – so, wie jeder Mensch. In Gabi stieg ein unerwartetes Glücksgefühl auf: Gott war gekommen – überraschend anders, aber deutlich greifbar.

Friede kehrt ein

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