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NEUBEGINN


Kapitel 1

Neustadt, Ende Mai

Es war geschafft! Die Referendarzeit mit all ihrem Stress, der Unsicherheit als Anfängerin und der verfluchten Planung jeder einzelnen Unterrichtsminute sowie alle Prüfungen lagen hinter ihr. Heute Morgen war die letzte mündliche gewesen: Sie hatte endlich ihr zweites Staatsexamen in der Tasche!

Wie mechanisch ging sie zum Schreibtisch, stellte ihre Aktentasche daneben und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Ich, Marlene Hofmann, bin jetzt eine echte Studienassessorin fürs Gymnasium! Gedankenverloren strich sie über die Platte des Schreibtisches.

Sie liebte dieses alte Teil. Ihr Großvater hatte früher davor gesessen und mit konzentriertem Gesicht und entrücktem Blick seine Linien und Striche mittels Lineal mit Bleistift dünn auf Leinwand aufgetragen; Berechnungen für irgendein historisches Gebäude oder eine Kirche, die er danach auf seiner Staffelei mit Aquarellfarben täuschend echt zum Leben erweckte. Die Platte war zerkratzt, hatte unter der ledernen Schreibtischunterlage einen großen dunkelblauen Tintenfleck, Relikt aus einem unbedachten Moment.

Seitdem sie angefangen hatte zu studieren, hatte sie ihn benutzt, denn ihr Großvater malte nur noch selten. Der Schreibtisch war inzwischen ihr verlängerter Arm, Kriegsschauplatz durchnächtigter Paukerei auf Prüfungen; das vertraute, dunkelbraune Holz, das geduldig und vertrauensvoll alles trug, was man ihm aufbürdete: Wörterbücher mit französischen Vokabeln; seitenweise spanische Texte; Essays, Referate und Abläufe von Schulstunden, minutiös geplant; Wälzer, in denen die wichtigsten Daten der europäischen Geschichte für immer festgeschrieben waren.

Seufzend stand sie auf, zog auf dem Weg ins Schlafzimmer den neuen schwarzen Blazer aus – und stutzte. Leises Stöhnen. Sie hörte konzentriert hin: lang gezogenes Stöhnen, lauter jetzt. Dann überraschtes Aufkeuchen.

Eine Ahnung erfasste sie. Das konnte nicht sein.

Sie schlich weiter in Richtung Schlafzimmer und spähte vorsichtig hinein. Das Bett war leer. Im Wohnzimmer war auch niemand. Auf dem Weg zur Küche wieder dieses wohlige Stöhnen. Es wurde lauter.

Auf dem alten fleckigen Tisch, auf der Wachstuchdecke, hockte sie, die Hände nach hinten aufgestützt, den Kopf im Nacken, die Beine gespreizt. Er stand vor ihr, die heruntergelassenen Jeans um die Waden schlotternd, umfasste er ihre Hüften und stieß in sie hinein.

Wenigstens hatten sie zuvor den Tisch abgeräumt; fein säuberlich standen Teller und Tassen neben dem Spülbecken. Sie bemerkten sie nicht.

Marlene stand in der Tür und beobachtete dieses Geschiebe, hörte das wohlige Stöhnen, jetzt auch sein abgehacktes Grunzen. Hatte er bei ihr auch so geklungen? Innerlich ganz ruhig und seltsam distanziert sah sie zu, so als habe das Ganze nichts mit ihr zu tun, so als sei dies nicht ihre Studienkollegin Silvia, mit der sie drei Tage zuvor noch fröhlich auf der Kirmes in Speyer gewesen war. Und Tom, ihr Freund, mit dem sie seit über zwei Jahren Wohnung, Tisch und Bett, Sorgen, Freude, Essen, Leidenschaft und Träume teilte; dem sie alles anvertraute, dem sie getraut hatte; jeder, nur nicht er; den sie bereits als potenziellen Vater ihrer Kinder gesehen hatte.

Nach einer gewissen Zeit – wie lange sie dort gestanden hatte, wusste sie nicht – löste sich ihre Starre. Sie drehte sich um, die Flasche mit dem lauwarmen Champagner noch in der Hand, und schlug im Hinausgehen kräftig die Küchentür hinter sich zu. Wie in Trance ging sie ins Arbeitszimmer, schloss hinter sich ab und sank auf ihren Schreibtischstuhl.

Und was jetzt? Fühlte es sich so an, wenn eine Liebesbeziehung, die man für völlig unproblematisch und selbstverständlich gehalten hatte, von einer Sekunde auf die andere nicht mehr existierte? Wenn die Zukunft, zuvor in schillernden Farben glänzend, plötzlich trist vor einem lag?

Die starre Leere in ihr wandelte sich ganz allmählich in eine dunkle Schwere, die sie in den Boden hineinzog, die die Enttäuschung, den Schmerz und den Frust tausender Frauen zu enthalten schien, die auch solch eine Situation erlebt hatten. Das nannte man <in flagranti erwischen>. Flagrante delicto, der lateinische Ausdruck in irgendeinem Kodex aus dem sechsten Jahrhundert, bedeutete, jemanden auf frischer Tat zu ertappen.

Wie reagierten andere Frauen in dieser Situation? Schrien sie: &bdquo;Du Dreckschwein! Raus hier, sofort, alle beide!“? Packten sie seinen Koffer und stellten ihn vor die Tür, mit ausgestrecktem Arm und steinernem Gesicht? &bdquo;Verschwinde, ich will dich nie wieder sehen!“

Oder brachen sie in verzweifeltes Schluchzen aus. &bdquo;Warum nur, Tom? Warum?“ Die Klinke der Tür, die von außen heruntergedrückt wurde, und das anschließende polternde Klopfen rissen sie aus diesen Überlegungen. Zumindest Tom entsprach dem Klischee: &bdquo;Marlene, ich weiß, dass du da drin bist! Bitte lass‘ uns reden, das ist alles ein Missverständnis!“

~~~

Sie lag zu Hause auf dem schmalen Bett in ihrem Jugendzimmer, die Vorhänge zugezogen, damit die fröhliche Maisonne, die lebenslustig den kommenden Sommer verkündete, nicht ihren Schmerz stören würde.

Oh ja, inzwischen tat es weh! Die Erkenntnis, dass sie von Tom und Silvia betrogen worden, dass der Mensch, dem sie seit langem am nächsten gestanden hatte, plötzlich nicht mehr an ihrer Seite war.

Die Leichtigkeit, die Gewissheit, dass der andere die Erweiterung, die Ergänzung ihrer Welt, Hoffnungen und Träume war, sie war der verzweifelten, spröden Erkenntnis gewichen, dass ihr Vertrauen missbraucht worden war, dass ein Teil ihrer Selbst einfach von einem Moment auf den anderen gewaltsam aus ihr herausgerissen wurde.

Sie waren nicht mehr Tom und Marlene. Er, der Jurastudent im zwölften Semester, der in etwa einem Jahr sein Examen machen würde, der Rechtsanwalt werden und Menschen in Not helfen wollte; und Marlene, Studentin fürs Lehramt an Gymnasien, seit einigen Stunden frisch gebackene Lehrkraft für Französisch, Spanisch und Geschichte, die just an diesem Tag ihre Lehrproben und anschließend die mündliche Prüfung mit 1,5 bestanden hatte. Die in ein paar Wochen, wenn das neue Schuljahr beginnen würde, an irgendeinem Gymnasium mit Leidenschaft und Engagement Schülern diversen Alters ihre Kenntnisse und die Freude am Lernen vermitteln wollte, bis sie ein paar Jahre später – inzwischen in einer größeren Wohnung und verheiratet mit Tom – in Mutterschutz gehen und danach nur noch in Teilzeit unterrichten würde, weil sie sich um die gemeinsamen Kinder kümmerte.

Nein, jetzt war sie nur noch Marlene Hofmann, geborene Hofmann, die im August als siebenundzwanzigjährige unerfahrene Lehrerin, nach acht Semestern Studium in Mannheim, einem Auslandssemester in Tours an der Loire und einem in Madrid, vor Klassen von dreißig pubertierenden Schülern stehen würde, mit dem vergeblichen Versuch, ihnen etwas in die Köpfe zu hauen, was sie absolut nicht interessierte, danach frustriert nach Hause ging und sich an ihren Schreibtisch setzte, um den Unterricht vorzubereiten und Tests, HÜs und Klassenarbeiten zu korrigieren.

Eine, die keinen abgekriegt hatte und in ihren Ferien Studienreisen unternehmen würde, weil sie so wenigstens Anschluss an andere hätte. An andere Alleinstehende, die so wie sie vorgeben würden, mit ihrem Singledasein ganz zufrieden zu sein, aber innerlich immer mehr vereinsamten und sich danach verzehrten, einen Menschen an ihrer Seite zu haben, der sie lieben würde und dem sie ihre Liebe schenken konnten.

Sie stierte an die Decke. Der braune runde Fleck, der über der Lampe die weiße Zimmerdecke verunstaltete, war immer noch da. Eine Fliege krabbelte gemächlich die Decke entlang, wich winzigen Unebenheiten aus, die von hier unten mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren, auf der Suche nach – ja, wonach suchten Fliegen?

Wenn sie darauf gewartet hätte, bis Sabine und Andreas ihre mündlichen Prüfungen absolviert hatten und sie wären noch zusammen einen Kaffee trinken gegangen und hätten ihre Erfahrungen ausgetauscht, wäre sie etwa zwei Stunden später heimgekommen. Sie hätte die Aktentasche abgestellt, ihren Blazer ausgezogen und aufs Bett gelegt. Dann wäre sie in die Küche gegangen, um den Champagner kalt zu stellen, den sie abends zusammen mit Tom geleert hätte, bevor sie im Schlafzimmer mit fröhlichem Sex ihr bestandenes Examen gefeiert hätten. Die Küche wäre leer gewesen, Silvia schon gegangen, Tom hätte geduscht gehabt, vielleicht das Geschirr gespült, den Küchentisch abgewischt – das hätte er doch sicherlich getan, nachdem sie -?

Sie setzte sich abrupt auf. War Silvia schon öfter in der Wohnung gewesen, wenn Marlene nicht dort war, und hatte mit Tom Sex gehabt? Sollte sie ihn danach fragen? Silvia damit konfrontieren? Nein, entschied sie sofort. Sie würde kein einziges Wort mehr mit den beiden wechseln.

Sie drehte sich zur Seite. Wäre es wirklich besser gewesen, wenn sie später heimgekommen wäre und die beiden nicht erwischt hätte? Nein, sagte sie sich, sie hätte ihm weiter vertraut, nicht ahnend, dass er sie betrog. Vielleicht gab es Frauen, die so etwas duldeten, aber Marlene gehörte nicht dazu. Eine Partnerschaft war immer ein Kompromiss, und sobald die erste Verliebtheit vorbei war, kam der Alltag. Aber das bedeutete nicht, dass sie es hinnehmen musste, wenn ihr Partner sie betrog.

Als er an die Arbeitszimmertür gehämmert hatte, hatte sie geschwiegen. Nach mehreren Versuchen, sie dazu zu bewegen, mit ihm zu reden, hatte er aufgegeben. &bdquo;Ich muss jetzt dringend los, in das Seminar über Wirtschaftsrecht, das ist wichtig. Aber danach komme ich zurück, dann reden wir und ich erkläre dir alles!“

Sie hatte Schritte gehört, das Klackern des Schlüsselbundes, als er ihn vom Bord nahm, dann war die Tür ins Schloss gefallen. Er hatte sie nicht einmal gefragt, wie die Prüfung gelaufen war. Das war vielleicht das Schlimmste von allem.

Und das letzte Bild von ihm, den nackten Hintern ihr zugewandt, während er in eine andere Frau hineinstieß und grunzte.

Sie hatte noch einen Moment gewartet, dann hatte sie ihren Laptop und den Terminplaner vom Schreibtisch genommen, im Schlafzimmer einige Kleidungsstücke gepackt und ihre Kosmetikartikel lose in den Koffer geworfen, die Flasche lauwarmen Champagner obenauf. Dann war sie losgefahren, ohne Blick zurück, nach Speyer, in ihr Elternhaus, in ihr früheres Zimmer, das sie sechs Jahre zuvor verlassen hatte, für immer, wie sie damals dachte.

Ihre Mutter hatte sie überrascht angesehen, als sie mit Gepäck vor der Tür stand. &bdquo;Marlene, Kind, was ist denn los? Ich dachte, du feierst deine bestandene Prüfung.“

&bdquo;Mit Tom und mir ist es aus! Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben!“ Damit war sie die vertraute Treppe hochgerannt und hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen.

Jetzt war es später Abend. Es klopfte zögerlich. &bdquo;Marlene, Schatz?“ Ihr Vater.

Sie rutschte vom Bett, tapste barfuß zur Tür und öffnete sie. Seine besorgten Augen sahen sie traurig an. Sie warf sich an seine Brust und schlang die Arme um ihn, während die Tränen, die sich seit dem Nachmittag in ihr aufgestaut hatten, aus ihr herausschossen, als hätten sich Schleusen geöffnet.

Als sie sich etwas beruhigt hatte, sah sie zu ihm auf. &bdquo;Paps, ich will nicht mehr in diese Wohnung zurück. Aber mein Schreibtisch, die Unterlagen, das neue Bett und die Winterklamotten -“.

&bdquo;Sch, sch, wir kriegen das auf die Reihe. Ich kümmere mich darum!“

~~~

Am nächsten Morgen wachte sie erst gegen elf auf, weil sie die halbe Nacht durchgeheult hatte. Der Schmerz saß tief, die Enttäuschung über Toms Verrat tat weh. Was Silvia dazu bewogen hatte, sich ausgerechnet an ihren Freund heranzumachen, war Marlene ein Rätsel. Sie hatte ihr vertraut, sie hatten miteinander für die Klausuren und Prüfungen gebüffelt; sie hatten Feten zusammen gefeiert. Da war auch Tom oft dabei. Hatten die beiden je miteinander geflirtet? Nicht dass sie wüsste.

Sie hatte sich irgendwann aus dem Bett gequält und geduscht. Jetzt stand sie nackt vor dem Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern und betrachtete sich kritisch.

Lange, dunkelbraune Haare, die glatt bis zum Ansatz der Brüste herunterhingen. Rundes Gesicht, leicht römische Nase, zu schmal für ihren Geschmack; volle Lippen, die Mundwinkel heruntergezogen. Große, rehbraune Augen, die langen Wimpern dunkel. Zumindest das war ein Vorteil, so sparte sie das Geld für die Wimperntusche.

Ihr Blick wanderte weiter. Die Brüste standen mehr oder weniger; naja, bei Größe 90C war der Sog nach unten nicht so stark. Der Bauch wölbte sich deutlich, sie hätte ihn sich flach gewünscht. Sie drehte sich zur Seite. Er war definitiv zu drall und um ihre Hüften hatten sich einige Polster angesetzt, die nicht dorthin gehörten. Die Oberschenkel waren kräftig, und natürlich hatte sie Cellulitis.

Ich bin zu dick, dachte sie. Kein Wunder, dass Tom sich eine Schlanke gesucht hat. Silvia war ein schmales Handtuch im Vergleich zu ihr. Wieder sah sie sie auf dem Küchentisch, die dünnen rasierten Beine angewinkelt. Stopp! Sie hatte sich vorgenommen, dieses Bild aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Es tat nur weh.

Sie stellte sich im Bad auf die alte Waage. Erschrocken wiederholte sie den Vorgang. Doch das Display zeigte wieder 65,1 an. Und das nüchtern! Bei 1,64 m und in ihrem Alter hätte sie bestimmt höchstens 55 Kilo wiegen sollen. Sie hatte deutliches Übergewicht. Das Referendariat war verdammt anstrengend gewesen, da waren Schokolade und Kekse ihre ständigen Begleiter, die berühmt-berüchtigte Nervennahrung eben.

Frustriert schlüpfte sie in ihre Bluejeans und streifte ein blau-weiß-kariertes Hemd darüber, das lose über den Hüften hing. Dann band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und machte sich auf die Suche nach Frühstück. Ihre Mutter hatte den Kaffee in einer Thermoskanne warmgehalten, ein Zettel lehnte daran: Im Backofen stehen frische Waffeln!

Als Marlene die Tür herunterklappte, stieg ihr ein köstlicher Duft nach Vanille und Zimt in die Nase. Eingedenk ihres Gewichts holte sie sich nur eine heraus. Als sie ein Messer in das Glas mit der Schokocreme eintauchen wollte, zog sie es wieder zurück. Zu viel Zucker und Fett, entschied sie.

Mit der Tasse in der Rechten und der angebissenen Waffel in der Linken ging sie zum Küchenfenster und sah in den Garten hinaus. Ein leichter Nieselregen benetzte die Büsche und Bäume.

Und wie sollte sie jetzt ihre Zeit totschlagen? Sie hatte das Gefühl, in einem absoluten Vakuum gelandet zu sein. Und irgendwie konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Nichts war mehr so wie zuvor. Naja, nicht ganz. Am folgenden Tag würde sie wieder in die Schule gehen müssen.

Verdammt! Sie hatte alle Unterlagen in ihrer Wohnung und für den Unterricht in dieser Woche kaum etwas vorbereitet. Die Spanisch-AG ist kein Problem, dachte sie, da gehe ich in der Lektion weiter vor. Auch die Lerneinheit für die Siebte in Französisch habe ich im Griff. Aber die Doppelstunde in Geschichte für den Elfer Grundkurs am Donnerstag muss ich komplett vorbereiten. Das bedeutet, ich muss meine Unterlagen holen.

Bei dem Gedanken, in die gemeinsame Wohnung mit Tom zurückgehen zu müssen, brach ihr der Schweiß aus. Ich kann das nur durchstehen, wenn ich ihn nicht noch einmal sehe. Wenn er mich mit seinen Hundeaugen anschmachtet und mich um Verzeihung bittet, werde ich schwach. Falls er mich dann noch anfasst, bin ich komplett verloren.

Sie wischte die Tränen weg und trank ihren Kaffee aus. Zum hundertsten Mal seit dem vorigen Nachmittag fragte sie sich, warum er sie betrogen hatte. Und ausgerechnet mit Silvia! Die beiden hatten doch nichts gemeinsam. Was hat sie, was ich nicht habe? Was fehlt ihm bei mir? War ich ihm zu langweilig? Zu brav? Zu dick?

Es war sinnlos. Was auch immer der Grund für seine Untreue gewesen war, sie konnte ihm das nicht verzeihen. Vor allem vertrauen konnte sie ihm nicht mehr.

Sie sah auf ihre Uhr: kurz nach zwölf. Dienstags um diese Zeit war Tom in der Vorlesung. Sie konnte also jetzt sofort in die Wohnung fahren, ihre Unterlagen holen und gleich wieder verschwinden, er kam für gewöhnlich erst am späten Nachmittag nach Hause. Kurz entschlossen setzte sie sich ins Auto und fuhr nach Neustadt.

Als sie vor dem Dreifamilienhaus ankam, in dem ihre Mietswohnung lag, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Sie nahm ihre Handtasche und das Handy; drei unbeantwortete Anrufe, zwei von Tom und einer von Silvia. Sie löschte sie ungelesen und ging ins Haus. Im Briefkasten steckte noch die Tageszeitung und die Post vom Vortag. Sie würde sofort einen Nachsendeantrag stellen und in der Schule Bescheid geben müssen, dass ihre Adresse sich geändert hatte.

Sie stieg in den zweiten Stock hinauf und atmete tief durch, dann schloss sie die Wohnungstür auf. Der vertraute, leicht süßliche Geruch von Toms Pfeifentabak umfing sie wie ein alter Freund. Bevor sie sich davon in eine trügerische Sicherheit einlullen ließ, ging sie zielstrebig ins Arbeitszimmer und begann, ihre Unterlagen zusammenzusuchen.

Es war doch mehr, als sie gedacht hatte. Sie holte vom Keller drei Umzugskartons hoch, die einigermaßen stabil wirkten. Als sie dabei war, den letzten zu füllen, klingelte das Telefon.

Sie erstarrte. Nach dreimaligem Tuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie kannte die fröhliche Ansage auswendig, sie hatten sie gemeinsam aufgesprochen. &bdquo;Hallo, hier sind Tom und Marlene! Wahrscheinlich sind wir gerade beschäftigt“ – Gekicher – &bdquo;aber wir rufen zurück, versprochen!“

Mit geschlossenen Augen stand Marlene mitten im Zimmer, während ihr die Tränen herunterströmten. Dann hörte sie Silvias Stimme: &bdquo;Marlene, wenn du da bist, bitte geh ran! Wir müssen reden! Es tut mir sooo leid! Aber ich bin sicher, wir können das aus der Welt schaffen. Bitte melde dich bei mir.“

Ernüchtert wischte Marlene sich die neuerlichen Tränen vom Gesicht. <Aus der Welt schaffen!> Wohin denn, bitteschön? Dachte Silvia wirklich, nach einem Gespräch unter Frauen könnte sie vergessen, was vorgefallen war?

Sie warf die restlichen Bücher in den Karton, dann ging sie ins Wohnzimmer und suchte die CDs durch. Wenigstens ihre eigenen von Moustaki, Brassens, Beethoven und Mozart wollte sie mitnehmen. Dann schleppte sie die Kisten eine nach der anderen nach unten.

Sie war gerade dabei, die letzte auf ihrem Rücksitz zu verstauen, als sie die vertraute Stimme hörte: &bdquo;Marlene, Gott sei Dank! Wieso bist du nicht ans Handy gegangen?“ Tom stand direkt hinter ihr.

Ohne ihn zu beachten, knallte sie die Tür zu und öffnete die Fahrertür.

&bdquo;Marlene, warte!“ Er packte sie am Arm. &bdquo;Hör mir doch zu! Du kannst jetzt nicht einfach so wegfahren.“

&bdquo;Fass‘ mich nicht an!“ Sie funkelte ihn wütend an, blieb aber stehen.

Er ließ sie los. &bdquo;Wir hatten das nicht geplant, das musst du mir glauben! Es ist einfach so passiert!“

&bdquo;Na, das macht ja den großen Unterschied!“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

&bdquo;Silvia kam gestern hierher, weil sie dich fragen wollte, wie die Prüfungen gelaufen waren und um mit dir zu reden. Es ging ihr nicht gut. Wir erzählten und sie sagte mir, dass sie die letzte Klausur total verhauen hat und noch ein weiteres Semester anhängen muss. Sie war völlig verzweifelt und fing an zu heulen. Ich habe sie nur kurz in den Arm genommen, um sie zu trösten. Sie hat sich an mich geklammert und dann ist es irgendwie passiert. Aber es hatte keine Bedeutung, verstehst du.“

Marlene schüttelte den Kopf. &bdquo;Nein, das verstehe ich nicht! Ihre Verzweiflung kann nicht so groß gewesen sein, dass du gleich mit ihr schlafen musstest. Auf dem Küchentisch noch dazu!“

&bdquo;Marlene, bitte, es war das erste Mal, ich habe dich zuvor noch nie betrogen!“

Sie sah ihn ungläubig an. &bdquo;Und was heißt das im Klartext? Einmal ist keinmal, weil du es nicht geplant hattest? Wie oft wird das in Zukunft wieder einfach so passieren?“

&bdquo;Gar nicht mehr!“ Er sah sie beschwörend an. &bdquo;Ich habe mich wie ein Vollidiot benommen! Bitte entschuldige! Es kommt nicht wieder vor!“

&bdquo;Tut mir leid, aber das kann ich nicht glauben. Ich habe kein Vertrauen mehr in dich, Tom!“ Damit drehte sie sich um, stieg ins Auto und fuhr los.

Als sie weiter vorne um die Ecke gebogen war, hielt sie am Straßenrand an. Sie war nicht angeschnallt, zitterte am ganzen Leib und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es war endgültig aus!

Die Muschel von Sant Josep

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