Читать книгу Die Muschel von Sant Josep - Karin Firlus - Страница 7
ОглавлениеKapitel 4
Mallorca, 24. und 25. Oktober
Nach einem gemütlichen Frühstück am Freitag beschlossen Marlene und Victor spontan, den sonnigen Tag zu genießen und in den Norden an den langen Strand von C’an Picafort zu fahren. Auf dem Rückweg wollten sie in Inca in eine der Lederfabriken gehen und sich anschließend die kleine Kapelle ansehen.
In C’an Picafort parkten sie den Wagen unweit des Strandes und schlenderten zum Ufer, wo Kinder mit großen Bällen im Wasser herumplantschten und etliche Urlauber auf Liegestühlen die Sonne genossen. Sie zogen ihre Sandalen aus und wandten sich in Richtung Alcudia. Marlene genoss das warme klare Wasser an ihren Füßen und dachte nicht zum ersten Mal, dass sie sich in Speyer zwar sehr wohlfühlte, dass die Stadt aber einen entscheidenden Nachteil hatte: Sie lag nicht am Meer.
Ihren Strandspaziergang begleiteten intensive Gespräche. Marlene erzählte von ihrem Studium und ihrem Unterricht, der ihr im Allgemeinen viel Freude bereitete. Auch Tom erwähnte sie kurz, aber sie hatte noch nicht genügend Abstand, um diese Beziehung und ihr jähes Ende einem anderen Mann anzuvertrauen.
Von Victor erfuhr sie, dass er zehn Jahre älter war als sie, in einem Dorf bei Avignon lebte und dort als EDV-Experte in einem großen Unternehmen arbeitete. Er erstellte Websites für diverse kleine und mittelgroße Firmen.
„Allerdings werde ich wohl bald meinem Bruder unter die Arme greifen müssen.“ Sie saßen in einem Strandcafé mit Blick auf die ruhige See und teilten sich eine Pfanne Paella. „Was das Berufliche angeht, falle ich in meiner Familie sozusagen aus dem Rahmen. Mein Vater war Weinbauer, wie sein Vater und mein Bruder auch.“ Er schob etwas Reis zwischen die Lippen, kaute und blickte wehmütig zu einem kleinen Jungen, der mit seinem Vater Federball spielte.
Er räusperte sich. „Mein Vater ist letztes Jahr von jetzt auf nachher an Darmkrebs gestorben. Es ging alles sehr schnell. Meiner Mutter brach es das Herz. Sie fühlte sich von ihm allein gelassen und völlig überfordert von dem, was das Leben von ihr abverlangte. Sie ging jeden Tag zum Friedhof und Nachbarn erzählten, dass sie manches Mal auf seinem Grab lag, so als wolle sie mit aller Macht zu ihm.“ Mit Tränen in den Augen legte er seine Gabel weg, lehnte sich nach hinten und schloss die Augen.
Marlene spürte Victors Traurigkeit fast körperlich und sie hätte ihn gerne getröstet. Aber was sagt man zu einem Menschen in solch einer Situation, was nicht lapidar und abgedroschen klingt? So schwieg sie.
Nach einer Weile sprach Victor weiter. „Sie war nicht in der Lage und auch nicht willens, sich um unser Weingut zu kümmern. Mein Bruder war schon immer für die Reben zuständig. Gäbe es einen Weintraubenflüsterer, wäre er der ideale Mann für diesen Job.“ Ein trauriges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Aber er ist kein Geschäftsmann. Er kann nicht mit Zahlen umgehen, keine Werbung betreiben oder neue Kunden an Land ziehen.
Meine Mutter hatte sich um die Buchhaltung gekümmert, bevor Vater krank wurde. Das habe ich dann übernommen und peu à peu alles auf EDV umgestellt.“
„Es ist ein Segen für deine Familie, dass du dich auf diesem Gebiet so gut auskennst, sonst wäret ihr jetzt ganz schön aufgeschmissen.“
„Es wäre zumindest umständlich und teuer.“
„Und deine Mutter hat sich völlig aus dem Geschäft zurückgezogen?“ Marlene beobachtete, wie sich Victors Gesichtsausdruck wieder verdüsterte.
„Sie hat sich vom Tod meines Vaters nicht mehr erholt, wurde immer schwächer und apathischer. Im Winter lag sie eines Morgens im Bett und atmete nicht mehr.“
„Mon Dieu, wie traurig!“, entfuhr es Marlene.
Victor sah stumm vor sich hin, dann seufzte er. „Natürlich ist es der Lauf der Welt, dass die Eltern irgendwann sterben und uns allein zurücklassen. Aber sie waren beide noch relativ jung, mein Vater 66 und meine Mutter 62; jedenfalls nicht in einem Alter, in dem mein Bruder und ich mit ihrem baldigen Tod gerechnet hätten. Und so plötzlich und kurz hintereinander beide geliebte Eltern zu verlieren …“ Er schluckte.
„Das ist grausam.“ Marlene dachte an ihre Eltern. Ihre Mutter war 53, ihr Vater vier Jahre älter. Die Vorstellung, die beiden in etwa zehn Jahren zu verlieren, schnürte ihr die Kehle zu. „Verstehst du dich mit deinem Bruder?“, fragte sie, um Victor aus seiner traurigen Erinnerung herauszuholen.
Er nickte. „Er ist zwar ein unverbesserlicher Dickschädel, aber wir kommen gut miteinander aus. Das ist ein großes Glück. Seine Verlobte unterstützt uns auch, wo sie nur kann. Sie tut ihm gut!“
Marlene sah ihn nachdenklich an, weil sie sich fragte, wieso Victor offensichtlich keine Partnerin hatte. Seine Gedanken schienen in die gleiche Richtung zu gehen, denn er sagte unvermittelt: „Ich bin seit drei Jahren geschieden. Pascale, meine Exfrau, hatte wohl eine andere Vorstellung vom Leben mit dem Sohn eines erfolgreichen Weinbauern.“ Er sagte es bitter. „Aber was soll’s! Es ist vorbei!“ Er lehnte sich nach vorne und goss das restliche Wasser in ihre Gläser. „Espresso?“
Sie nickte und dachte an Tom. Aber über ihn wollte sie dennoch nicht reden, weil sie fürchtete, ihre Gefühle würden sie übermannen. „Und wieso musst du deinem Bruder bald mehr helfen als bisher?“, fragte sie deshalb.
„Nun, zuvor hatte er Vater an seiner Seite. Die beiden haben sich mit Bertrand, der schon seit Jahren bei uns angestellt ist, um die anfallenden Arbeiten gekümmert. Meine Mutter war im Büro, ich arbeitete im EDV-Bereich, und so hatte jeder seinen Platz.
Aber seit dem Tod meiner Eltern fehlen zwei Arbeitskräfte. Außerdem hatten sie kein Testament gemacht, also ging das Weingut mit dem gesamten Landbesitz je hälftig an Jacques und mich. Ich wollte ihm meinen Anteil am Weingut überschreiben, weil er sich ja von Jugend an um den Wein gekümmert hat. Aber davon wollte er nichts hören. ‚Wir waren schon immer ein Familienbetrieb‘, sagte er, ‚und so soll es auch bleiben‘.“
Er gab zwei Stück Zucker in seinen Espresso und rührte um. Marlene steckte sich eine Gauloise an. „Ich verstehe deinen Bruder schon. Aber er verlangt von dir jetzt wahrscheinlich, dass du dich mehr einbringst, obwohl das ja nicht dein Betätigungsfeld ist. Kommst du damit denn klar?“
„Muss ich. Wir stellten zunächst Juliette ein, die sich halbtags um die anfallenden Büroarbeiten kümmerte, aber bald schon im Weinberg mithalf. Sie hat ein gutes Händchen dafür und es scheint ihr auch Freude zu bereiten. Das war eine Erleichterung für mich. Es passt, dass mein Bruder und sie sich ineinander verliebt haben.“ Er lächelte. „Aber jemand von uns muss sich um die Verwaltung und die Finanzierung kümmern. Am Wochenende ein bisschen am Computer arbeiten reicht nicht mehr.“ Er zahlte und sie gingen zurück.
„Wirst du deinen bisherigen Job weiter behalten können?“, fragte Marlene.
Victor schüttelte den Kopf. „Eben nicht. Wenn ich am Montag ins Büro zurückkomme, präsentiere ich meinem Chef die Kündigung zum Jahresende.“
„Wie wird er reagieren, was meinst du?“
Victor zuckte mit den Schultern. „Er kennt ja meine Zwangslage. Dennoch wird er nicht erfreut sein, denn ich werde mich selbstständig machen – somit kann ich neben der Arbeit für das Weingut doch noch meine bisherige Tätigkeit ausüben – und das heißt auch, dass er etliche Kunden verlieren wird, die ich seit Jahren schon allein betreue.“
Mittlerweile war Marlene klar, warum Victor so melancholisch war. Bei der unverarbeiteten Trauer und den Sorgen, mit denen er konfrontiert war, lastete einfach zu viel auf seinen Schultern. Dennoch wirkte er jetzt erleichtert und gelassener als zuvor.
Sie fuhren nach Inca und schwelgten in Lederträumen. Nachdem sie zwei große Geschäfte durchstöbert hatten, verwarf Marlene die gewagte pinkfarbene Handtasche und entschied sich für eine in schwarzem Leder. Nach einem Früchteeisbecher fuhren sie schließlich nach Jornets, einem alten Gutshof, zu dem die Kapelle Sant Josep gehörte.
Als habe das Gespräch mittags Victor von einer Last befreit, war er fröhlich und seine gute Laune sprang auf Marlene über. Sie fühlte sich so unbeschwert und glücklich wie schon seit Monaten nicht mehr.
Erwartungsvoll näherten sie sich der Kapelle. Das Portal der schlichten Sandsteinfassade wurde von zwei Säulen eingerahmt. Im kühlen Inneren des kleinen Gotteshauses standen drei kurze Bankreihen zwischen halbrunden Bögen. Die Wände waren geweißt und über der Apsis erstreckte sich tatsächlich eine Decke, die über und über mit Muscheln bedeckt war. Das Bild eines Schutzheiligen, wahrscheinlich Sant Josep, hing darunter.
Marlene starrte zur Decke empor. Sie musste zugeben, dass sie in der Tat etwas kitschig und überladen wirkte. Dennoch gefielen ihr die Muscheln, denn für sie waren sie Symbol für das Meer, das sie liebte, und für das Leben schlechthin. Wie in einer Muschel gab es im Leben, wenn man viel Glück hatte, auch manchmal eine verborgene Perle zu entdecken.
Victor stand still neben ihr, den Blick auch nach oben gerichtet. „Es wirkt“, flüsterte er nach einer Weile mit belegter Stimme, „als hätten alle Liebenden, die hierherkamen, als Zeichen ihrer Liebe ihre Herzen als Muscheln da oben verewigt. Dort, wo der Himmel über ihre Muscheln und somit über ihre Liebe wachen kann …“
Marlene lief eine Gänsehaut über den Rücken. Die Vorstellung war rührend. Die Nachmittagssonne, die durch das Seitenfenster fiel, schien sie und Victor in einen Kokon aus Licht und Liebe zu hüllen.
Ohne bewusste Willensentscheidung drehte sie ihm ihr Gesicht zu. Er nahm es sanft in beide Hände und legte seine Lippen auf ihre. Und ihre Seelenfäden nahmen zaghaft, aber schicksalsbestimmt miteinander Verbindung auf. Dann lösten sie sich voneinander und verließen, nach einem letzten Blick zur Decke, schweigend und Hand in Hand die Kapelle.
Marlene war sich später nicht mehr sicher, ob sie sich den Kuss nur eingebildet hatte. Sie war wie in einer Trance gefangen, aus der sie erst erwachte, als ein kläffender Hund in einem nahegelegenen Garten sie in die Wirklichkeit zurückholte.
Sie fuhren nach La Ràpita zurück, wo sie sich an der Rezeption trennten. Später wollten sie sich auf der Terrasse mit den anderen treffen. Marlene unterhielt sich noch mit Petra, wobei sie die persönlichen Details der letzten Stunden für sich behielt. Spontan beschloss sie, vor dem Duschen noch einen kleinen Strandspaziergang zu machen. Sie war innerlich seltsam aufgewühlt und fühlte sich Victor nach dem gemeinsam verbrachten Tag sehr nahe. Sie hoffte, dass die klare Seeluft Ruhe in ihr inneres Chaos bringen würde.
Die Sandalen in einer Hand lief sie im seichten Wasser, das am frühen Abend schon recht kühl war. Der plötzlich aufkommende Wind zerrte an ihren Haaren. Sie senkte den Kopf und suchte konzentriert den nassen Sand ab. Als sie eine unversehrte halbe Muschel fand, wurde ihr erst bewusst, dass sie danach gesucht hatte. Aber es war eben nur eine Hälfte der Muschel, die zweite fehlte. Und die anderen, die sie fand, waren alle am Rand beschädigt.
Victor schien die gleiche Idee gehabt zu haben. Er kam ihr winkend entgegen. Sein Gesicht überzog eine leichte Bräune, seine nachtblauen Augen strahlten, und Marlene schien es, als sehe sie ihn zum ersten Mal: ein schmales sympathisches Gesicht voller Wärme und Herzlichkeit, das ihr seltsam vertraut schien. Sie blieben lächelnd voreinander stehen.
„Ich dachte, ich würde eine schöne Muschel finden, so wie die in der Kapelle. Aber ich hatte kein Glück.“ Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
Victor nahm ihre Hand und legte etwas hinein. „So wie diese hier?“
Marlene starrte auf ihre Handfläche: Eine halb geöffnete Muschel lag darin. Sie war beige mit dunkelbraunen Streifen und fast rund, die beiden Hälften bauchig und völlig unversehrt.
„Woher hast du die? Sie ist wunderschön!“
Victor zeigte schräg hinter sich. „Da vorne bei den Dünen, wo wir uns gestern Morgen getroffen haben, lag sie.“
„Diese Muschel ist vollkommen!“ Marlene fuhr mit dem Zeigefinger sanft über die weiche Oberfläche, die tausende von Sandkörnern und Wellen glattgespült hatten.
„Sie ist für dich, als Erinnerung.“ Er sah sie ernst an.
Marlene schüttelte den Kopf. „Nein, nein, behalt du sie, du hast sie gefunden.“
Seine blauen Augen sahen in ihre, dann zog er sie an sich und ihre Köpfe neigten sich einander zu. Ihre Lippen verschmolzen miteinander. Er legte seine Arme um sie und zog sie noch fester an sich. Marlene fühlte sich geborgen in dieser Umarmung, so beschützt, als könne nichts und niemand ihr je wieder etwas anhaben.
Nach einer Ewigkeit und einem Flügelschlag der Zeit lösten sie sich voneinander. „Die eine Hälfte für dich“, flüsterte Victor.
„Und die andere für dich“, murmelte Marlene.
Er nahm die Muschel und bog sie behutsam auseinander. Mit einem sanften Plopp trennten sich die beiden Hälften genau in der Mitte, so als habe die Muschel ihr Leben lang genau auf diesen Augenblick gewartet.
~~~
Bevor sie duschte, leerte Marlene den blauen Samtbeutel, in dem das bisschen Schmuck war, den sie mitgebracht hatte. Dann wickelte sie ihre Muschelhälfte vorsichtig in ein Papiertaschentuch und ließ es in den Beutel gleiten.
Als sie unter der Dusche stand, traf sie eine plötzliche Nüchternheit. Lag es an dem kalten Wasserstrahl oder daran, dass diese Tätigkeit eine tägliche Verrichtung war? Sie fragte sich mit einem Mal, ob sie bescheuert war, sich so kindisch-verliebt zu benehmen. Und sie erwischte sich bei dem Gedanken, ob sie vielleicht diese letzte Nacht auf Mallorca mit Victor gemeinsam verbringen sollte. Sie hatte einfach ihren Verstand ausgeschaltet und sich fallengelassen.
Aber wohin sollte diese Gefühlsduselei führen? Sie hatte sich nicht ernsthaft verliebt. Oder etwa doch? Wenn ja, würde sie dieses Gefühl schnell aus ihrem Herzen verbannen müssen. Eine Liebe zu diesem Mann war von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Er, ein Franzose aus Südfrankreich, der zu seinem Bruder und dem gemeinsamen Weingut zurückkehrte, -kehren musste, weil er ihn verständlicherweise unterstützen wollte. Und sie lebte in Deutschland, wo ihre berufliche Zukunft gerade erst begonnen hatte und wo ihre Eltern waren.
Hatte sie den Mut, all das aufzugeben und nach Avignon zu Victor zu ziehen? Nein, gestand sie sich ein. Dieses Wagnis war ihr zu groß, sie kannten sich ja kaum.
Wie also sollte ihre Beziehung aussehen? Die Entfernung war einfach zu groß. In den Ferien würde sie zu ihm kommen, vielleicht würden sie sich auch ab und zu hier auf Mallorca treffen, wenn er Urlaub hatte. Und in den langen Wochen und Monaten dazwischen telefonieren und mailen.
Sie trocknete sich ab, zog sich an und begann zu packen. So stellte sie sich eine Partnerschaft nicht vor. Sie wollte einen Mann an ihrer Seite, der immer da war. Mit dem sie morgens aufwachte und abends einschlief, einen, der den ganz normalen Alltag mit ihr teilte. Sie wollte keine Urlaubsbekanntschaft, der sie mehr Bedeutung beimaß, als ihr zustand. Wahrscheinlich war sie nach der Enttäuschung mit Tom so frustriert, dass sie sich auf den erstbesten Mann stürzte, der ungebunden war.
Als sie ins Bad ging, um sich zu schminken, wanderte ihr Blick zu dem Samtbeutel auf der Kommode. Sie glaubte, die Muschel förmlich zu spüren. Rasch wandte sie sich ab. Sentimentaler Blödsinn! Noch ein paar Stunden, dann war Victor Vergangenheit.
Sie legte etwas braunen Lidschatten auf. Aber wie sollte sie nur den Abend überstehen? Er würde sie doch sicher wieder küssen wollen, eventuell auch mehr. Schweiß brach ihr aus allen Poren. Kurz überlegte sie, ob sie eine Migräne vorschützen sollte, aber das würde unglaubwürdig klingen. Sie musste da jetzt durch!
Als sie auf die Terrasse kam, saßen die anderen schon dort. Petra und Pablo waren bester Laune, auch Albert und Ulrike sprühten vor Fröhlichkeit. Ihrer Freundin schien es wohl nichts auszumachen, dass sie Albert am nächsten Tag Lebewohl sagen musste. Offensichtlich hatte Ulrike die Bekanntschaft mit ihm als das empfunden, was sie war: ein einmaliger Urlaubsflirt, der ihr guttat und den sie danach vergessen konnte.
Marlene gelang es einigermaßen, ihr Unbehagen vor dem drohenden Abschied von Victor zu unterdrücken. Zumindest so lange, bis Petra und Pablo sich zurückzogen und bis kurz nach ihnen Albert und Ulrike sich verabschiedeten, „um die letzten gemeinsamen Stunden noch auszukosten“, wie Albert augenzwinkernd sagte.
Marlene hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie griff zu ihrem Weinglas und stürzte den Rest des vollmundigen Rotweins auf einmal hinunter. Victor schien ihre Stimmung zu spüren. Er legte seine Hand auf ihre. „Wann fliegt ihr morgen?“
„Erst um elf. Aber wir müssen zuvor noch den Mietwagen zurückgeben, also werden wir spätestens um acht hier wegmüssen.“
„Das heißt, wir verabschieden uns heute Abend.“ Seine Stimme klang traurig.
Sie nickte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ihm auf diplomatische Art beizubringen, dass sie auch gehen sollte. Aber anschauen konnte sie ihn nicht. Wenn ich in seine blauen Augen sehe, wird alles nur noch schlimmer, dachte sie verzweifelt. Dann will ich mich nur noch in seine Arme schmiegen und für immer dortbleiben.
Der Kloß in ihrem Hals wuchs, aber irgendetwas musste sie sagen. „Victor, ich sollte schlafen gehen. Es ist spät und ich … wir … Himmel, ich kann das nicht!“ Verzweifelt legte sie den Kopf auf ihre verschränkten Arme und fing zu ihrem Entsetzen an zu schluchzen.
Einerseits drohten ihre Gefühle sie zu überwältigen. Sie meinte plötzlich, nicht mehr ohne ihn sein zu können, und der Abschiedsschmerz nagte an ihr. Gleichzeitig sagte ihr ihr Verstand: „Es ist aussichtslos!“ Sie wäre am liebsten weggerannt, hätte gerne die Flucht nach vorne angetreten, nur weg von ihm, von seiner Nähe, von seiner Wärme.
Victor strich ihr liebevoll über die Haare. „Marlene, sei nicht so verzweifelt. Ich weiß, wie du dich fühlst. Mir geht es auch so. Wir haben uns ineinander verliebt, aber es ist der falsche Zeitpunkt.“
Zwischen ihren verzweifelten Schluchzern horchte sie auf.
Er sprach weiter. „Ich würde die heutige Nacht sehr gerne mit dir verbringen, aber das wäre nicht richtig. Wir können und wollen keine Fernbeziehung führen. Ich jedenfalls kann es nicht, und ich glaube, du auch nicht. Und ich kann nicht aus Frankreich weg, ich kann Jacques nicht hängenlassen.“
Sie hob ihr tränennasses Gesicht und sah ihn unglücklich an. „Das ist ja das Dilemma!“
„Sch-sch.“ Er schob zärtlich eine Haarsträhne aus ihrer Stirn, beugte sich vor und küsste sie auf die Lippen. „Sei nicht traurig, Marlene, unsere Zeit wird kommen.“
Er sagte es so ruhig und mit solcher Gewissheit, dass sie ihn überrascht anstarrte. „Meinst du? Aber wie soll das gehen? Und wann?“
„Ich weiß nicht, wie und wann; ich weiß nur, dass unsere gemeinsame Geschichte nicht zu Ende ist. Hab einfach Vertrauen.“ Er klopfte auf seine linke Brust. „Ich spüre es in meinem Herzen.“ Dann stand er auf und zog sie mit sich hoch. Er küsste sie noch einmal und flüsterte: „Wir sehen uns wieder, mon amour!“ Nach einem letzten Blick drehte er sich um und ging.
Marlene sah ihm nach und hatte das Gefühl, mit jedem Schritt, den er sich von ihr entfernte, weiche alle Lebenskraft aus ihr. Sie sank auf ihren Stuhl und weinte bitterlich.
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Dieses Mal war Ulrike diejenige, die versuchte, Marlene während des Fluges abzulenken. Bald gab sie es auf.
Marlene saß stumm neben ihr und hielt die Augen geschlossen. Sie dachte an Victor, sah sein trauriges Gesicht vor sich, als sie sich voneinander verabschiedeten; spürte seine Lippen auf ihrem Mund und hörte ihn flüstern: „Wir sehen uns wieder, mon amour!“
Sie griff nach der Handtasche, die zwischen ihren Beinen stand, öffnete sie und grapschte darin herum, bis sie das Samtbeutelchen gefunden hatte, in dem ihre Muschelhälfte lag. Sie umschloss sie vorsichtig mit ihrer Hand und spürte, wie heiße Tränen in ihr aufstiegen. Die halbe Muschel und die wenigen Fotos waren die einzige greifbare Erinnerung an ihn.
Ich muss bescheuert gewesen sein, dachte sie, dass ich keine Adresse, keine Telefonnummer, keine E-Mail-Adresse mit ihm getauscht habe. Selbst wenn ich wollte - und ich will! - könnte ich keinen Kontakt zu ihm aufnehmen. Sanft ließ sie die Handtasche wieder zu Boden gleiten und dachte daran, dass dies zwar nicht ihre erste Liebe war, aber eine große. Zumindest hätte sie es werden können, wenn sie die Chance gehabt hätte, sich zu entwickeln, und wenn sie nicht so verrückt gewesen wäre, eine Fernbeziehung, ohne zuerst darüber nachzudenken, rundweg abzulehnen.
Im Augenblick kamen ihr einige Monate, in denen sie sich nicht hätten sehen können, gar nicht so schlimm vor. Schließlich, was waren einige Wochen gegenüber dem Rest ihres Lebens? Wieder würgte sie der Kloß im Hals. Es tat so verdammt weh. Wie soll ich die nächsten Monate und Jahre nur ohne ihn überstehen, dachte sie verzweifelt.
Kurz vor der Landung verkündete der Kapitän: „In Frankfurt sind es zehn Grad und im Augenblick regnet es!“, Marlene dachte: Das Wetter spiegelt mein inneres Empfinden wieder: Kälte und Trostlosigkeit.
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Speyer, Herbst-Winter
Gelbe, braune und rote Blätter glühten tausendfach an Bäumen und schrien beschwörend die letzte Lebenskraft, die ihnen innewohnte, in den kühlen Herbstwind, bevor die Novemberstürme sie unerbittlich von Zweigen und Ästen rissen. Am Boden welkten sie in hohen Haufen sterbend vor sich hin. Hunderte von bunten Martinslaternen schickten Licht ins Dunkel des Abends und schaukelten, vom Gesang der Kleinen und Großen begleitet, durch die nächtlichen Speyerer Straßen.
Dann versank alles in trostlosem Spätherbstgrau. Nach und nach lösten Wollmäntel und Daunenjacken Parkas und Trenchcoats ab. Auf der Maximilianstraße wurden Weihnachtsbäume mit roten Schleifen aufgestellt und die Straßencafés räumten endgültig Tische und Stühle, auf denen noch Tage zuvor vereinzelt Touristen und Speyerer gesessen hatten, in ihre Keller und Speicher.
Der erste Dezemberschnee zauberte eine dünne, weiße Schicht auf die Buden der Weihnachtsmarktbetreiber und der Duft von frisch gebackenen Waffeln, Crêpes und würzigem Glühwein mischte sich mit dem pikanten Aroma von Pizza, Gulasch und heißen Würstchen mit Senf. Lebkuchen, Stollen, Fellhandschuhe, gusseiserne Pfannen, dänische Kerzen und allerlei Kräuter wechselten für nimmermüde Euros flink die Besitzer. Restaurants und Kneipen quollen über von Menschen, die die obligatorischen Weihnachtsfeiern abhielten.
Kerzen heimelten die kalten, dunklen Abende gemütlich. An häuslichen Fensterscheiben wetteiferten glitzernde Lichterketten mit ihren großen Verwandten über den Türen der Geschäfte, deren Besitzer vor dem christlichen Fest im kommerziellen Schlagabtausch fieberten. Das Aroma von Zimt, Koriander und Vanille waberte aus Backstuben und Wohnhäusern.
Große, mittlere, kleine, schmale und breite Fichten und Tannen lehnten dicht nebeneinander und warteten darauf, von Klein und Groß heimgefahren und geschmückt zu werden.
Arbeitnehmer häuften noch mehr Überstunden an - Wir sind von 8:00 bis 22:00 Uhr für Sie da - alles musste noch fertig werden und raus. Schüler paukten Formeln und Vokabeln, die Rotstifte der Lehrer glühten.
Blaues, rotes, goldenes und silbernes Papier schmiegte sich um große und größere Gaben, die schließlich unter Weihnachtsbäumen von erwartungsfrohen Kindern, abgeklärten Erwachsenen und zittrigen Alten von ihrem Papiermüll befreit wurden. Am ersten Werktag quollen die Geschäfte über von Enttäuschten, die ihre Geschenke gegen andere eintauschen wollten.
Petra und Pablo kamen und gingen. Kirchenglocken, Raketen, Knaller und Wunderkerzen läuteten das neue Jahr ein. Die Polizeistationen waren überfüllt von Betrunkenen und jugendlichen Randalierern. In den Herzen der Menschen, die es eigentlich besser hätten wissen müssen, keimte wie an jedem ersten Januar die Hoffnung, dass im kommenden Jahr alles besser werden würde.
Der Januarschnee schleuderte massenweise Autos und LKWs in Straßengräben und gegen Leitplanken. Der ADAC-Abschleppdienst arbeitete rund um die Uhr, die Intensivstationen der Krankenhäuser waren überbelegt mit Unfallverletzten.
Über die Fernsehbildschirme flatterten nach Katastrophenmeldungen über Waldbrände in Australien Filme mit traumhaften Bildern von makellosen Stränden und spiegelglattem Meer, einem Luxusschiff, von glücklichen Menschen vor Traumkulissen und einem astreinen Happy End.
Das erste Halbjahr war vorbei, Tests und Arbeiten für das zweite standen an. Der Februar drängte nass und mild der fünften Jahreszeit entgegen. Marlene packte einen kleinen Koffer und bestieg zusammen mit ihren Eltern den Flieger zur größten der Baleareninseln, wo eine überglückliche Petra in einem langen, weißen Spitzenkleid neben einem strahlenden Pablo in weißem Smoking ihr Ja-Wort auf Spanisch gab.
Nach der anschließenden Feier, an der gefühlsmäßig die Hälfte aller Mallorquiner teilnahm, flogen die beiden Frischvermählten für zwei Wochen nach Gran Canaria, wo um diese Jahreszeit angenehme Temperaturen herrschten. Marlene war sicher, dass der erste Nachwuchs bei den beiden Turteltauben nicht lange auf sich warten lassen würde.
Sie überstand diese Tage mit einer äußerlichen Fröhlichkeit, von der sie nicht wusste, woher sie sie nahm. Sie freute sich natürlich für ihre Schwester, dass sie mit Pablo eine solch innige Zweisamkeit verband, die jedes Paar sich erhofft. Zum Glück wohnten sie an der Südwestküste, wo Pablos Geschwister lebten und die Hochzeit stattfand. Sie hätte es nicht ertragen, in La Ràpita zu sein, im Hotelgarten, am Strand, ohne Victor.
Dennoch drängte sich die Erinnerung an die wenigen gemeinsamen Stunden auf und sie durchlebte die glücklichen Tage mit ihm erneut, so, als sei es erst gestern gewesen. Mit dem Vorsatz, ihn endgültig aus ihren Gedanken und ihrem Herzen zu verbannen, bestieg sie die Maschine nach Frankfurt. Für sie war wohl nicht möglich, unbeschwertes Liebesglück zu genießen, wie es ihrer Schwester beschieden war.
Petra rief an einem verregneten Tag Ende April an und verkündete fröhlich, dass sie schwanger sei. „Ich bin Anfang dritter Monat, d.h. es kommt Ende November, Anfang Dezember und du wirst Patentante. Zwischen Weihnachten und Silvester lassen wir ihn taufen, da hast du Ferien.“
„Ihn? Weiß man denn so früh schon, dass es ein Junge wird?“
„Nein, natürlich nicht, aber das spüre ich einfach!“