Читать книгу Saris, Götter, Sandokan - Ein Reisetagebuch - Karin Itzigehl - Страница 6

1. Tag – 16. Oktober 2010 - Delhi

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Wir rollen unsere großen Koffer über die gemusterte, braune Auslegware in den riesigen Hallen des Internationalen Indira Gandhi Flughafens in Delhi. Alles ist sehr weitläufig, modern und angenehm. Palmen in großen Kübeln sorgen für südliches Flair, und an gewellten Bronzewänden zeigen überdimensionierte Hände die Zeichen des klassischen dramatischen Kathakali-Tanzes. Wir sind angekommen in einer anderen Welt und streben – gleich nach dem ersten Geldtausch 1: 63 - zum Ausgang des Gebäudes. Dort stehen viele Menschen Spalier, in ihren Händen Pappschilder mit den Namen derer, die sie erwarten. Uns scheint keiner zu erwarten. Immer wieder gehen Husni und ich mit unserem Gepäckkarren an ihnen vorbei. Große braune Augen starren uns fragend an, Taxifahrer versuchen uns lautstark herumzukriegen, in ihre Dienste zu treten. Keine Chance, wir werden abgeholt. Einer hat nur einen Schnellhefter in der Hand. Vielleicht erwartet er uns ja. Ich gehe ganz nah heran, um die kleine Schrift zu entziffern. Da steht tatsächlich mein Name! „Das bin ich“, sage ich und schaue in zwei blaue (!) Augen. Das sollte für lange Zeit mein letzter deutscher Satz sein. Am fragenden Gesichtsausdruck des Mannes erkenne ich, dass ich ab jetzt mein aufgefrischtes Englisch benutzen muss. Ich hatte mindestens 20 Jahre lang keine zwei zusammen hängenden englischen Sätze mehr sprechen müssen. Bei der Arbeit brauche ich es nicht, und Lust darauf, es nur so für mich zu lernen, hatte ich eigentlich auch nicht. Aber jetzt vor der Indien-Reise war natürlich ein Anlass vorhanden. Der Mann mit den blauen Augen entpuppt sich als unser Fahrer. Unser Gepäck wird in einen weißen Tata verstaut, und der Mitarbeiter unseres indischen Reisebüros hängt uns zur Begrüßung Kränze aus gelben Studentenblumen um den Hals. Noch auf der Fahrt ins Hotel erhalte ich meine bereits zu Hause bestellte Airtel Prepaid Karte für mein Netbook. In gemeinschaftlicher Anstrengung installieren wir sie, und ich setze die erste Mail „Gut angekommen“ noch im Auto an meine Schwester ab. Ich bin erleichtert, dass es funktioniert. Ich wollte auf dieser Reise nicht auf Internetcafés angewiesen sein, um meine Berichte und Fotos von unterwegs nach Hause zu schicken. 32 Neugierige hatte ich in meinen Verteiler aufgenommen. Aber mindestens genauso wichtig wie die Berichte nach Hause war für mich, dass ich gegen Ende der Reise mit Kabir Bedi noch einmal über Twitter Kontakt aufnehmen kann, ohne dauernd Internet-Cafés suchen zu müssen.

Kabir Bedi war nicht nur Hauptdarsteller in den beiden Sandokan-Serien „Sandokan, der Tiger von Malaysia“ 1979 und „Die Rückkehr des Sandokan“ 1999. Er spielte und spielt auch heute noch in ca. 100 weiteren Filmen mit, zum Beispiel in „James Bond – Octopussi“, in „Palast der 1000 Träume“, „Das Geheimnis des schwarzen Dschungels“, „Der schwarze Korsar“ oder „Das Gesetz der Wüste“. Das sind meine Lieblingsfilme. Wie schafft man es, seinen Lieblingsschauspieler in Mumbai zu treffen? Als Mitglied seines deutschen Fanclubs bat ich die Vorsitzende schon lange vor meiner Reise, bei ihm anzufragen, ob er mich empfangen würde. Aber er antwortete nicht. Zu dem Zeitpunkt war er in Italien und in Kanada, vielleicht wusste er auch noch nicht, was er antworten sollte. Zwei Wochen vor dem Start wollte ich es aber dann doch nicht dem Zufall überlassen, ob ich ihn sehe oder nicht. Bei ihm klingeln wäre ein Überfall gewesen, den ich selber auch nicht gut gefunden hätte. Aber ich hätte es mir später nie verziehen, wenn ich nicht alles versucht hätte. Denn ich wusste, ich würde nur dieses eine Mal in meinem Leben in Indien weilen. Ein zweites Mal würde ich mir eine Indienreise nicht leisten können. Ich fand heraus, dass Kabir Bedi viel twittert. Diese Möglichkeit im Internet nutzte ich dann auch. Mit 140 Zeichen musste ich erklären, dass ich von seinem deutschen Fanclub bin, vom 13. bis 15. November in Mumbai weile und gern ihn und seine Lebensgefährtin Parveen zum Dinner einladen würde. Ich dachte, dass so eine Einladung auf jeden Fall mehr zu einem Ja animiert als einfach nur der Wunsch nach einem Treffen. Dann musste ich warten. Kabir Bedi schrieb an dem Tag noch vier Nachrichten ins Twitter-Universum und schien meine Frage zu ignorieren. Ich dachte: Na ja, hätte ich vielleicht auch gemacht an seiner Stelle, könnte ja jeder Fan kommen, aber ein bisschen geknickt war ich schon. Am nächsten Morgen schaute ich wie jeden Morgen in meine E-Mails und da stand: „Kabir Bedi hat dir geantwortet“. Mir ist fast das Herz in die Hose gerutscht. Der berühmte Kabir Bedi hat mir geantwortet! Ich soll ihn kurz vorher noch einmal daran erinnern, stand da. Das war kein Nein. Ich konnte es noch gar nicht glauben. Selbst wenn er dann später Nein gesagt hätte, wäre das für mich kein herber Schlag gewesen, denn er hat es dann zumindest in Betracht gezogen.

Es sind etwa 30 Grad Wärme in Delhi. Die Stützstrumpfhose gegen Thrombose fühlt sich extrem ungemütlich an. Ich hatte Zwiebellook angezogen. In Deutschland waren es 15 Grad, jetzt kann ich die zwei Pullover, die ich über dem T-Shirt hatte, ins Handgepäck stopfen. Wir halten vor einem unauffälligen kleinen Hotel namens „Residence“. Wie lange wir zum Einchecken und Frischmachen brauchen, werden wir gefragt. Nach einer halben Stunde sind wir wieder im Auto, das sich im Schritt-Tempo durch eine vierspurige Altstadtstraße quält. Dazwischen in der Mitte ist ein Zaun, der ab und zu unterbrochen ist für die Fußgänger, die auf die andere Seite wollen. Sie schlängeln sich zwischen den Autos und Rikschas, Motorrädern, Fahrrädern und Tuktuks hindurch. Letztere Gefährte haben einen Fahrersitz und zwei Sitze hinten und erhielten ihren Namen nach dem Geräusch, das sie machen. Zweizylinder. Es ist Sonntag und der Verkehr ist nicht so schlimm, erklärt unser Stadtführer Harshwardhan, den wir nur kurz Harsh nennen sollen. Ein schöner junger Inder ist er mit einem entwaffnenden Lächeln und einem sehr guten Deutsch. Wir fragen uns, wie dann wohl dichter Verkehr sein muss und ahnen so halbwegs, dass wir das bestimmt noch herausfinden werden. Weil heute Sonntag ist, ist unsere Altstadtstraße ein scheinbar endloses Buch-Antiquariat. Die Bücher liegen einfach so auf dem Gehweg in mehreren Reihen aufgestapelt. Dazwischen suchen braungebrannte Männer und Frauen nach Schnäppchen, andere eilen geschäftig an den Buchstapeln vorbei. Die meisten Frauen kleiden sich traditionell. Sie hüllen sich in Saris, sechs Meter lange Stoffbahnen mit Stickereien, Pailletten oder kunstvollen Drucken, die in verschiedenen Wickeltechniken um den Körper geschlungen werden, wobei das prächtige Ende über die Schulter geworfen oder über den Kopf drapiert wird. Die andere klassische Kleidervariante für Frauen ist der Salwar Kameez, eine Hose, dazu ein meist knielanges, kostbar besticktes Oberteil und ein Schal, dessen Enden bei den meisten über die Schultern den Rücken lang herunter hängen. Ich hatte mir zu Hause schon einen im Internet gekauft und gleich hier angezogen. Dafür habe ich wohlwollende Blicke bei Harsh und Fahrer Suresh registriert. Auch meine paar eingeübten Hindi-Worte Danyawad für Danke und Namasté, „Ich verneige mich vor Dir“, der Gruß für alle Tageszeiten, kamen gleich gut an. Die meisten Männer kleiden sich europäisch mit Hose und Hemd, nur wenige tragen die Kurta, ein langes Obergewand, zur Hose. Das sind meist die älteren Männer, die das Traditionsbewusstsein haben. Harsh führt uns in die Jami Masjid Moschee aus rotem Sandstein. Davor müssen wir unsere Schuhe ausziehen. Ein Aufpasser sitzt daneben, am Ende erwartet er 20 Rupees Trinkgeld. Freitags beten auf dem riesigen Innenhof der Moschee bis zu 20.000 Gläubige, erzählt Harsh. Ich fotografiere auch die Menschen, Frauen und Kinder. Sie sitzen unter Arkaden im Schatten. Harsh erklärt, dass sie aus anderen indischen Bundesländern kommen und dort übernachten. Ein kleines Mädchen schleppt ein Baby mit sich herum, das nicht gesund aussieht. Es ist von ihrem Bruder, erklärt die achtjährige Salman auf die Frage von Harsh. Der 27-jährige studiert Tourismuswirt und verdient sich als Stadtführer das nötige Geld für sein Studium. Ohne es zu wissen, erfüllt er mir mit dem nächsten Programmpunkt einen Riesenwunsch: Mit einer Rikscha durch die engen Gassen von Alt-Delhi zu fahren. Man hat das ja alles irgendwie schon im Fernsehen gesehen, so dass man nicht mehr so wirklich überrascht ist. Aber mittendrin zu sein in dem Gewimmel von Autos, Mopeds, Rikschas, Fahrrädern, Menschen und Kühen, das ist dann doch noch einmal etwas ganz anderes als mit dem sterilen Abstand, den eine Flimmerkiste schafft. Rechts und links Geschäfte, die Händler rufen durcheinander, die Fahrzeuge hupen unentwegt, drängen sich aneinander vorbei. Radfahrer transportieren Berge von Matratzen, zusammen geknotete Töpfe oder andere Waren auf ihrem Rücken. Was soll man machen, wenn man sich kein Auto leisten kann? Wir amüsieren uns über diesen Einfallsreichtum, aber auch über die abenteuerliche Stromversorgung: frei hängende, irgendwie verknotete und irgendwo aufgehängte Kabel, die sich über die Straßen und dann an den Hauswänden herunter hangeln. Es ist laut, anstrengend und trotzdem wirken alle gelassen und rücksichtsvoll. Ich sauge diese Fülle, dieses außergewöhnliche Lebensgefühl ein und drehe meinen Kopf nach rechts, damit Husni meine Träne nicht sieht. Ich bin wirklich da. Nie hätte ich gedacht, dass ich das erleben darf.

Ich merke, meine Fotos können das nicht wirklich wiedergeben, und ich nehme ein kleines Video auf. Reichlich SD-Karten habe ich ja mit, und am Abend werde ich ja alle Fotos und Video-Clips auf mein Netbook laden. Sicher ist sicher. Auch am Rajghat, dem Grabmahl von Mahatma Gandhi, lässt sich eine Träne nicht vermeiden. Ich hatte einst den Film gesehen mit Ben Kingsley in der Hauptrolle. Durch ihn bekam ich überhaupt erst einen Eindruck von diesem engagierten, gewaltlosen Kämpfer für die Freiheit und Gerechtigkeit des indischen Volkes. Er durfte die Unabhängigkeit, für die er so viel getan hatte, noch miterleben, musste aber wegen noch nicht bewältigter religiöser Konflikte 1948 durch einen Mann aus den eigenen Reihen sterben, weil er selbst kompromissbereit gewesen ist in den Verhandlungen. Das alles geht mir durch den Kopf, als ich an der schwarzen Marmorplatte stehe, auf der viele Kränze aus Studentenblumen und Lichterschalen liegen. Hier wurde er verbrannt und seine Asche dann in den nahen Yamuna-Fluss geschüttet.

Wir besuchen auch das Grabmahl von Humayun, das war der zweite Mogulherrscher, ein Gebäude aus rotem Sandstein, das später Vorbild war für die umgebenden Gebäude des Taj Mahal in Agra, erklärt Harsh. Und wir besuchen noch den Sikh-Tempel. Hier müssen wir natürlich die Schuhe, aber auch die Strümpfe ausziehen, und alle – auch die Männer – müssen ihr Haupt irgendwie bedecken. Dafür kann man sich ein kleines Kopf-Tuch ausborgen, mit dem man irgendwie blöd aussieht. Harsh gibt mir ein orangefarbenes, dann fällt mir aber ein, dass ich ja meinen Salwar Kameez an habe und meinen dazugehörigen Schal dafür nutzen kann. Aus wunderschön weißem Marmor sind die Gebäude rund um ein großes Wasserbecken, so groß wie eine Badeanstalt, hier allerdings nur für die Gläubigen zur rituellen Reinigung. Sikhs in weißen Gewändern mit dem traditionellen Dolch an der Seite gehen über den Platz. Schöne Männer. Ich sage zu Harsh, dass es schade ist, dass sie für die Frauenwelt verloren sind. „Nein“, meint er, „Sie können heiraten.“ Er ruft welche und bittet sie, sich von mir fotografieren zu lassen. Einer von Dreien entfernt sich, will das nicht, die anderen beiden lächeln mir in die Linse. Zu der Anlage gehören auch eine Großküche und ein Speisesaal, in dem Jung und Alt, Arm und Reich miteinander essen. Die Sikhs sind Anhänger einer Religionsgemeinschaft, die vor 500 Jahren im Punjab von Guru Nanak gegründet wurden. Die Religion ist ein Mix aus hinduistischen und islamischen Vorstellungen, monotheistisch und bildlos. Der Weg zur Erlösung führt über Meditation und Gotteshingabe und steht allen - unabhängig von Kaste (Gesellschaftsschicht), Rasse und Geschlecht - offen. Während der Mogulherrschaft waren die Sikhs blutigen Verfolgungen ausgesetzt. Mehr und mehr forderten sie einen eigenen Bundesstaat, fanatische Terroristen aus ihren Reihen gaben ihren Forderungen durch Gewalt Nachdruck. Als gemeinsames Zeichen der Wehrhaftigkeit führte der letzte Guru Gobind Singh die fünf K’s ein: ungeschnittenes Bart- und Haupthaar, Kamm, stählernes Armband, Kniehosen und Dolch. Als zwei Sikhs die damalige Ministerpräsidentin Indira Gandhi ermordeten, war es gänzlich vorbei mit dem angesehenen Bild der Sikhs, obwohl es Extremisten waren.

Da wir morgen schon wieder weiter fahren, laden Husni und ich unseren Reiseführer wenigstens noch zum Abendessen ein, denn er hat seine Sache gut gemacht und ich möchte so viel wie möglich erfahren über Indien und seine Menschen. Im Hotel kann man das eher selten. Es wird spät, als wir in unserem Hotelzimmer ankommen. Schnell noch Husnis und meine Fotos ins Netbook überspielen und von dort dann für Husni auch noch auf einen Stick, so sind unsere Schätze doppelt gesichert. Ich werde am letzten Tag noch zu spüren bekommen, wie sinnvoll es war, das Netbook mitzunehmen und konsequent jeden Abend die Fotos darauf zu beamen.


01 - Schuhe-Ausziehen vor jedem Tempel, ein Bewacher passt auf für 20 Rupees.


02 - Die Jami Masjid Moschee der Moguldynastie aus dem 17. Jahrhundert


03 - Salman passt auf den Sohn ihres Bruders auf.


04 - Das Grabmahl des Humayun, des zweiten Herrschers der Moguldynastie.


05 - Der Sikh-Tempel in Delhi mit einem Wasserbassin zur rituellen Reinigung.


06 - Zwei Sikhs posieren im Sikh-Tempel für ein Foto.


07 - Raj Ghat, die Gedenkstätte der Verbrennung von Mahatma Gandhi, ermordet 1948.


08 - Straßenszene in Alt Delhi

Saris, Götter, Sandokan - Ein Reisetagebuch

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