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Um die Morgenbesprechung in Gang zu bringen klatschte Gonzales in die Hände. „Wer hat etwas zu beichten, wer hat etwas mitzuteilen? Zum Ersten, zum Zweiten…?“

Die KollegInnen sahen ihn mit ausdruckslosen Gesichtern an und zuckten teilweise mit den Schultern. Das Ergebnis fiel ziemlich ernüchternd aus. Die Leute vom Nachtdienst hatten keine neuen Anhaltspunkte von dem oder den Entführern und auch nicht auf den Aufenthaltsort des Opfers gefunden. Auch der weiße Lieferwagen konnte nicht sichergestellt werden. Die erneute Auswertung der Überwachungskameras war ebenfalls ein Schlag ins Wasser. Sie hatten faktisch nichts, außer diesem Lüstling Pater Pius und das war vermutlich eine ziemlich dünne Fährte, wenn sie überhaupt eine war. Natürlich war es durchaus angebracht, auch Ordensleute zu verdächtigen, aber zumeist waren sie doch ehrbare Bürger, die sich hinter Klostermauern vor der rauen, lauten Welt versteckten und sie als ihre Schutzschilde benutzten.

Rodrigo sah in die Runde und fixierte kurz Lisa Willinger, deren Wangen sich abrupt dunkelrot färbten und der Kloß in ihrem Hals beinahe sichtbar wurde. Rodrigo gefiel es, sie mit einem einzigen Blick verlegen zu machen und lächelte innerlich. „Habt ihr gestern bei der Befragung der Hausbewohner auch daran gedacht, nach Fotos und Selfies, die zu dieser Zeit gemacht wurden, zu fragen?“

Lisa schluckte schwer und fixierte einen Punkt auf dem Boden vor ihren Füßen. „Nun… na ja….“

Mehr musste sie nicht sagen, denn ihre wenigen Worte sagten alles. Rodrigo atmete schwer aus. „Du weißt, was das heißt, muchacha“, sagte er mit selbstsicherer Stimme und wandte sich daraufhin sofort dem Kriminalpsychologen zu um seiner Kollegin keinen Raum für eine Antwort oder Frage zu lassen. Damit förderte er ihr eigenständiges Denken, denn er hasste es, für jeden einzelnen Kollegen das individuelle Kindermädchen zu spielen.

„Gibt es neue psychologische Erkenntnisse, die du uns präsentieren kannst? Wir bräuchten dringend etwas Greifbares. Der Fall ist im Moment noch ohne jegliche Substanz, wie ein Luftgebilde, absolut nicht greifbar. Hätte es nicht noch zwei Zeugen gegeben würde ich meinen, Frau Miller hat sich diese Entführung nur eingebildet und ihre Freundin vögelt gerade munter mit einem Priester, Bauarbeiter oder Arzt in der Gegend herum.“ Er schickte dem letzten Satz ein schwaches Lächeln nach, doch niemand im Team fand es wirklich witzig.

Dr. Gruber schüttelte den Kopf. „Dieser Fall ist wirklich sehr eigenartig, weil’s weder Motive gibt, noch geht es um Geld oder Einfluss. Ein gehörnter Ehemann lässt seine Frau normalerweise nicht entführen, damit sie sich wieder auf die Ehe besinnt. Er schlägt sie, droht ihr oder verlässt sie. Aber entführen? Das passt nicht. Noch dazu passt es nicht zu Toby Springer. Aber ich werde mich noch mal mit ihm unterhalten und ihm ein paar Fallen stellen. Mal sehen, ob er aus diesem Gespräch unbeschadet herauskommt.“

Das Team hatte zwar zugehört, ihm aber keine Ehrerbietung gezollt. Das war kein guter Tag für Hans Gruber.

„Okay“, sagte Rodrigo entschlossen und beendete damit die Informationsrunde. Er klatschte erneut in die Hände und erhob sich mit Schwung von seinem Stuhl. „Wir müssen uns bei diesem Fall eben noch mehr anstrengen als sonst. Einige von Euch wissen, was sie zu tun haben, die Restlichen bleiben hier und arbeiten an einem Brainstorming. Wir brauchen im Moment jede Idee und sei sie noch zu abwegig. Reißt Euch am Riemen, Leute, wir müssen Bell finden. Und zwar rasch und lebend.“

Lisa Willinger lehnte sich zu ihrem Sitznachbarn Kevin. „Gonzo ist heute wieder mal besonders lustig“, flüsterte sie ihm zu und sah ihn verschwörerisch an. Doch dieser hatte an Intrigen kein Interesse und stand auf, als hätte er ihre Worte nicht gehört. Er wollte sich nicht zwischen zwei Fronten werfen, denn das konnte echt fatal enden.

Rodrigo hielt seiner Truppe die Tür auf und verabschiedete sich von jedem; nur Kevin hielt er an der Schulter fest. „Du kommst mit mir ins Kloster und betest dort zehn Ave Maria. Ob du willst oder nicht“, scherzte er und warf seinen Kaffeebecher in den Recyclingbehälter. „Diese verfluchten Bastarde! Wer hat schon wieder eine Getränkedose in den Kaffeebecherbehälter geworfen? Ich werde eine Überwachungskamera installieren lassen, dann ist es mit dem Umweltschädigen vorbei!“, keifte er sichtlich ernsthaft böse.

Kevin sagte nichts. Er wusste, wann er bei seinem Chef besser den Mund halten sollte. Ging es um ein Menschenleben oder um die Umwelt, dann kam man ihm besser nicht zu nahe. Sonst konnte man mit dem großen Mexikaner über alles reden, diskutieren und ihn sogar attackieren. Das hielt er gut aus. Was er nicht aushielt, waren Unachtsamkeiten, Lügen und Umweltzerstörung.

Auf dem Weg ins Kloster wandte sich Kevin an seinen Boss. „Welchen Grund könnte es geben, der dich in diese altehrwürdigen Gemäuer treiben könnte? Für ein paar Jahre oder gar ein Leben lang.“

Rodrigo sah den jungen Kollegen nicht an. Er dachte nur an dessen Frage, Er starrte durch die Windschutzscheibe und ließ sich mit der Antwort ausreichend Zeit. „Der einzige und somit auch sehr schwerwiegende Grund wäre die Angst vor dem Leben. Klosterbrüder- und schwestern leben in einer heilen Welt, sofern sie sich nicht in die Mission sofern sie sich nicht in die Mission nach Afrika oder Asien begeben. Sie konfrontieren sich nicht mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich und sind somit einerseits keine gereiften Persönlichkeiten würde ich mal sagen.“

Kevin nickte. Eigentlich war diese Frage nur ein Denkanstoß für die Ermittlungsarbeit und keine persönliche Frage. Er wollte sich in das Leben der Klosterbrüder ein wenig hineinversetzen Rodrigo fand die Frage jedoch genial.

Wortlos parkte er den Wagen vor den alten Klostermauern und läutete an. Als hätte der Ordensbruder bereits hinter der Tür auf sie gewartet, öffnete er nur wenige Sekunden nachdem der letzte Ton verklungen war. Der ältere Pater hieß sie mit offensichtlich gespielter Herzlichkeit willkommen, als er die Dienstmarken sah und führte sie stumm durch mehrere Gänge.

Im Konvent herrschte Grabesstille. Die Kühle der dicken Mauern empfing die beiden Ermittler wie ein großes Tuch, die sie leicht fröstelten ließ. Rodrigo fragte sich, ob es bloß die Mauern waren, die die kühle Temperatur ausstrahlten oder nicht doch der Pater, der noch immer stumm vor ihnen ging.

Der Priester führte die beiden Ermittler in einen Besprechungsraum, der durchaus als Prunksaal durchgehen konnte. Rodrigo legte den Kopf in den Nacken und bewunderte sprachlos die farbenprächtige Decke sowie die dicken, goldenen Säulen und beneidete den Konvent um die prunkvolle Ausstattung. Mit Erstaunen betrachtete er die dicken, goldenen Säulen und beneidete den Konvent um die wertvollen Gemälde aus Öl, die vermutlich aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert stammten. Sein Besprechungsraum wurde vom ganzen Dezernat genutzt, war mit ein paar Stühlen und einem einfachen Metalltisch sehr spartanisch spartanisch eingerichtet und kahl. Dafür darf ich Sex haben, wann immer ich will, freute er sich insgeheim und war auch sofort etwas deprimiert. Obwohl er Sex haben durfte, hatte er keinen. Welche Verschwendung von Lebenszeit, dachte er betrübt.

„Worüber wollten Sie mit mir sprechen?“, fragte der Abt, der gleich neben der großen Tür stand und sichtlich auf die beiden Kriminalinspektoren gewartet hatte und riss Rodrigo aus seinem Gedankenspiel. Sofort spürte er die Hitze in seinem Gesicht und wusste, dass er dunkelrot angelaufen war. Er schämte sich, in heiligen Hallen und in Gegenwart eines Gottesmannes über Sex nachgedacht zu haben. Einen ganz kurzen Moment fürchtete er sogar, dass dieser seine Gedanken gelesen hatte.

„Wir würden uns gerne mit Ihnen über Pater Pius unterhalten und auch mit ihm persönlich sprechen, falls er im Haus ist. Der Mann am Telefon hat mir nämlich nur gesagt, ein Gespräch mit ihm wäre nicht möglich.“

Der Abt legte seinen Kopf schief und sah ihn an. „Pater Pius wurde vor einigen Wochen von unserem Herrn in seiner unendlichen Gnade abberufen. Er ist unwürdig von uns gegangen, aber wir behalten ihn dennoch in liebevoller Erinnerung. Dass wir nicht gerne über seine Person sprechen, werden Sie verstehen. Er möge in Frieden ruhen.“

Rodrigo sah ihn kurz ungläubig an, erhob sich jedoch sofort und reichte dem Abt die Hand. „Das tut mir aufrichtig leid, bitte entschuldigen Sie die Störung. Vielen Dank für Ihre Zeit. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.“ Rodrigo war unsicher, was man in einer solchen Situation zu einem so hohen Würdenträger sagte und fühlte sich plötzlich ziemlich unwohl.

In diesem Moment wandte sich Kevin mit ziemlich schroffer, selbstsicherer Stimme an den Abt. „Entschuldigen Sie bitte, aber wir haben noch ein paar Fragen, auch wenn er tot ist. Oder gerade, weil er tot ist.“

Rodrigos Kopf schnellte zu Kevin und er starrte ihn entrüstet an. Dann packte er ihn blitzschnell an der Schulter, drehte ihn zum Ausgang und schob ihn wortlos vor sich her.

Der Abt lächelte gekünstelt. „Grüß Gott, die Herren.“ Dann schloss sich auch schon das schwere Eisentor des Klosters hinter den Ermittlern und die heile Welt der Mönche war wiederhergestellt.

„Was sollte das jetzt werden?“, keifte Rodrigo seinen Kollegen an. Versuch’ mal, ein Auto mit einem Zahnstocher zu knacken. Das ist das gleiche hirnrissige Vorhaben wie den Abt unter Druck setzen zu wollen. Du musst abschätzen können, wo Druck angebracht ist und wo nicht. Hier jedenfalls nicht!“

Er stieg ins Auto und schnitt Kevin gleich das erst Wort ab, als dieser Luft holte um etwas zu entgegnen oder sich zu rechtfertigen. „Wenn es um die Ehre der Kirche und seiner Mitbrüder geht, kannst du Druck vergessen. Die Gottesmänner setzen alles daran, ihren weißen Schein zu wahren. Wir müssen an die Sache mit Pater Pius anders herangehen. Wie, weiß ich allerdings noch nicht, aber wir werden einen Weg finden. Hätten wir jetzt Druck auf den Abt ausgeübt, wären vermutlich all die anderen Wege für die Zukunft versperrt gewesen.“

Er startete den Wagen und fuhr los ohne seinen Partner anzusehen. Kevin sank auf dem Beifahrersitz zusammen und dachte über die Worte seines Chefs nach. Doch noch ehe er entschieden hatte, ob er seiner Meinung nach recht hatte oder nicht, hob dieser schon wieder den Zeigefinger und fuchtelte damit vor seiner Nase herum.

„Und außerdem können wir uns eine Dienstaufsichtsbeschwerde nicht leisten. Heutzutage beschwert sich doch gleich jeder über uns, wenn wir unsere Arbeit gewissenhaft machen.“ Er schnaubte, denn beim letzten Fall hatte es mehrere solcher Beschwerden gegeben und er hatte sogar die Innenrevision wegen einer seiner Mitarbeiterinnen am Hals. Die Zeiten waren auch für Bedienstete der Kriminalpolizei sehr hart geworden.

Kevin wollte schon seine Meinung äußern, behielt sie aber lieber für sich. Er würde erst dann wieder reden, wenn Gonzales das Thema gewechselt hatte. Diese Taktik hatte sich auch bei seiner Freundin als goldener Weg bewährt.

Während sich die beiden die Abfuhr des Abtes geholt hatten, führte Dr. Hans Gruber das zweite Gespräch mit dem Ehemann des Entführungsopfers. Er fühlte ihm wegen einer möglichen Beteiligung oder wegen einer Auftragserteilung an jemand Dritten kräftig auf den Zahn. Er formulierte bereits gestellte Fragen um und überprüfte sehr genau, ob die Antwort mit der letzten übereinstimmte. Er nahm ihn in die Zange und drehte ihn so lange durch die Mangel, bis er geistig erschöpft war. Hans war nun klar, dass Toby nichts mit der Entführung zu tun haben konnte. Und er wusste auch, dass es im Ehebett schon des längeren nicht mehr stimmte. Er verhielt sich nach eigener Aussage für den Geschmack seiner Ehefrau viel zu gehemmt und sie meinte, in ihrem Leben etwas Essenzielles zu versäumen. Sie war der Typ Abenteuer, er der Typ Hamsterrad. Damit war der Hintergrund ihrer Seitensprünge und Affären geklärt, jedoch nicht der Hintergrund ihrer Entführung. Hans bedankte sich bei Toby und verspürte bei der Verabschiedung noch immer dieses wohlbekannte, leichte Kribbeln im Schritt. Das sexuelle Versagen des Ehemannes hatte ihm ein Gefühl der Überlegenheit gegeben und somit auch schon wieder den Tag versüßt. Bestens gelaunt verließ er das schmucke Vorstadthaus mit dem gepflegten Garten und fuhr zurück ins Dezernat um dort seinen Bericht über diese Befragung zu verfassen

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„Darf ich dich etwas ganz Persönliches fragen?“ Kevin sah seinen Boss nicht an, sondern starrte nur durch die Windschutzscheiben.

Rodrigo schnaufte. „Frag mich und du wirst sehen, ob du eine Antwort oder meine Faust auf deine Nase bekommst“, bellte er lachend und fand den Witz so gelungen, dass er mit seinen Händen aufs Lenkrad trommelte. Kevin hingegen fühlte sich davon etwas eingeschüchtert.

„Na dann lieber nicht. Meine Freundin steht nämlich auf meine fein geschnittene Nase edelster Herkunft!“, konterte er und lächelte.

„Wieso sprichst du eigentlich unsere Sprache so gut? Beinahe akzentfrei. Nur wenn du wie ein alter Seebär fluchst, kommt der mexikanische Akzent so richtig deutlich zu tragen.“

Kevin hielt sich schützend beide Hände vor die Nase und ging auf dem Beifahrersitz in Deckung.

„Meine Großeltern sind in jungen Jahren hierher ausgewandert, waren aber nach Mexiko zurückgekehrt als die Nazis begonnen hatten, ihr Drittes Reich zu gründen, sagen wir mal so. Meine Eltern zogen mich und meine Schwester Lucìa spanisch auf, unsere Großeltern sprachen Deutsch mit uns. Lucìa hat sogar Deutsch und Spanisch studiert und ist Lehrerin geworden. Nur ich war zu doof um diese grandiose Grundlage beruflich zu nutzen. Ich bin eben ein burro estùpido, ein dummer Esel.“

„Die meisten von uns sind froh, dass du ein burro estùpido bist. Wer weiß, wen sie uns sonst als Boss vor die Nase gesetzt hätten. Vielleicht den launischen Friedman von der Sitte, der auf jeden Chefsessel so scharf ist wie eine Schlange auf eine fette Ratte. Oder diese altbackene Klaringer, die eine ganze Minute braucht um eine Antwort auf eine noch so simple Frage zu geben. Oder…“

„Ruhe!“, unterbrach ihn Rodrigo schroff und drehte das Autoradio um einige Stufen lauter.

„Die Vierunddreißigjährige wurde gestern am frühen Vormittag auf offener Straße in einen weißen Lieferwagen unbekannter Marke gezerrt und seither fehlt von ihr jede Spur. Falls jemand den Vorfall beobachtet hat und von der Polizei noch nicht vernommen wurde, der möge sich bitte dringend bei der nächsten Polizeidienststelle oder unter der Nummer 0555/23896 melden. Und nun zum Wetter. Die Aussichten für…“

Rodrigo drehte wieder leiser und nickte zufrieden. Er hatte den kurzen Text gestern an die interne Pressestelle weitergegeben um noch weitere potenzielle Zeugen zu gewinnen. Irgendjemand sieht immer irgendetwas…

Kevin sah Rodrigo skeptisch an. „Jetzt werden sich wieder die ganz Wichtigen melden und dem Telefondienst die Zeit stehlen“, seufzte er. Rodrigo zuckte mit den Achseln, entgegnete aber nichts. Kevin war mit seinen zweiunddreißig Jahren lang genug bei seiner Truppe um zu wissen, wie es für gewöhnlich lief und dass die meisten Anstrengungen umsonst waren.

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