Читать книгу Todesvoting - Karin Szivatz - Страница 8
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ОглавлениеNelson-Mandela-Straße, 11 Uhr. Der Verkehrsfluss ist ruhig, keine Besonderheiten auf der Straße oder in den zahlreichen Wohnanlagen. Eine ältere Dame schlendert gemächlich auf dem Gehweg dahin, ihre Einkaufstasche in der linken Ellenbeuge. Sie geht gerne einkaufen, denn dann ist sie nicht allein und einsam in ihrer leeren Zweizimmerwohnung. Vor sich sieht sie einen Einkaufswagen, der quer über dem Gehsteig steht und nur links davon einen schmalen Streifen zum Vorübergehen freilässt. Sie würde ihn der Länge nach hinstellen müssen, um besser daran vorbei zu kommen. Sie fixiert das Hindernis vor sich und beobachtet aus dem Augenwinkel einen Mann, der nur noch wenige Meter bis an den Punkt X hat. Der Mann vor ihr greift jedoch nicht wie erwartet zum Einkaufswagen um ihn aus dem Weg zu räumen, sondern geht einfach links an ihm vorbei, steigt aber nicht auf die Straße hinunter. Nun fixiert sie ihn und grollt ein wenig, weil er ihr die Arbeit überlassen hatte. Doch in genau diesem Moment fährt ein weißer Lieferwagen dicht an den Gehsteig, die Tür schiebt sich mit einem lauten Rollgeräusch nach hinten auf. Ein großer Mann, ganz in schwarz gekleidet, setzt ein Bein hinter den Mann auf dem Gehsteig, packt ihn am Brustkorb und wirft ihn mehr oder minder in den Wagen. Noch während der Fußgänger ins Innere fliegt, schert der Kleintransporter aus und fädelt sich wieder in den losen Verkehr ein. Die ältere Dame hört keine quietschenden Reifen, sondern nur noch das leise, metallene Geräusch der Seitentür, die kraftvoll geschlossen wird.
Sie bleibt stehen, achtet weder auf den Einkaufswagen auf dem Weg noch auf ihre volle Einkaufstasche, die ihr vom Ellbogen gleitet und auf den Gehweg fällt. Der Joghurtbecher platzt im Inneren auf, doch auch das registriert sie noch nicht. Sie sieht nur, dass sich der Lieferwagen im gemäßigten Tempo von ihr entfernt und auf den Kreisverkehr zuhält.
Da beginnt sie zu schreien, rudert mit den Armen und muss sich am Zaun festhalten, um nicht umzukippen. „Hilfe! Entführung! Ruft die Polizei! Himmel, da wird gerade ein Mann entführt! So helft ihm doch!“
Eine junge Frau schießt mit ihrem Kinderwagen aus dem Spielplatz heraus direkt auf die alte Dame zu. Sie hat bereits ihr Handy gezückt und den Notruf gewählt.
„Sind sie sicher?“, fragt sie hektisch und viel zu laut. Die zitternde Dame am Gartenzaun nickt heftig. „Ja, aber ja doch!“, ruft sie aus. Das Adrenalin pumpt beinahe pur in ihren Adern und lässt sie heftig keuchen.
Innerhalb nur weniger Sekunden strömen Menschenmassen aus den Kaufhäusern, den Wohnungen und dem Bürogebäude, um die Entführung live mit zu erleben. Doch sie kommen genauso zu spät wie die alarmierte Polizei. Sie sehen nur noch die ältere Dame, die jemand auf den umgedrehten Einkaufswagen gesetzt hat, damit sie nicht umkippt. Ein junger Mann mit langer Schürze trabt mit einem Glas zuckerhältigen Limonade aus der Bar und reicht es ihr. „Das wird Ihnen guttun. Trinken Sie!“, forderte er die Dame auf und sie setzte ihre faltigen, leicht zitternden Lippen an den Rand des Glases.
Kurz danach ist der Tatort abgesperrt, die Spurensicherung verständigt und die Dame auf dem Weg zum örtlichen Polizeirevier. Die Schaulustigen werden gebeten, sich zu melden, wenn sie irgendetwas gesehen oder gehört haben oder wieder zu gehen, wenn sie keinen Beitrag zur Klärung des Falls leisten können. Wenige Stunden später ist der Tatort wieder ein ganz normaler Gehweg neben einer ganz normalen Straße und einem ganz normalen Zaun. Nur das Leben des entführten Mannes hat sich soeben schlagartig geändert.