Читать книгу 7 Engel - Karin Waldl - Страница 8
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Kapitel 1
Tropfen rannen vom Fensterbrett auf das gemaserte Eichenparkett. Elina Mercy schaute von ihrem Buch auf. Der Sommer zeigte sich nicht gerade von der besten Seite, schier endlos erscheinende Regengüsse breiteten sich seit Tagen über das Land aus. Nicht dass dieses Unwetter, das draußen tobte, schon genug wäre, jetzt war auch noch das Fenster undicht, aufgeweicht von den Unmengen an Wasser. Schnell holte sie ein Handtuch, um das Rinnsal zu hindern, weiter auf den Boden zu laufen.
Unterdessen ratterte in ihrem Kopf der Zahlencomputer – woher sollte sie das Geld für die kostspielige Reparatur nehmen? Gestern erst hatte sie den Handwerker für die Arbeiten am Dach bezahlt, abgestottert von ihrem bescheidenen Einkommen.
Verdammt, es war die wärmste Zeit des Jahres, warum musste gerade jetzt die Sanierungsbedürftigkeit des Hauses vom Regen aufgedeckt werden? Konnte es nicht noch ein paar Monate warten, bis es in sich zusammenfiel? Die schlimmsten Befürchtungen malten gedanklich ein Bild ihrer finanziellen Ängste.
Was hatte sie sich dabei gedacht, das nett gemeinte Angebot ihrer Schwester anzunehmen, die für ein Jahr nach Kanada gereist war? Ruth war gerade einen Monat außer Landes und Elina fiel bereits die Decke auf den Kopf, die Einsamkeit hüllte sie ein und hielt sie fest. Niemand war da, um ihr zu helfen. Und jetzt kamen auch noch die Sorgen um das liebe Geld dazu.
Achtzugeben auf das kleine Landhaus in dem romantischen Städtchen Sevenoaks, gelegen in ihrer Heimat England, war die eine Sache, es instand zu halten, die andere. Sie hatte vergessen, daran zu denken, die finanziellen Angelegenheiten vor deren Abreise mit Ruth zu klären.
Ihre Schwester würde für die Arbeiten am Haus selbstverständlich aufkommen, aber sie war in Vancouver und Elina müsste das Fenster vorerst selbst bezahlen, wenn sie einen größeren Wasserschaden verhindern wollte.
Sie begab sich zum Schreibtisch, setzte sich an den Computer und verfasste eine lange E-Mail an ihre Schwester. Was blieb ihr anderes übrig? Sie konnte ihre Chefin nicht um einen Vorschuss bitten, dafür war diese zu korrekt. Bezahlt wurde grundsätzlich, was sie leistete, pünktlich und genau, zu jedem Monatsende. Darauf konnte man sich hundertprozentig verlassen, was in den meisten Fällen ein großer Vorteil war.
Außerdem war es nicht Elinas Art, Geld auszugeben, das sie nicht besaß. Sie hoffte, möglichst schnell eine Lösung für die fällige Reparatur zu finden. Sie drückte auf Senden und kaum fünf Minuten später erhielt sie eine eilig geschriebene Antwort, Ruth arbeitete anscheinend.
Liebe Elina!
Es musste ja so kommen, wie konnte mir nur entfallen, dir einen Notgroschen für solche Fälle dazulassen? Es tut mir leid, verzeihst du mir? Ich überweise dir sofort einen Teil meines Ersparten auf dein Konto. Das Geld, welches dir übrig bleibt, verwende für zukünftige Arbeiten am Haus. Leg es am besten auf ein Sparbuch.
Ich muss wieder an meinem Artikel weiterarbeiten, Abgabe morgen!
Ich vermisse dich.
Bis bald, deine Ruth
Sie machte sich schon wieder unnötig ein schlechtes Gewissen. Genau das wollte Elina eigentlich verhindern. Ruth war wie eine Mutter geworden, seitdem sie nicht mehr da war. Sie fühlte sich für Elina verantwortlich. Bevor sie abreiste, war ihre größte Angst gewesen, dass ihre Schwester nicht auf eigenen Beinen stehen konnte. Elina wollte ihr das Gegenteil beweisen, weshalb es nun so unangenehm für sie war, sie um das Geld zu bitten. Egal, wenigstens war das finanzielle Problem gelöst.
Nachdem sie ein paar Worte des Dankes an ihre Schwester gerichtet hatte, schaltete sie den Laptop aus und trat ans Fenster. Seufzend sah sie nach draußen, dunkelgraue Wolken verdunkelten den Himmel, grau in grau spiegelte sich die Welt in Elinas Augen. Sie vermisste Ruth, ihre Vertraute und Freundin, seit sie denken konnte. Doch sie wollte nun ihren eigenen Weg gehen, lange genug war sie Elinas Mutterersatz gewesen, aber sie brauchte jetzt keinen Aufpasser mehr. Wenn sie doch nur irgendeinen anderen Menschen kennen würde, der ihr Gesellschaft leisten konnte.
Elina verschlang jedes Buch, das sie in die Finger bekam. Fast in ihrer gesamten Freizeit steckte sie die Nase in die fantasievollen Erzählungen der verschiedenen Autoren. Doch sie wusste, die Geschichten in ihren Büchern, in die sie so gerne flüchtete, waren nicht real. Sie träumte sich in die Figuren hinein, lebte deren Leben, löste ihre Probleme und genoss das Happy End in vollen Zügen. Sobald sie ein Buch weglegte, musste sie sich wohl oder übel der Wirklichkeit stellen, auch wenn es ihr gar nicht gefiel, in das triste Hier und Jetzt zurückzukehren. Kein Prinz wartete auf sie, um sie zu retten. Während sich bei Elina das Gedankenkarussell unaufhörlich weiterdrehte, vernahm sie ein ohrenbetäubendes, lautes Geräusch – direkt vor ihren Augen breitete sich ein gleißendes Licht im Garten aus. Geblendet wendete sie sich reflexartig ab. Vor Schreck taumelte sie, der Stuhl, an dem sie Halt suchte, fiel zu Boden. Elina verlor das Gleichgewicht und krachte mit dem Kopf an den massiven Nussholztisch, an dem sie vor wenigen Augenblicken noch gelesen und mithilfe des Laptops E-Mails geschrieben hatte. Das Dröhnen des Aufschlags war abscheulich. Dunkelheit nebelte sie ein, bewusstlos lag sie am Boden.
„Elina, steh auf und geh in den Garten!“
Sie blinzelte, schaute sich verstört im Raum um. „Wo bin ich? Wer hat mit mir gesprochen?“, kam es ihr in den Sinn.
Sie schüttelte den schmerzenden Kopf, um wieder klar denken zu können. Das war keine gute Idee, das Brennen kehrte mit einem Schlag zurück. Im ersten Moment wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen, warum sie hingefallen war. Außerdem war da noch etwas, das für einen Augenblick vernebelt in ihren Gedanken herumschwirrte. Versuchte da nicht jemand, ihr etwas mitzuteilen? Aber es war niemand hier. War es nur Einbildung gewesen?
Erst jetzt bemerkte Elina die Beule an ihrem Kopf, von der dieses schmerzhafte Pochen ausging. Sie schaute zu dem schweren dunklen Holztisch und konnte sich schlagartig an den Blitz erinnern, der scheinbar in den Apfelbaum vor dem Haus eingeschlagen hatte. Schnell rappelte sie sich auf, einen weiteren Schwindelanfall niederkämpfend, und wankte zum Fenster.
Das war es doch, was die Stimme zu ihr gesagt hatte, sie sollte in den Garten schauen. Und das, was sie sah, führte beinahe zu einem weiteren Sturz. Keuchend versuchte sie, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, und stürzte los. Sie rannte nach draußen, ihre Beine fühlten sich wie Blei an. Nach wenigen Schritten waren ihre Kleider durchtränkt vom strömenden Regen.
Ihr Blick fiel verwundert auf den Apfelbaum, der kerngesund und kaum beschädigt dem Wind trotzte. Unter dem Baum lag ein lebloser Körper, Elina zitterte vor Angst, als sie sich über ihn beugte. Er schien zu leben. Vorsichtig legte sie jeweils eine Hand auf die Schulter und Hüfte der Person, drehte sie zu sich, ihr Gesicht war nun ihr zugewandt. Elina stockte der Atem, noch nie war sie in ihrem Leben von solcher Schönheit geblendet worden. Dabei konnte sie nicht einmal erkennen, ob das Wesen vor ihr männlich oder weiblich war. Sie wusste plötzlich, dass sie keinen Menschen vor sich hatte, ein beruhigendes Gefühl von tiefem Frieden umfing sie, als die Gestalt, die sie in ihre Arme zog, aufstöhnte.
Kurz darauf öffnete die Kreatur die Lider und sah Elina an, die ihren Blick abermals abwenden musste, denn die fremden Augen hatten das Leuchten, den Glanz und das Blau von Saphiren. Ihr Herz wurde von solch überwältigender Liebe erfüllt, dass Elina glaubte, es müsse bersten, hatte sie doch noch nie in ihrem Leben so intensiv empfunden. Dieses Gefühl hatte nichts mit der Liebe zwischen Mann und Frau zu tun, es war allumfassend.
„Elina, kannst du mir helfen?“
Wieder diese Stimme, diesmal aus dem Mund dieses unbekannten Individuums. Elina besann sich, warum sie hinaus in das Gewitter geeilt war, half dieser Schönheit aufzustehen, stützte sie mit ihrem Körper und gemeinsam schleppte sich dieses ungleiche Paar ins Haus.
Im Wohnzimmer legte sie das Wesen auf das Sofa, holte ein Glas Wasser und ein paar Handtücher, um ihrem Gast eine Unterkühlung durch die regennassen Kleider zu ersparen.
„Danke, Elina, aber ich bin nicht mehr nass. Doch das Glas Wasser würde meinen Durst sicher stillen.“
Elina blieb mit offenem Mund stehen und reichte ihm – oder ihr – das Wasserglas.
„Tut mir leid, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe, mein Name ist Malak. Ich bin verletzt und brauche deine Hilfe.“
Elina wäre am liebsten im Boden versunken, weil sie aus dem Staunen nicht mehr herauskam, anstatt das Wesen mit dem Namen Malak zu verarzten. „Wo bist du verletzt?“, kam es schuldbewusst über ihre Lippen.
„Mein Bein“, stöhnte der Gast abermals auf.
Elina untersuchte die verletzte Stelle und konnte sich erneut nicht von der Schönheit dieser fast elfenbeinfarbenen, schimmernden Haut lösen. Doch dort, wo sich bei Menschen das Knie befand, war ein tiefgrüner, handflächengroßer Fleck, der besorgniserregend wirkte. Elina teilte Malak ihre Beobachtung mit. Das unbekannte Wesen schloss die Augen und murmelte etwas vor sich hin, das sie nicht verstehen konnte. Sie musste wohl oder übel auf eine Erklärung warten, sofern ihr Gast sie ins Vertrauen ziehen wollte.
Als Malak seine Augen wieder öffnete, fragte Elina, die vor Neugier fast platzte: „Was bist du?“
„Ein Abgesandter, ein Bote Gottes, ein Engel, wie ihr Menschen zu sagen pflegt“, folgte als Antwort.
Elina kniff die Augen zusammen. War sie wieder in einem ihrer Romane gelandet? Nein, er war noch immer da, als sie es wagte, abermals hinzusehen. Geduldig wartete der Engel, bis sie wieder bereit war zu sprechen.
„Aber was machst du hier?“, wollte Elina von dem göttlichen Boten wissen.
„Das kann ich dir nicht sagen.“
„Oh.“ Elina war enttäuscht und vergaß dabei völlig, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt die Existenz von Engeln oder anderen übernatürlichen Absurditäten vehement angezweifelt hatte. „Was hast du vorher getan, als deine Augen geschlossen waren?“
„Gebetet“, sprach Malak mit sanfter Engelsstimme.
„Warum?“, fragte Elina verwirrt.
Malak deutete auf sein Bein, das nun unerklärlicherweise ohne Makel war. Das konnte unmöglich sein, Elina hatte das, was sie für eine Art von Bluterguss hielt, gesehen. Wie konnte das so schnell verheilen?
„Gott hat mich geheilt. Danke, Elina, ich muss dich jetzt verlassen, aber ich weiß, dass wir uns wiedersehen werden. Du bist Teil des göttlichen Plans.“ Elina verstand nicht, was der Engel ihr mitteilen wollte, doch bevor sie noch eine ihrer brennenden Fragen loswerden konnte, war Malak schon verschwunden. Verwirrt griff die Frau an ihre Beule, der Schmerz breitete sich bereits über die Halswirbel und die Schultern aus.
Sie bewegte eine Frage: Warum kannte der Gottesbote ihren Namen? Doch da fiel ihr der Lieblingspsalm ihrer Mutter ein, die leidenschaftlich gerne in der Bibel gelesen hatte. Elina konnte nur mehr einzelne Bruchstücke in Gedanken wiedergeben, wie umherschwirrende Schmetterlinge flogen sie wirr durch ihren Kopf. Wer unter dem Schutz des Höchsten wohnt, der kann bei ihm, dem Allmächtigen, Ruhe finden. Auch ich sage zu Gott, dem Herrn: „Bei dir finde ich Zuflucht, du schützt mich wie eine Burg! Mein Gott, dir vertraue ich!“
Und dann war da noch etwas mit Engeln. Denn Gott hat seine Engel ausgesandt, damit sie dich schützen, wohin du auch gehst.
Und irgendetwas, was mit dem zu tun hatte, dass Malak ihren Namen kannte. Gott sagt: „Er liebt mich von ganzem Herzen, darum will ich ihn retten. Ich werde ihn schützen, weil er mich kennt und ehrt. Genau, das waren die Worte ihrer Mutter: „Gott kennt meinen Namen.“ Zu absurd klangen diese erdachten Worte, hatte sie doch schon vor langer Zeit dem Glauben ihrer geliebten Mama abgeschworen, denn er bereitete ihr nur Kummer und Leid.
Elina verspürte den Drang, sich erneut ihrer Schwester anzuvertrauen. Sie schaltete den Computer ein und schilderte, was sich gerade in Ruths Heim zugetragen hatte. Als sie erneut ihre Zeilen überflog, klang das, was sie schrieb, zu unglaublich. Ruth würde sich große Sorgen machen, dass Elina verrückt geworden wäre. Nein, das konnte sie ihr nicht antun, sie wollte schließlich zeigen, wie erwachsen sie sein konnte. Sie trug die volle Verantwortung für ihr Leben. Punkt. Sie drückte auf Löschen und klappte den Laptop zu. Es war besser, nicht darüber zu sprechen.