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Entfremdungen

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Sie beobachtete seine Karriere und die Veränderungen, die sie in ihm zeitigte, mit einer leicht ironischen Verschmitztheit, und ein sanfter Spott stand in ihren Augen, wenn sie Zeugin wurde, wie er sich mal wieder recht wichtig vorkam. Jedoch sah sie ihm seine Inkonsequenzen nach und seinen Abfall vom einst selbstgewählten Glauben um seiner jungenhaften Freude am Erfolg willen, die sie liebte und die sie ein wenig rührte. Trotz aller seiner Überlegenheiten und ihrer Schwächen kam er ihr in solchen Momenten heimlich viel weniger erwachsen vor als sie selbst.

Am Rande hatte auch sie ein wenig Anteil an seinem Lebensstandard. Da war natürlich die Wohnung, in der sie sich viel öfter zu zweit aufhielten als in ihrer kleinen Altbaudachwohnung, in die sie noch gegen Ende ihres Studiums gezogen war, und die sie um kaum etwas in der Welt aufgegeben hätte. Auch begleitete sie ihn, sooft er sie dazu überreden konnte, zu seinen gesellschaftlichen Anlässen - fühlte sich dabei wie „die Kröte aus dem anderen Brunnen“, langweilte sich schrecklich, hoffte, dass niemand das merken würde, und bemühte sich nach Kräften, bei Smalltalk und Fachgesimpel nicht allzu auffällig zu versagen; bewunderte Max für seine souveräne Art, sich in diesem Milieu zu bewegen, und war aber heilfroh, wenn sie das alles hinter sich lassen und zusammen nachhause gehen durften. Und, wenn sie es sich selbst ganz ehrlich eingestand, war sie manchmal erst dann richtig erleichtert, wenn sie wieder allein zurück in ihrer Wohnung war und ein wenig Erholung von Max und seiner Welt bekam.

Sie ihrerseits fristete ihr Dasein nach wie vor aus ihrer Arbeit im Weltladen. Ergänzt wurde ihr bescheidenes Gehalt aus einer Quelle, zu der sie damals einigermaßen unverhofft und zu ihrer nach wie vor anhaltenden eigenen Verwunderung gekommen war: Während ihres Studiums der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte hatte sie nebenher praktische Kurse in Zeichnen und Malen besucht. Schon als Kind war das eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen gewesen, und sie hatte sich dabei nicht ganz ungeschickt angestellt. Nun wollte sie dieses kleine Talent ein wenig kultivieren und Einblicke gewinnen in die Tricks und Kniffe der Kunst. Irgendwann einmal sprach eine Freundin sie an: die hatte eine Idee zu einem Kinderbuch und wollte, dass sie die Illustrationen dazu machte! Zunächst traute sie sich so etwas überhaupt nicht zu - „ich stümpere doch nur so ein bisschen herum!“ Das solle sie ruhig mal ihre Sorge sein lassen, meinte Sabine, die sie schließlich dazu überreden konnte, es wenigstens zu versuchen, und am Ende entpuppte sich die Geschichte zu einem richtigen Glückstreffer: Nicht nur, dass es einen Heidenspaß machte, das Buch mit der Freundin zusammen zu konzipieren, ihre Phantasie und ihr Geschick auf ein Ziel gerichtet einzusetzen und schließlich ein rundes Ganzes als Ergebnis in der Hand zu halten; Sabine schaffte es auch, das Buch bei einem guten Verlag zu platzieren und erwies sich auch noch als geschickt im Aushandeln der Konditionen für sie beide. Das kleine Werk kam gut an, und sie machten noch eine Fortsetzung dazu, die sich ebenfalls gut verkaufte. Diese Aktion lag nun schon Jahre zurück. Die Freundinnen hatten sich inzwischen längst so ziemlich aus den Augen verloren, Sabine war zunächst in eine andere Stadt, dann ins Ausland gezogen, hin und wieder ging einmal ein Lebenszeichen in die eine oder andere Richtung, oder sie hörte durch gemeinsame Bekannte von ihr. Was aber blieb, war eine halbjährlich eintreffende Abrechnung des Verlags und eine hochwillkommene Einzahlung auf ihr Konto.

Sie selbst war eigentlich immer zufrieden damit gewesen, wie sich ihre materiellen Umstände gefügt hatten. Sie hatte ihr Auskommen, ihre geliebte kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in dem Altbauviertel mit Gärten und schönem altem Baumbestand, mit Glück erwischt in einer Zeit, in der die Mieten noch nicht in die Höhe geschossen waren; sie brauchte sich selten einen ihrer bescheidenen Wünsche zu versagen. Und vor allem: Sie hatte Zeit, ein Gut, das ihr kostbarer war als jedes schicke Kleid oder teure Paar Schuhe, das sie sich mit ihrem Einkommen nicht hätte leisten können.

Max allerdings konnte sich nie richtig damit abfinden, dass sie so gar keine Anstrengungen für eine Karriere unternahm. Immer wieder hatte er sie auf interessante Stellenangebote hingewiesen, sie gedrängt, sich zu bewerben. Sie hatte sich die Anzeigen angesehen, versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, einen solchen Job zu haben, gespürt, dass sie eigentlich keine Lust hatte, für gerade diese Arbeit ihr gewohntes Leben aufzugeben, und wenn sie sich nicht sowieso direkt gegen eine Bewerbung entschieden hatte, ließ sie meist die gesetzten Fristen verstreichen - bis sie irgendwann mit einigem Recht Max entgegenhalten konnte, wenn er wieder mal einen „Superjob“ gesehen hatte, jetzt sei sie ohnehin zu alt, um so ganz ohne einschlägige Erfahrungen überhaupt in Betracht zu kommen.

Sicherlich war dies der Punkt, wo sie sich am fremdesten waren. Häufig wunderte sie sich sogar selbst im Stillen darüber, dass Max sie nicht schon längst abserviert hatte wegen einer der interessanten und attraktiven Frauen, ehrgeizig und erfolgreich, die er in seinem Berufsalltag ständig traf. Vorläufig aber schien es, als habe ihre Liebe, ungeachtet all der Entfremdungen, die Haltbarkeit der Gewohnheit und des unhinterfragten Zusammengehörigkeitsgefühls angenommen. Und wenn auch Max allzu gerne „etwas aus ihr gemacht“ hätte, sie sich also offensichtlich in bestimmter Hinsicht anders wünschte, so mochte schließlich doch eine gewisse Anhänglichkeit zu ihren Einstellungen und Vorlieben in irgendeinem, sogar ihm selbst verborgenen, Winkel seiner selbst überlebt haben. Das war zwar keine Garantie für alle Zeiten, wie sie aus vielen Beispielen im Freundeskreis wusste, aber bislang schien es auszureichen.

Wenn nun Max an ihr immer wieder starke Seiten zu beobachten meinte - ob sie ihm mit dem Abfassen irgendeines Textes ausgeholfen hatte, ob er bei seinen seltenen Besuchen in ihrer Wohnung gelungene neue Skizzen und Bilder entdeckte oder aber sie in einer Diskussionsrunde nach langem schweigendem Zuhören mit eher scheuer Stimme einen bisher unbeachteten Aspekt zu bedenken geben hörte – Stärken, die ihn schier zur Verzweiflung brachten, weil er sie für ungenutzt, also verschwendet, hielt; so war sie sich heimlich dessen bewusst, dass sie sich mit der Verteidigung ihres Freiraums eigentlich auf verlorenem Posten befand. Hatte doch auch sie nicht vorgehabt, einen Minimalaufwand zur Lebenserhaltung zu betreiben, um den Rest der Zeit verbummeln zu können. Auch sie wollte ja etwas machen, nicht so sehr aus sich selbst wie vielmehr aus ihrem Leben. Bloß, es war so furchtbar schwer herauszufinden, wie das aussehen sollte. Sie wusste lediglich, wenn sie sich auf die Beanspruchungen eines „ausgewachsenen“ Berufes einließe, bliebe ihr keine Zeit mehr, das je noch zu ergründen. Und doch war in all den Jahren nichts weiter herausgekommen, als dass sie ihre kostbare Muße verzettelt hatte zwischen wirklichen oder vermeintlichen Verpflichtungen anderen – ihrem Arbeitgeber, Max, ihrer Familie – gegenüber, auf der anderen Seite halbherzigen Experimenten mit ihrer Zeichenkunst (von der sie inzwischen aber sicher war, dass ihr Talent weder unter dem Gesichtspunkt der Markttauglichkeit noch unter dem ihrer eigenen Ausdrucksbedürfnisse genügte, um ihre Berufung daraus zu machen), und mit verschiedenen anderen Ideen, die sie nach und nach alle wieder auf sich hatte beruhen lassen. So hatte schon einige Male nicht viel gefehlt und sie hätte sich von Max’ Argumenten überreden lassen. Da war das Gefühl, ihre Sturheit auch vor sich selbst fast nicht mehr rechtfertigen zu können; fast ein schlechtes Gewissen (wem gegenüber eigentlich: sich selbst, den Eltern, „der Gesellschaft“?), sich immer noch jedem Sich-Dreinschicken zu verweigern, nachdem sie offenkundig doch so wenig mit ihrer dem Werte-Mainstream abgetrotzten Freiheit anfangen konnte. Da war aber auch eine gewisse Ermüdung, ein Wunsch, die Anspannung der Kräfte, die notwendig war zu dieser Verweigerung und dieser Verteidigung, schießen zu lassen, die ewige innere Haltung des Suchens, des Zweifelns, der Selbstrechtfertigung aufgeben zu dürfen und sich einfach einzugliedern.

So weit, diese Regungen zu formulieren und zuzugeben, war sie allerdings bislang noch nicht gegangen. Jedes Mal noch waren dann doch Visionen aufgetaucht, die sie davon abhielten, Erinnerungen an Momente, wie sie ihr von Zeit zu Zeit geschenkt wurden: Da sah sie sich in ihrem Arbeitszimmer, vor ihrer ans Fenster gerückten Staffelei, hin und wieder die Augen ausruhend mit einem Blick nach draußen auf ein Stück Himmel, ein Stück Gartengrün, ein Stück Hausfassade mit Balkonblumen und wehender Gardine, ansonsten völlig selbstvergessen auf den Vorgang des Gestaltens konzentriert; oder am Schreibtisch, um den angemessenen Ausdruck einer Erfahrung, eines Erlebnisses oder eines Gedankens bemüht; oder auch nur grübelnd und sinnierend in Anschauung versunken und plötzlich überzeugt, einen Fund gemacht zu haben, der ihr golden entgegenzuschimmern und würdig schien, geborgen zu werden: und sie erinnerte sich des dabei empfundenen tiefen Glücksgefühls, ganz bei sich und ganz nah am Leben zu sein.

Im Mittelpunkt der Ringe

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