Читать книгу Im Mittelpunkt der Ringe - Karis Ziegler - Страница 9

Die Wand

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An diesem und dem folgenden Tag versuchte sie noch, systematisch zu einer Entscheidung zu kommen, gab es aber schließlich entnervt fürs Erste auf: diese Grübeleien hatten nicht viel mehr von zielstrebigem Nachdenken und Abwägen als das turbulente Chaos, das am Abend der Nachricht in ihr geherrscht hatte. Dennoch verließ sie das Bewusstsein nie ganz, dass sie sich irgendwann würde zusammenreißen müssen. Aber die anderthalb Wochen, die ihr blieben, erschienen dann doch wie ein beruhigender Sicherheitsabstand - morgen, morgen ganz bestimmt, da setze ich mich mit Bleistift und Papier hin und wäge Pro und Kontra ganz wissenschaftlich gegeneinander ab. Und aus dem „Morgen, Morgen“ war ganz still, aber unaufhaltsam der Sonntag geworden, dessen achtzehn-Uhr-Marke sich bedrohlich, beunruhigend heranschob, zeitweise jede Aussicht verstellend wie eine sich unerbittlich nähernde nüchtern graue Betonwand. Zu Beginn der Frist war sie aus der Entfernung meist noch erschienen wie ein kleines Hindernis, ein Stein oder Fels, über den man leicht hinausblicken konnte. Manchmal war der allerdings nicht nur im Fluchtpunkt der Woche sichtbar gewesen sondern machte sich zugleich in ihrem Inneren bemerkbar wie ein zu großer und zu harter Bissen, den man versehentlich mitgeschluckt hat und der nun unbequem im Schlund steckt; und manchmal war er auch tiefer herunter gerutscht und saß wie ein fester, schwerer, unverdaulicher Klumpen im Magen, der drückt und das Leben schwer macht. Dieser Brocken nun hatte im Vergehen der Woche immer größere Ausmaße angenommen, und jetzt, am Sonntag, stand er da, noch immer in einiger Entfernung, aber an ein Darüberhinblicken oder Daranvorbeisehen war nicht mehr zu denken.

Nach dem ersten Aufwachen in den frühesten Morgenstunden hatte sie nur noch unruhig und von wilden Träumen unterbrochen geschlafen und war dann lieber etwas zeitiger aufgestanden, als es ihren Sonntagsgewohnheiten entsprach. Sie machte sich Frühstück und setzte sich an den Tisch. Alles sollte erst einmal wie immer ablaufen. Sie nahm sich eine Zeitschrift zur Hand, blätterte, trank einen Schluck Kaffee, starrte auf die Illustrationen zu einem Artikel und sah nichts als - ihr Telefon! Biss in ihr Brötchen und merkte, dass sie nur mit Mühe und viel Zeit ein wenig hinunterbekommen würde. Sie war froh um den Kaffee, denn sie fror trotz des warmen Sommerwetters. Sie ging in die Küche, spülte die Frühstückssachen ab, füllte die Waschmaschine und setzte sie in Gang, wie sie es sich vorgenommen hatte. Bei allen Verrichtungen strengte sie sich bewusst an, sich ganz auf das zu konzentrieren, was sie gerade tat - Wäsche sortieren, Waschpulver abmessen, Waschprogramm einstellen, kontrollieren, ob die Maschine ansprang und das vertraute Arbeitswummern von sich gab -, und versuchte, wenigstens eine unnatürliche, bemühte Ruhe zu bewahren, den Blick, da man ja weder über sie hinweg- noch an ihr vorbeisehen konnte, konsequent von der achtzehn-Uhr-Mauer abgewandt zu Boden gesenkt. Die warf jedoch ihren Schatten unerbittlich über sie und ließ sie immer wieder frösteln - sie hatte nur einen Gedanken, der sie bei allen ihren Sonntagmorgenverrichtungen nicht verließ: dass sie immer noch nicht wusste, was sie Herrn Steinhausen am Telefon sagen würde.

Sie ging durch ihr Schlafzimmer hinaus auf den Balkon, nahm die Kanne und fing an, die Blumen zu gießen. Sah zu, wie das Wasser zuerst eine Weile in Pfützen stehen blieb, bevor es in die trockene, in der Hitze der letzten Tage hart gewordene Erde eindringen und mit schmatzenden Geräuschen versickern konnte. Ein feines Singen, Zirpen, Saugen hob von allen Seiten an, als die Pflanzen begannen, das Wasser durstig in ihre Fasern hineinzutrinken. Als sie fertig gegossen hatte, zupfte sie hier und da verwelkte Blütenreste, vertrocknete Blätter, fand zwischen Fuchsien, Glockenblumen und Buchsbäumchen noch vergilbte Stiele der Narzissen und Hyazinthen, die im Frühjahr in den Kästen geblüht hatten. Immer wieder zitterten ihr dabei die Hände. Der Balkon, auf der Nordseite des Hauses, lag im vormittäglichen Schatten. Es war noch ein wenig frisch sogar, angenehm eigentlich bei diesem Wetter. Sie sog die weiche, duftende Luft ein und dachte: wenn diese Blumen zum nächsten Mal Sonne abbekämen, die diese Hausseite noch für ein, zwei Stunden vom Westen her zu streifen pflegte, „dann sind die Würfel gefallen.“

Mit einem Mal ging die Haustür schräg gegenüber auf, man hörte durcheinanderredende Stimmen, hervor kam eine Nachbarsfamilie, Eltern und Kinder nacheinander, jeder bepackt mit einem Bündel oder einer Tasche. Sie gingen zum Auto, das an der Straße vor dem Garten parkte und beluden den Kofferraum. „Papa, nehmen wir auch das Boot mit?“, „Machen wir ein richtiges Feuer?“, „Haaalt, ich hab meine Puppe vergessen!“ Der zottelige Pudel kläffte in das Stimmengewirr hinein. Schließlich schienen alle vergessenen Sachen geholt, ein voller Picknickkorb wurde zuletzt hineingewuchtet, die Autotüren schlugen zu und schnitten den letzten Verlautbarungen der Kinder und Ermahnungen der Eltern das Wort ab. - Du lieber Himmel, wie beneidete sie die Kinder um ihre Sorgen, ob auch ja die richtigen Spielsachen eingepackt waren für den unbeschwerten Tag am Badesee!

Sie wandte sich ab und ging wieder hinein, mit langsamen Schritten durch das Schlafzimmer, fand noch eine Kleinigkeit wegzuräumen, glattzustreichen - seufzte, ging durch die Tür zum Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch.

Da war sie, die Wand, und sie schaute direkt darauf!

Sie hatte dann Papier und Bleistift zur Hand genommen, wild entschlossen zu ihrer wissenschaftlichen Entscheidungsfindung... und da hatte sie seither gesessen... sie hatte verschiedensten Dingen nachgesonnen, sich Erinnerungen hingegeben, zu Zeiten dabei die Wand wundersamerweise ganz aus den Augen verloren und den Schrecken vergessen, und auf dem Papier waren bloß ein paar unsichere Linien und abstrakte Formen entstanden...

Erschrocken hob sie den Kopf und sah hinaus: die Sonne war seit vorhin um die Hausecke herumgeglitten, und ihre Seite lag nun schon beinahe im vollen Nachmittagslicht, das schräg durchs Fenster fiel und alles in ihrem Blickfeld klar in Hell- und Dunkelbereiche teilte: über die Schreibtischplatte lief schräg ein blendender Streifen, auf dem halbhohen Bücherregal an der Wand gegenüber leuchteten Buchrücken, Kanten, Titel in der Mitte mit allen Farben und kleinen grellen Lichtreflexen deutlich hervor, während die anderen rechts und links davon in schattige Undeutlichkeit zurücktraten, und über das im Licht liegende Stück Wand oberhalb des Regals und die dreieckige Seitenwange des Gaubenfensters gleich links vor ihr zeichnete der Kirschbaum, der nahe beim Haus wuchs, Schattenrisse bizarr verzogener Äste und Blätter. Alles andere lag in grünlich-transparentem Schatten.

Instinktiv griff sie nach einem Untersetzer, der zwischen den Schreibsachen liegengeblieben war, und versuchte, der wieder aufkommenden Nervosität durch hektisches Hantieren Herr zu werden. Er war rund, aus Kork und fühlte sich warm, weich und trotzdem fest an, gab ihrem krampfhaften Zugriff ein wenig Rückhalt und ihr ein klein wenig Sicherheit in ihrem ins Panische abgleitenden Zustand. Sie drehte und wendete ihn zwischen ihren Händen, hin und her, hin und her; nach einer Weile stützte sie das Kinn in die Linke, die Rechte auf den hochkant gestellten Untersetzer, den sie allmählich auf der Schreibplatte entlang zu rollen begann, hin und her, hin ... und her ...

Was sollte sie nur tun? Was war es, das zählte, was war wirklich wichtig? Wie sollte, wie wollte sie in Zukunft leben? Hier war eine Gelegenheit, alles auf den Kopf zu stellen, alles umzukrempeln - nichts würde mehr so sein, wie es lange Jahre für sie gewesen war. Sie selbst würde sich verändern müssen, vermutlich würde dies auch schon ganz von alleine unter unbewusster Anpassung an neue Notwendigkeiten geschehen. Es wäre mit Sicherheit ein Abschied, nicht nur von liebgewordenen Gewohnheiten, sondern auch von sich selbst, wie sie sich bisher kannte. Der Gedanke hatte allerdings bei allem Schrecken, den er ihr natürlicherweise versetzte, auch etwas Faszinierendes, die Anziehungskraft des Unbekannten: Ganz neu anfangen - ein Abenteuer? Sollte sie es so sehen - eine sportliche Herausforderung? Ein neues Spiel? Und wenn es ernst würde? (‚Und es wird ernst werden!’, dachte sie und fing wieder an, den Korkuntersetzer über den Tisch zu rollen).

Jetzt machte sich bemerkbar, wie ungeübt sie darin war, in dieser Form Lebensentscheidungen zu treffen. Bisher hatte sich eigentlich immer alles irgendwie ergeben, sie hatte es einfach bloß geschehen lassen müssen, und es war gut gewesen. Sicher bildete sich auch in diesen Fügungen ihr eigener Weg ab und eine ihr gemäße Richtung, aber es geschah doch immer auf eine eher passive, hinnehmende Art und Weise. Dies jetzt aber, das war harte, schmerzhafte, schweißtreibende Arbeit!

Also noch einmal: Wie konnte sie bloß herausfinden, wie sie sich zu dieser Situation verhalten sollte? Sie wollte so gerne die Fürs und Widers gegeneinander stellen und gewichten, aber in ihrem Kopf wollte sich nichts so einfach, so konkret, so fassbar herauskristallisieren, dass sie es auch nur hätte klar denken, geschweige denn notieren können. Konnte sie nicht endlich einmal genauer zu fassen bekommen, was ihr bisher etwas bedeutet hatte, wofür sie ihre „Freiheit“ hatte verteidigen wollen, damit sie die Kontra-Seite wenigstens auch mit Argumenten füllen könnte? War die denn aber wirklich nur zu rechtfertigen, wenn sie dies auch definieren konnte? Aber jetzt, für diese Entscheidung, die bis in wenigen Stunden getroffen sein musste, und auch für sich selbst, damit sie sich endlich sicher wäre, musste sie etwas davon deutlich vor sich hinstellen, um dann „ja“ oder „nein“ dazu sagen zu können.

Ganz im letzten Winkel ihres Denkens, vor jedem inquisitorischen Lichtstrahl unter dicken Schichten aus Scham und Scheu verborgen, hatte sie es einfach immer „Leben“ genannt - dem „Leben“ nahe kommen, dem „Leben“ Platz lassen in sich - so etwa hätte sie es vorsichtig, versuchsweise genannt. Aber nun, unter dem unbarmherzigen Scheinwerfer ihrer „wissenschaftlichen Entscheidungsfindung“ - was blieb davon? Und was sollte es überhaupt bedeuten? Was wollte sie damit?

Indem sie unermüdlich ihr Spiel mit der Korkscheibe weiter trieb, sie abwesend von links nach rechts und wieder zurück rollte, verlor ihr Blick schon wieder die problemorientierte Konzentriertheit, wurde weich, vage, Schreibtisch, Bücherregale, Zimmerwände glitten zur Seite, und es öffnete sich eine Landschaft, weit, ohne flach zu sein, in helleren, sandigen Farbtönen gehalten, fremdartige Formen von Bergen, Felsen und Pflanzen, von einem milden und doch klaren und hellen Licht durchschienen...

Im Mittelpunkt der Ringe

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