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Das rote Herz

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Gelbes Sonnenlicht durchdringt hell das papierene Haus. Ein neuer Tag. Ein neues Wunder.

Yonami schlüpft unter der Seidendecke hervor, schiebt einen Teil der Zimmerwand, die als Tür und Fenster zugleich dient, zurück und vertauscht ihr Schlafkleid wieder mit den Festgewändern. Ein paar köstliche Minuten lang steht sie nackt und schlank und überaus zierlich in der opalschillernden Luft. Das Licht des frischen Morgenhimmels strahlt matt zurück von den runden Hügeln ihrer festen Brüste und von ihren geschmeidigen Lenden.

„Rühr dich nicht, Yonami“, bittet er hingerissen. „Verharre noch ein Weilchen ...“

Sie wendet nur den Kopf mit der hohen, schwarzen Haartracht nach ihm zurück, läßt den erhobenen Arm langsam niedersinken. Sie hat sogleich erfaßt, daß sie in diesem seligen Augenblicke ein hohes Kunstwerk ist, das des fremden Samurais Herz erfreut ...

An diesem Morgen führt Yonami ihren Samurai selber zum Bade, faßt ihn bei der Hand und führt ihn durch die paar dunklen Hausgänge und über den kleinen Hof. Doch selbst das heißeste Bad vermag nicht die süße Schläfrigkeit von ihm zu nehmen. Wohl wird sein Körper erfrischt und prickelt vor Lebensfreude, doch in seiner Seele liegen noch unverwischbar die köstlichen und unfaßbaren Erlebnisse einer seltsamen Nacht. Nun ist es so, als werde vor seine Augen ein zarter Schleier gezogen, der ihm alles Geschehen in unbegreiflicher Weise verklärt.

Die Welt hat sich für ihn verändert. Die Welt von gestern hat sich so gründlich verändert, daß er sich nicht mehr darin auskennt, sondern daß er sich selber neu und völlig unbegreiflich vorkommt Er meint, nie zuvor in seinem ganzen früheren Leben habe die Sonne so mild und so verheißungsvoll geschienen. Er meint, nie zuvor sei ein Himmel so durchsichtig und blau gewesen. O diese weiche Luft, die seinen Körper umspielt — sie ist eine überirdische Liebkosung.

In seinem leichten Gewande schreitet er im Garten hin und her, schreitet über schmale Wege, die sicherlich von Kinderhänden für Kinderfüße geschaffen sind. Da und dort bleibt er stehen, bückt sich über eine Blume, streift mit ehrfürchtigen Fingern den hängenden Buchenast, der in der verflossenen Nacht mit seinem fächelnden Mondschatten die Wand seines Zimmers zum Feste schmückte.

Hinter den winzigen Wiesen, hinter einem See, der nicht größer ist als daß man von einem Ufer ans andere springen könnte, hinter einem langen, schmalen Irisbeet stehen als stumme farbige Lieder die blühenden Pflaumenbäume — eine Kaskade bunter Träume, eine unendliche Flut zarter Blüten, die in kaum wahrnehmbaren Wogen der blauen Luft entströmt, Myriaden stiller Blumenwunder in allen Färbungen: weiß, hellschillernd wie der frühe Morgenhimmel, purpurn wie gewitterschwüles Abendrot — ein betörender Taumel ...

Durch diese Blütenherrlichkeit wirft sich in zuckenden Sprüngen ein zitronengelber Schmetterling, schaukelt sich sonnentoll in der Luft, gleitet heran, umflattert den Fremdling und taucht wieder unter im großen Farbenlied der Pflaumenblüten.

Mit entzückten Augen folgt Walter dem Gaukelflug des Schmetterlings und versinkt mit ihm in die Herrlichkeit der blühenden Bäume. Ohne daß es ihm selber bewußt wird, faltet er seine Hände. Sicherlich wird es ein Gebet sein ... „Herr Gott“, murmelt er in kindlicher Frömmigkeit ... „O Herr des Himmels ...“

Alle Dinge sind gut ... Ein Rauschen leuchtender Seligkeit geht durch die Welt ...

Über Nacht wurde dieses jungen Mannes Ohr so sonderbar hellhörig, daß er das geheime Schwingen vernimmt, das Tönen zahlloser Saiten, die ausgespannt sind zwischen Himmel und Erde. Es ist der hohe Feiertag der Begnadeten, an dem er da überraschend teilhaftig wird. So frei und leicht fühlt er sich, daß er meint, er brauche jetzt nur seine Arme mit den weiten, bunten Seidenärmeln zu heben, dann müßten sie gleich zu Schwingen werden, die ihn durch diese verzauberte Luft trügen, wie den zitronengelben Schmetterling.

Es ist ein ungeahnt tiefes Erleben der Natur, wie er es bis zu diesem Morgen noch nicht kannte. Aufgegangen im geheimnisvollen Wesen der Erde ist er; er ist gestreift vom Atem einer milden Gottheit. Und zum ersten Male fühlt er sich eins mit der blauen Luft, mit dem blauen Meer und allen stummen Dingen. Selbst der Sand unter seinen Füßen raunt ihm eine Freundlichkeit zu ... Des fremden Samurais Augen werden feucht vor Ergriffenheit ...

Vom Hause her kommt Anaka-san, verneigt sich zehnmal, verneigt sich hundertmal, sagt unverständliche Worte, sagt viele gute Worte. In den dunklen Kronen der Schirmfichten jubilieren kleine Vögel ... Das wird ein großer Augenblick. Auf einmal versteht der fremde Mann das Lächeln dieser Menschen ...

Yonami erwartet ihn beim roten Lacktischchen. Bei seinem Eintreten ordnet sie mit behutsamen Fingern die hauchdünnen Tassen und Schälchen, gießt den gelbgrünen Tee ein, stochert mit den elfenbeinernen Eßstäbchen in den Schüsseln. Und dann schiebt sie ihm wieder kichernd das Essen in den Mund, alle diese verwunderlichen Speisen. Es sind andere Gerichte als am Abend, und sie werden ihm in anderer Reihenfolge dargereicht.

Während sie ihren Samurai bedient, sagt Yonami viele lustige Dinge; doch dazwischen sagt sie mit listigem Augenzwinkern auch sehr ernste Dinge. In fröhlicher Aufmerksamkeit ist sie bemüht, die verschwiegenen Wünsche ihres Herrn zu erraten.

„Yonami“, sagt er lachend, „jetzt will ich deine Sprache erlernen“.

„Ja, Herr!“ ruft sie erfreut.

Er zeigt auf die weiche, dicke Bastmatte des Bodens: „Was heißt das?“

„Tatami.“

Er zeigt auf das kupferne Feuerbecken: „Und das?“

„Hibatshi.“ Und nun hebt auch Yonami ihre Hand, legt sie auf das zurückgeschobene Stück der Hauswand: „Shoji.“ Mit dem Finger weist sie auf ihre Holzpantinen, die draußen auf der kleinen Treppe stehen: „Geta.“

Es wurde ein vergnüglicher Unterricht.

Hernach brechen sie auf zur Wallfahrt nach Kuannons Tempel.

Zuerst schreiten sie durch die engen Gassen von Enoshima zwischen den Puppenhäusern, wo auf den glatten Steinfliesen die komischen Menschenfiguren hin und her eilen und laut mit ihren Getas klappern, wo zierliche Mädchen trippeln und überaus drollige Kinder spielen. Die Kinder haben je nach dem Alter die verschiedensten Frisuren. Bald steht ihnen das pechschwarze Haar in drei Büscheln vom glattgeschorenen Kopf, bald haben sie es fächerartig aufgebauscht. Schwarze, muntere Kirschenaugen haben sie alle. Rein unbegreiflich erscheint es dem fremden Manne, daß diese Spielzeugwesen irgendeine ernsthafte Beschäftigung treiben und daß nicht auch die Erwachsenen nur zum Scherz in den Gassen trippeln und trappeln.

Wenn Yonami mit ihrem Fremdling vorüberschreitet, schauen die Kinder erschreckt und belustigt zugleich auf, und öffnen vor Staunen rund und weit ihre glänzenden Perlenaugen. Die Erwachsenen verneigen sich und grüßen.

An den Felsen zwischen Baumwurzeln und Gestrüpp führt der Weg steil empor, oft über lange Treppen, deren Stufen im Laufe der Jahrhunderte ausgehöhlt wurden von den Tritten unzähliger Füße. Und zuweilen führt der Weg durch eines jener Tempeltore, die man hier Torii nennt. Winzige Tempelchen aus Stein stehen zu beiden Seiten des Pfades; sie stehen auf mannshohen Steinsäulen und gleichen merkwürdigen Laternen.

Ist der Weg steil und mühsam, so ist auch die Überraschung der Höhe groß. Es liegt nicht in der Pracht des Tempels, nein, es ist hier dieses, daß das Heiligtum der Menschen vereinigt wurde mit der Schönheit der Natur. Alte Buchen mit langen Moosbärten ragen im Kreise, gewaltige Schirmfichten, Blumen überall, und sonnenwarme Büsche, die herrlich duften ... Die Gebilde von Menschenhand haben sich so sehr den Bäumen und Blumen und den Felsen angepaßt, als seien auch sie auf dieser heiligen Erde von selber emporgewachsen.

Ein weitläufiges Holzhaus mit aufwärts gebogener Dachfirst, mit offener verschnitzter Holzgalerie rundum, das ist Kuannons Tempel. Die Göttin aber, die hundertarmige, die tausendfältige Segenspenderin, ist ein dickes Ungeheuer von einem Weib mit Wülsten unter dem Kinn und unförmigem Bauch. Wenn auch nicht gerade hundert, so ragen doch einige Dutzend Arme aus jeder ihrer Schultern hervor.

Ob dieses furchtbare Geschöpf Segen spenden und die Menschenkinder lieben kann? Aber Yonami bindet ihr Opfer an einen der dicken Finger Kuannons, klatscht in die Hände, murmelt ein paar Worte, lächelt. Das ist Yonamis Gebet. Sie hat ihren schönsten Kamm geopfert; also muß sie wohl glauben an Kuannons Macht und an die Erhörung ihres Gebetes.

Yonami opfert ihren schönsten Kamm für den fremden Mann, der an ihrer Seite steht und fassungslos den Kopf schüttelt; und Yonami bittet für ihn ... Dieser fremde Mann wird jetzt überstrahlt von der Heiterkeit des japanischen Himmels, er wird eingehüllt in die Schleier des Weihrauchs, die von unzähligen Kerzen aufsteigen. Als seine kleine Nesan ihn anblickt und lächelt in ihrem Götterglauben, lächelt wahrhaftig auch er in ähnlicher Weise.

Rings um den Tempel des segenspendenden Ungeheuers liegt ein kleines Dorf von Verkaufsständen; es gleicht einem bunten Jahrmarkt. Hier wird Tee feilgeboten, Backwerk, Süßigkeiten, Früchte; aber auch hübsche Gegenstände aus Metall, Holz, Stein, kleine Flaggen, Reisbier, Reisschnaps, Papierrollen mit Hunderten von Gebeten für alle Leiden, Räucherkerzen. Alles, alles, was die frommen Pilger für Seele und Leib nur wünschen können, ist hier zu haben.

Manche dieser Jahrmarktsbuden bestehen nur aus einem langen, einfachen Tisch, auf dem die buntgekleidete Verkäuferin sitzt; aber darüber, o Wunder, wölbt sich ein Dach tiefblauer Glycinien. Den Tisch stellten die Menschen hin; und die Menschen errichteten auch das einfache Gestell aus Bambusstäben. Doch die Götter ließen aus dem heiligen Boden die herrliche Pflanze emporwachsen, einen armdicken Stamm, eine Vergabelung klafterlanger Äste, ein dichtes Gewirr von Ranken und schattengrünen Blättern, aus der in wahren Riesentrauben die Blumen niederhängen in fast unglaubhafter Bläue.

Scharen zahmer Tauben flattern und trippeln zwischen den Ständen, zwischen den Füßen der Pilger, die ihnen Futter hinstreuen.

Neben dem Tempel ist eine Schießbahn für Bogenschützen. In diesen frühen Morgenstunden sind erst wenige Menschen da; fröhliche und sehr höfliche Menschen, die sicherlich nur zu ihrem Vergnügen und nicht vor Sorgen zum Tempel der Kuannon wallfahrten.

Das Tempeldach überragen ein paar mächtige Schirmfichten, heller Buchenwald schließt sich dahinter zu einer dichten grünen Mauer, aus der zuweilen zierliche Rehe hervortreten und sich zutraulich den Menschen nähern. Dieser Morgen muß ein Geschenk der Götter sein — der ganze Himmel ist von Silberstaub erfüllt.

Ach, dieses alles — was mag es in Wirklichkeit bedeuten? Das Spiel von Kindern? Religion? Götzendienst?

Je mehr der fremde Mann sich in diese heitere Welt versenkt, desto rätselhafter wird sie ihm. Warum zum Beispiel, fragt er, sind die Götter dieser Menschen, die mehr als andere Menschen die Schönheit verehren, über alle Maßen scheußlich? Ja warum müssen ihre Götter so unbeschreiblich dumm und häßlich aussehen?

Die großen Götter, die im Verborgenen walten, werden möglicherweise wissen, weshalb das so und nicht anders sein kann ... Vielleicht ahnt es auch Yonami. Yonami führt ihren Samurai zwischen den Buden umher. Sie füttern miteinander die Tauben und sie füttern die Rehe; sie trinken aus winzigen Tassen bittern Tee, essen dazu kandierte Früchte, ziehen gemeinsam am Seil, das einen waagerecht hängenden Balken in Bewegung setzt, so daß die große Tempelglocke mächtig und dunkel aufklingt in der lichtdurchfluteten Höhe.

Hierauf gehen sie zum Schützenstand an der Längsseite des Tempels. Yonami greift nach einem Bogen, der sie hoch überragt. Mit größter Sorgfalt wählt sie einen der langen befiederten Bambuspfeile, wiegt ihn in ihren kleinen Händen, steckt ihn wieder in den Köcher zurück und prüft einen anderen.

Mehrere Scheiben stehen vor den grauen Felsen. Es steht eine Scheibe da, deren Mitte ein rotes Herz trägt. Das Herz umschließt ein schwarzes Viereck. Um das Viereck läuft ein weißer Kreis.

„Das ist die Scheibe des Lebens“, sagt Yonami. „Man darf darauf in jedem Jahr nur einen einzigen Pfeil abschießen.“

Yonami spannt mit einer Kraft, die ihre feinen Glieder kaum vermuten lassen, die Sehne; zielt lange. Der Pfeil zischt durch die Luft und steckt zitternd im roten Herzen.

Und Yonami sagt: „Das rote Herz, o mein Samurai, das ist die Liebe.“

Yonamis Augen leuchten jetzt wie zwei kleine Sonnen.

Dann sagt sie: „Das schwarze Viereck aber ist der Schmerz. Und der weiße Ring, der sowohl Liebe als Schmerz umschließt, das, mein Samurai, ist der Tod.“

Sie reicht ihrem Samurai den Bogen hin, sie wählt für ihn einen Pfeil. Er legt den Pfeil auf die Sehne. Doch als er darüber hinzielt nach dem roten Herzen, befällt ihn ein jähes Unbehagen. Des Bogenschießens unkundig, wie er ist, wagt er es nicht, Kuannons Orakel zu hören, er wagt nicht, das Schicksal herauszufordern.

„Nein, nein, kleine Yonami“, sagt er nur und legt den Bogen in ihre Hände zurück.

Sicherlich ahnt Yonami irgendwie, was in ihm vorgeht; sie stellt den Bogen mit einem Scherzwort gegen die Tempelwand. Sie streicht mit behutsamer, tröstender Hand über seinen Ärmel.

„Mir hat Kuannon die Liebe versprochen“, sagt Yonami heiter, faßt nach seiner Hand und führt ihn zum Opferaltar. Sie verbrennen einige Gebetrollen und zünden zwei Räucherkerzen an; die stecken sie in einen gewaltigen Kessel, der angefüllt ist mit der Asche von hunderttausend verbrannter Räucherkerzen, die vor undenklichen Zeiten hier verglühten ...

Sayonara. Eine japanische Liebesgeschichte

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