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Der Schatten

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Wie vieles geschieht doch in dieser Welt um der Liebe willen! Gutes und Böses geschieht, und mitunter auch noch manches, was weder das eine noch das andere ist. Wie soll man zum Exempel Olavs Tod auffassen? Olav war ein verwegener Bursche alle Tage seines Lebens. Er mußte unbedingt in einer frostklaren Winternacht durch die Donnerskare zu Tal klettern. Mußte er es denn wirklich tun, wenn der böse Ostwind in allen Felsen orgelte? Viel Seltsames liegt hinter Olavs Sterben.

Olav erzählte seinem Jugendfreunde Trygve Eivindson in jener Nacht in der Berghütte des schwarzen Ur eine Geschichte. Es handelte sich um ein verwunderliches Mädchen. Es handelte sich um Thorbjörg. Der Apotheker Nils Olsen nannte dieses Mädchen Iris und Sonnenvogel. Der Apotheker war Junggeselle und ein feiner Mann. Thorbjörg fuhr an einem Sonntagnachmittag mit Olav Arnevik zum Furuholm hinaus; Olav verlor auf dieser Fahrt seine Vernunft und seine Seele. Olav ward rein toll. Sagte er denn nicht selber zu Trygve: „Thorbjörg — das ist das Weib, das mich zugrunde richtet ... Ja! Und nun will ich diesen Abstieg wagen; er ist schwer. Aber er ist nicht ganz unmöglich. Er soll eine Probe sein. Wenn er gelingt, dann ist Thorbjörg mir treu, trotz allem, was ich weiß. Dann wartet sie auf mich in unserem Stübchen in der Stadt. Dann ist sie nicht mit diesem verdammten Apotheker nach Paris gefahren ... Und wenn der Abstieg nicht gelingt, so stürze ich — auch das wäre eine Lösung.“

Welche Verrücktheit! Aber der Abstieg gelang. Olav kam bis auf das sichere Rasenband von Rimane hinunter. Dort verfing sich allerdings sein Wams in einem verkohlten Baumstumpf. Und Olav wehrte sich nicht und blieb hängen und erfror.

Kann je ein Mensch noch hoffnungsloser sein?

Olavs Tod brachte nicht einmal Klarheit. Ganz gewiß war Olav ein Sohn des Zigeuner-Halstein, ein Mensch mit sehr heißem Blut und einigen Tugenden und vielen Lastern. Er war zuweilen hochfahrend in seinem Wesen und wikingerhaft kühn und lebensverächterisch.

„Ich liebe ihn immer noch“, bekannte Jofrid, stolz und groß, wie sie war.

Trygve und Jofrid, sie standen noch ganz am Anfang. Sie waren so jung alle beide. Nachher ging alles viel schwerer, als sie nur ahnen konnten. Ein drohender Schatten schwebte immerfort über ihrem Lebenstal.

Als Olav tot war, faßte Jofrid ehrlich nach Trygves Hand. Alles hätte nun doch noch gut werden können. Sie begruben Olav auf dem Friedhof von Akerud.

Aber Olavs Leben war noch nicht ganz ausgelöscht. Tiefe Trauer herrschte auf dem Herrenhofe von Lisät. Jofrid wurde weich und mild wie ein gezüchtigtes Kind. Sie wurde ganz anders als sie vordem gewesen, beugte den Nacken und stand am Fenster und schaute Trygve nach, wenn er über den Hof schritt ...

Es verstreichen ein paar Wochen in Verwirrung und Niedergeschlagenheit.

Sie sitzen sich am Tisch gegenüber; sie sitzen abends am Kaminfeuer. Sie liegen Nachts Seite an Seite. Es ist überall Wärme und Zuversicht. Olavs jähes Erscheinen am Strande von Lisät, Olavs jäher Tod — das war wie ein Stein, der ins Wasser fiel; er riß die stille Fläche auf.

Eins blieb immerhin: in der großen Stube vor dem Kamin hing Jofrid an Olavs Hals. Das hatte Trygve durchs Fenster gesehen ... Aber es ging doch alles wieder gut.

Trygve kaufte in jener Nacht den Hof von Arnevik, und Olav hatte ihn mit guten Worten beruhigt. Alle Dinge wollten sich zusammentun. Hatte Trygve jemals vor Olavs Tod Jofrid so zärtlich und weich gesehen?

Nach diesen paar stillen, wehmütigen Wochen entstieg dem Postschiff ein junges Weib mit hohen, spitzen Schuhen, mit hohem Hut und Bändern darauf. Eine weiße Amsel hatte sich an diesen rauhen Strand verirrt. Thorbjörg, Iris — weiß Gott, es erscheint am Strande von Lisät der Sonnenvogel Olavs.

Die Leute auf der Landungsbrücke betrachten dieses Wunder mit Staunen und Schweigen, stehen still und warten in großer Spannung. Es ist Sonntag, und viele Menschen stehen da. Man sieht hier nicht oft eine fremde Dame. Wie werden die Bauernmädchen um sie her sogleich häßlich und plump. Am Prellstock lehnt Per Kleppenes, ein Mann mit einer schwarzen Lederweste und einem langen Schnauzbart. Auf ihn schreitet die Dame zu. „Wo liegt Arnevik?“ fragt sie.

Per Kleppenes kratzt sich hinter dem Ohr und blickt aufs Wasser hinaus. Gespannte Aufmerksamkeit steht auf allen Gesichtern.

„Ich möchte zu Olav Arnevik“, sagt die junge Dame schüchtern.

„Olav Arnevik?“ fragt einer.

Aber Per Kleppenes reißt die Brauen schreckhaft hoch über seinen Kugelaugen. „Nein, nein“, murmelt er und zieht sich einige Schritte zurück.

Und da steht also Thorbjörg allein und von starrendem Schweigen umgeben. Es ist deutlich sichtbares Grauen um sie her, und ihr kleines Herz, das unruhige, lebensdurstige Herz, hält einen Augenblick inne und zieht sich im Krampf zusammen.

„Wohnt denn Olav nicht hier? Er sagt, Arnevik sei ein großer Hof.“

Ja, das verhalte sich schon so, entgegnet einer. „Ja, Arnevik ist ein großer, stolzer Hof und nach Lisät der erste Besitz ...“

„Und Arne Arnevik, der Vater, starb doch ...?“

„Das stimmt. Jawohl. Der alte Arnevik ist dahingefahren ... Er starb vor ein paar Wochen — ja ...“

Thorbjörgs Knie beginnen weich zu werden. Sie wird schwach auf ihren Beinen, denn sie merkt wohl, daß hinter den Antworten und hinter dem Schweigen sich irgend etwas Schlimmes verbirgt.

„Arne Arnevik hat einen Sohn, Olav — einen einzigen Sohn“, flüstert Thorbjörg scheu und hastig. „Olav sollte den großen Hof erben. Olav reiste hierher ...“

„Ja — Olav kam“, sagt der dicke alte Mann. Dann wird auch er plötzlich feige und darf nicht weiter. Hat er denn jemals zuvor solche Augen gesehen, oder einen solchen Mund oder überhaupt solche weibliche Schönheit?

„Olav? — Jawohl, der Hof mußte auf ihn fallen. Ja. Und wenn ich Zeit hätte, würde ich dich hinüberführen ... Aber dort ist also der Weg ...“

Alle Leute treten willig zur Seite. Es dehnt sich viel drohende Leere in der Luft.

Mit der Zeit kommt Thorbjörg nach Arnevik und erfährt, daß Olav am Helleberg erfroren ist und daß er schon begraben wurde auf dem Friedhof von Akerud. Dieses junge Weib hat bis zu dieser Stunde noch nicht erfahren, was der Tod ist; es glaubte nicht an den Ernst des Lebens. Seht, dieses junge Weib war nur ein Geschöpf der Freude und wahrlich ein Sonnenvogel; es wurde erschaffen zur Zierde, um viele Feste zu verschönen.

Auf dem Hofe von Arnevik wird Thorbjörg von Trauer umringt und von Reue und Schmerz geschlagen. Sie steht vor einem fremden Hause, sie steht auf einem fremden Wege. Ein finsterer hoher Berg reckt sich mächtig hinter allem. Thorbjörg steht in schauerlicher Einsamkeit und fürchtet sich. Sie findet keine Worte mehr vor Schwäche, sie kann nur noch stammeln und wimmern.

Wie es zuging? Was geschah? Warum er in den Felsen dieses fürchterlichen Berges sterben mußte?

In engem Kreise drängen sich Knechte und Mägde; ein Ring hilfloser, ängstlicher Gesichter. Und keiner kann Antwort geben; und keiner will etwas wissen.

„Aber auf Lisät — ja, dort weiß man es“, sagen sie. „Ja, dort weiß man jedenfalls mehr von dieser Sache.“

„Geh du nur nach Lisät und erkundige dich“, rät eine alte Magd. „Sie waren doch so gute Freunde von Jugend auf, er und Trygve.“

„Ja“, murmelt jemand, „und auch Jofrid möchte schon etwas erzählen und mitteilen können.“

Thorbjörg wandert nach Lisät. Das wird alles zu einem Traum und bleibt fast unerklärlich. Thorbjörg schleicht dahin als ein leibhaftiger Schrecken und bringt über die Leute von Lisät Bestürzung und Fassungslosigkeit.

Sie sind versammelt in der großen Stube, bei einem hellen, guten Birkenfeuer. Trygve ist da und Jofrid, und der alte Knecht Oswald ist da. Manchmal fällt ein Wort, ein sachtes, kleines Wort, das nicht nach einer Entgegnung ruft. Friede, Wärme und vornehme Stille herrscht in dieser alten Stube. Im Knistern des Feuers liegt Traulichkeit, überall zeigt sich Wohlstand und Geborgenheit. Wie befremdlich klingt da das erregte Geflüster vor der Tür.

Nun geht die Tür auf, und ein bleiches junges Weib mit großem, dunklem Blick erscheint.

„Ich bin Thorbjörg.“

Eine verzagte Stimme verkündet das. Das Gewimmer eines verängsteten kleinen Tieres. „Ja, ich bin die ganze Nacht gefahren ... Ich suche Olav ...“

Ein bebendes Mädchenkind. Jetzt faltet es die Hände und blickt von einem zum andern.

Das wird ein Zustand.

Der alte Oswald erhebt sich und geht still um das junge Weib Thorbjörg herum und geht zur Tür hinaus. Trygve erhebt sich, Jofrid erhebt sich.

Olav ist tot und begraben. In der großen Stube auf Lisät stehen die zwei Frauen, die durch sein Leben gingen, sehen einander in die Augen und fragen stumm ...

Wenn die Menschen sterben, irrt vielleicht ihre Seele noch ein Weilchen unter den irdischen Ereignissen umher und verursacht dieses und jenes, stiftet Freude und Verwirrung — niemand kann das so genau wissen.

Trygve macht nun drei, vier Schritte; er macht vielleicht sechs oder sieben Schritte, denn die Stube von Lisät ist geräumig genug. Es stehen viele Stühle und Tische da, und an den Wänden stehen alte Möbel mit schweren, echten Beschlägen. Es steht wahrhaftig auch noch Frau Dagmars alter Flügel da; und nun gibt dieser Flügel einen Ton, einen seltsam dunklen Harfenton, als streiche ein Windhauch durch die Saiten. Vielleicht kommt es nur daher, daß Trygve seine große Hand auf den polierten Deckel legte, als er vorüberschritt. Es ist durchaus nichts Übernatürliches. Aber dennoch — es geht ein dunkler Ton durch die Stille ...

Trygve ist nun der Meinung, er sei hier der Mann und der Herr. Er meint, es liege jetzt an ihm, zu handeln und das unmögliche Schweigen abzubrechen. Er macht sich streng und hart und reißt tiefe Gräben in sein Gesicht; groß und breit steht er auf seinen langen Beinen.

„Sie sind Thorbjörg?“ fragt er. „Aber Olav Arnevik ist doch in den Bergen umgekommen, weil Sie ihn verließen ...“

„Nein“, stammelt Thorbjörg. Wie wird sie so klein und zerbrechlich. Ihre Augenlider zucken und flattern. Ihre Hände fahren an ihrem Kleide hin und her. Sie zerrt mit wirren Fingern an den Bändern. „Ich saß ja die ganze Zeit in unserer Stube und wartete ...“

In Trygves Gesicht zuckt es auf. Da zuckt es auf in diesem schlichten Kopfe, der nur die ganz geraden Dinge erfassen kann, und Trygve fragt: „Dann waren Sie also nicht in Paris?“

„In Paris? Großer Gott! Nein, Verzeihung ... Nein, nein — erzählte er Ihnen denn davon? Nein, ich habe unsere Stube gar nicht verlassen ... Ich saß an unserem Tisch alle diese Tage. Er versprach doch, zurückzukommen. Er lief an einem Morgen fort, als ich noch schlief. Er schrieb auf den Tisch: Warte auf mich, Iris! Warte auf mich, schrieb er mit Kreide auf den Tisch. Ich fahre heim, schrieb er. Und am Schluß stand: Mein Sonnenvögelein ... Da durfte ich also nicht fortreisen ...“

Aber Trygve macht sich noch strenger und unerbittlicher: „Verhält sich dieses in Wahrheit so?“ fragt er, seinen kleinen Kopf zweifelnd zur Seite legend.

Oh, Trygve bleibt doch immer der Sohn Eivinds und daher wenig empfänglich für fremdes Leid. Hat denn dieser große Mann keine Augen im Kopf? Sieht er denn nicht vor sich all diese rührende Angst und zitternde Lieblichkeit? Sieht er denn nicht diese schreckensgrauen Lippen, die in völliger Selbstvergessenheit noch mit ihrem unschuldigen Sündenlächeln schmeicheln und überaus köstlich sind? Wie darf dieser Mann Trygve es nur wagen, sich zum Richter aufzuwerfen über ein junges, verzagtes Weib?

Doch nun geschieht etwas Merkwürdiges und fast Unnatürliches: Jofrid macht ein paar Schritte. Jofrid kommt ein paar Schritte näher. Seht, diese junge Herrin von Lisät geht bis zu dem Sonnenvogel Thorbjörg hin, faßt nach der kalten kleinen Hand und führt das fremde Mädchen zum Kaminfeuer. Ja, es geschieht wirklich immer viel Unerklärliches auf Lisät. Sollte es nun vielleicht Olavs Geist sein, der sich über Jofrid hinneigte und sie bat, diese Tat der Barmherzigkeit zu verrichten? Gott allein weiß das. Möglicherweise war Olavs Liebe zu diesem Sonnenvögelein so groß, daß sie im Tode noch Jofrid bezwingen konnte, so daß sie hingehen mußte zu Thorbjörg, die doch eigentlich ihre Feindin ist, die so sehr ihre Feindin ist, daß Jofrid vor kurzem noch Olavs Tod laut als eine Erlösung pries.

Ja, Gott allein kann wissen, wie dieses alles mit einander zusammenhängt. Thorbjörg versinkt in einem der großen Stühle vor dem Kamin. Es ist derselbe Stuhl, in dem einst Frau Dagmar gesessen und sich fürchtete und sehnte und am ganzen Dasein verzweifelte und ihre vielen Tränen weinte.

Zart und schmal kauert das Sonnenvögelein Iris im alten Stuhl, elend und in ungeheuerer Verzagtheit. Jofrid dreht sich zurück; da steht wahrhaftig noch immer Trygve bei der Tür, lang und unbeholfen und mit schmalen Lippen. Er will offenkundig noch ein Wort sagen; ein wenig hochmütig, wie er ist. Aber Jofrid starrt ihm ins Gesicht und nickt. Oh, kaum eine Spur, sie nickt nur mit ihren Augen. Dann geht Trygve.

Die junge Herrin von Lisät betrachtet das namenlose Kind der fremden Stadt lange. Vielleicht denkt sie in ihrem Herzen: das sind also die Lippen, die er küßte ... Und diesen Leib hat er mit seinen Händen liebkost ... Olav — Olav! denkt sie ... Und jetzt liegt er auf dem Friedhof von Akerud ... Nein, nein, was ist das nur? Ich bin wohl nicht bei Sinnen ...

Sicherlich, Jofrid muß in diesem Augenblick gar vieles empfinden in ihrem unbegreiflichen Frauenherzen.

Plötzlich sagt sie düster und geheimnisvoll: „Thorbjörg, er starb — und er starb ganz gewiß Ihretwegen. Sie haben ihn ganz und gar gewonnen ... Als Sie von ihm gingen, konnte er nicht länger leben. Er hing dort in den Felsen nur handbreit über dem sicheren Boden! Und wenn es seine Absicht gewesen wäre, hätte er sich selber leicht befreien können. Aber begreifen Sie, er wollte nicht ... Und das alles sieht ihm doch so ähnlich ...“

Es tut Jofrid sehr weh, das zu sagen; aber sie kann es unmöglich verschweigen. Thorbjörg, das Mädchen der Straße, läßt den Kopf langsam sinken. Kein Wort, kein Laut. Thorbjörg bleibt in Frau Dagmars großem Stuhl versunken, gerichtet und vernichtet, und rührt sich nicht mehr.

„Hat er Ihnen nie von mir erzählt?“ fragt die junge Hausfrau von Lisät sachte. „Hat er Ihnen nie von Jofrid erzählt?“

Thorbjörg schüttelt stumm den Kopf mit dem Hut und mit allen Blumen und allem bunten Bändergeflatter.

Langsam erhebt sich Jofrid. „Wollen Sie nicht den Hut ablegen? Wie? Und er hat Ihnen also niemals gesagt, was er in seiner Jugend trieb? Ach, nein — auch das sieht ihm ähnlich ... Er reist fort von diesem Strande und schweigt. Und keine Macht der Welt vermag ihn wieder zurückzubringen ... Aber er wuchs trotz allem hier auf, müssen Sie wissen. Wir liefen beide als Kinder miteinander in diesen Bergen umher ... Und er war so manchesmal rein unmöglich — sonderbar, fast verrückt. Wir wanderten in die hellen Sommernächte hinaus ... Ja, wir zogen so oft miteinander in die Wildmark hinaus! Wir hielten uns bei den Händen wie Kinder ... Was sage ich? Kinder? — Wir waren doch noch Kinder! Oh, wie packte es mich doch, wenn er plötzlich stillstand und seine verwunderlichen Worte sagte! Er sagte: ‚Siehst du diesen Stein? Ein Stein auf der Ödmark. Ja, aber er hat ein Gesicht; er hat ein Gesicht mit Bart und Augen — siehst du es denn nicht? Es ist nur ein Stein; aber er meint es gut mit uns ... Und in diesem Busch dort lebt ein Märchen ...‘ Ach, Olav war stets so ganz anders als alle ... Er sah überall ferne und verborgene Dinge. Er hörte Stimmen im Wind. Er sah Schatten in der Nacht ... Wenn er neben mir im Heidekraut lag und leise erzählte, war seine Stimme wie eine Orgel ... Großer Gott — was rede ich nur! Man kann das ja gar nicht sagen ... Trotzdem ... Nein, Sie werden dies alles wahrscheinlich gar nicht verstehen ... Einmal wälzte er einen großen Stein den Abhang von Nora hinunter. Der Stein blieb vor der Haustür einer alten Witwe liegen, Siri, sie war sechzig Jahre alt und ganz weiß. Und dann ging er hin und wollte sie heiraten, nur aus Reue. Er war damals siebzehn Jahre alt ... Aber in einer Johannisnacht verbrannte er einen alten Wacholderbaum, den die Leute Priester nannten. Er verbrannte ihn meinetwegen ... Ach, wie vieles an ihm war unglaublich und völlig rätselhaft ... Jetzt sitje ich hier, und es fällt mir wieder ein. Und Sie brauchen ja gar nicht auf mich zu hören. Oh, schweigen Sie nur! ... Aber ich ...! Ja, und dann zog er fort. Auf einmal fährt er in die Welt hinaus und wird Seemann und alles, und gibt niemals Nachricht von sich. Und so nahm ich Trygve und kam nach Lisät. Dann kehrte er wieder zurück ... Dort im Stuhl saß er ... Aber, Liebe, grämen Sie sich nicht so! Nein, weinen Sie nicht ... Oh, ich hätte Ihnen dies alles gar nicht sagen dürfen. Aber es ist so sonderbar — er kam ja von Ihnen hierher — zu mir — an diesen Strand ...“

Und die Hausfrau starrt immerfort auf das fremde Mädchen und redet schnell und närrisch, redet wirre Worte und stammelt kleine Geheimnisse, die in ihrer Seele brennen, die sie unmöglich länger zurückhalten kann.

„Ja, ganz gewiß, er war auf seine Art ein Künstler und ein Dichter und stets ein wenig unheimlich. Einen ganzen Sommer lang schwärmte er von fremden Ländern, von Landstraßen ohne Ende und nächtlichen Wäldern mit kleinen Feuern, er schwärmte von Meer und Felsen und Rasten an grauen Regentagen ... Denken Sie nur, er wollte damals eine Drehorgel kaufen und mit mir hinausziehen. Wir waren ja nur Kinder. Aber ich kann es niemals vergessen! — Es war zugleich auch soviel Ernst dabei. Und ich wurde immer traurig seinetwegen ... Heute steht das alles wieder so lebend vor mir ... Aber da rede ich und rede, und Sie müssen doch müde sein. Reisten Sie denn nicht die ganze Nacht lang? Und wie ist das nun? Haben Sie ein Heim in der Stadt? Haben Sie noch Ihre Eltern?“

Jofrids Seele sprudelt — hastige, heiße, heftige Worte; ein Bergbach von Erinnerungen. So hat Jofrid sich in ihrem ganzen Leben nur einem einzigen Menschen offenbaren können ...

Ohne Zweifel, der Geist Olavs schwebt über ihr.

„Was wollen Sie nun beginnen?“ fragt sie atemlos.

Thorbjörg hebt den Kopf. „Wie? — Was soll ich denn beginnen ...? Ich gehe vielleicht mit seinem Kind.“

„Guter Gott!“ schreit Jofrid auf. „Was sagen Sie da?“

„Ja. Ich weiß nicht ... Vielleicht ist es auch nicht so. Ich habe es schon früher einmal geglaubt und mich geängstet. Aber es war dann doch nichts ...“

„Sie ängsteten sich?“ murmelt Jofrid. Die zehn Finger ihrer beiden Hände werden zu einem unlösbaren Knäuel. „Ach, fürchten Sie sich nur nicht! Wir hier bleiben seine Freunde zu jeder Zeit. Wir werden auch für sein Kind sorgen ... Heute will ich noch mit Trygve darüber reden. Trygve hat seinen Hof gekauft, den Hof Arvenik. Und nun sind gar keine Erben da ... Aber wenn Sie einen Sohn von Olav bekommen, so soll er den Hof von Arnevik wieder zurückerhalten, so wahr ich hier vor Ihnen sitze ...“

Bei dem Gedanken an Olavs Kind wird Jofrid ganz erregt und glühend. So ist Jofrid — frohgemut ist sie und ehrlich und groß und durchaus nicht engherzig. Jofrid — eine wahre Seltenheit in ihrer Art.

Nur gegen ihren Ehemann Trygve Eivindson kann Jofrid sich mitunter befremdend und fast feindselig verhalten. Es liegt das ganz gewiß nicht in ihrer Absicht, und es kann nicht ihre Schuld sein. Es gelingt ihr nur nicht immer, ihr junges, starkes Blut im richtigen Kurs zu steuern.

Der Ehemann Trygve geht indessen auf seinem Hofe umher und ist mißvergnügt mit dieser neuen Wendung und der ganzen Entwicklung auf Lisät. Ja, Trygve geht umher, betrachtet den frostblauen Himmel über sich und fragt: „Was soll nun das bedeuten? Was will dieses fremde Weib von uns? Ist es denn nicht schon mehr als genug, wenn es Olav verdorben und sein Leben gekürzt hat? Nein, zum Teufel, frage ich, was geht uns denn dieses Weib an ...“

In der Stube von Lisät sitzt zu dieser Zeit immer noch Jofrid und hält Thorbjörgs Hände und sagt tröstliche Worte. Jofrid neigt sich herab zu diesem fremden Weibe, das sie doch von allen Weibern der Welt am meisten hassen müßte. Es ist nur Güte in Jofrid. Und sie tut dieses alles wohl um Olavs willen. So groß und frei ist Jofrid.

Darum muß Trygve allein umhergehen mit seinen Fragen und allen seinen dumpfen Gedanken... Ja, wahrlich, Trygve wurde von einem losen Mädchen aus seiner eigenen Stube verdrängt und zur Seite geschoben. Er wurde von der Seite Jofrids verdrängt, gerade in der Zeit, da Jofrid sich ihm weich und fromm erzeigte.

Abermals ereignet sich etwas Seltsames: Ein Mann beginnt mit einem Schatten zu ringen. Ein Mann beginnt ganz ernsthaft und angstvoll zu ringen, als gelte es Leben und Seligkeit. Trygve, dieser einfache, biedere Landmann, der in der Einsamkeit von Lisät heranwuchs, behütet von einem alten Knecht, Trygve, der bis dahin nicht viel kannte, von den Geheimnissen des Daseins mit seinen Leidenschaften, Trygve gerät in ein heftiges Zerwürfnis mit sich und seinem Schicksal ...

Er hatte sich eines Nachts in der Berghütte mit Olav über manches ausgesprochen. Wenn es irgend etwas zu verzeihen gegeben, so ward es Olav, dem Lebenden, guten Herzens verziehen. Doch jetzt nähert sich der tote Olav wiederum dem Hofe von Lisät. Und es muß Herrn Eivinds Blut gegen des Zigeuner-Halsteins Blut aufs neue kämpfen. Soll denn dieser Kampf nun ewig fortbestehen?

Trygve Eivindson, lang von Gestalt und schmal in den Schultern, so wie er dasteht, sehnig und zäh und finster blickend, gleicht er einem Araber. Er hat ein kleines Gesicht mit einer wahrhaft unglücklich langen Nase darin. In seinem Wesen liegt stetsfort ein Wundern und Zögern und eine gewisse Scheu vor dem Unbekannten. Das muß daher kommen, weil Frau Dagmar so sehr viel erduldete, als sie mit ihm ging. Wenn aber dieser Trygve in Zorn gerät, bricht Herrn Eivinds starkes Blut auf einmal in ihm aus. Dann wird sein Gesicht weiß, und er verrichtet überraschende Taten ...

Nein, dieser Trygve ist kein mächtiger Herr mehr, wie vor ihm Eivind und Bardolf und alle die anderen. Nein, da fehlt viel. Jene früheren Herren lebten hier noch so über alle Maßen einsam. Sie lebten viele hundert Jahre lang hoch über dem Volk und sahen nur selten ihresgleichen. Sie standen so völlig abseits in ihrer Größe und wurden ein wenig wahnsinnig dabei. Sie wurden toll vor Macht und in ihren Wünschen grenzenlos. Darum nahm es ein übles Ende mit ihnen allen ...

Nun wohnt Thorbjörg auf Lisät. Sie sitzt am Herrentisch, verängstet, unbeholfen, klein, und sieht nach gar nichts aus. Vor Demut muß sie mit ihren langen Wimpern fortwährend die strahlenden Augen beschatten. Lisät ist wahrlich kein Käfig für diesen Sonnenvogel.

Trygve bleibt jeden Tag sich selber gleich, finster, schmallippig, mit tiefen Löchern in den Wangen vor Härte und Strenge.

„Wenn Thorbjörg einen Sohn bekommt“, sagt Jofrid, „soll er den Hof Arnevik zurückhaben.“

„Einen Sohn? — Welch ein Unsinn! Das müßte man sich jedenfalls gründlich überlegen“, sagt Trygve. „Ich weiß wahrlich nicht, was das Gesetz in diesem Falle fordert.“

Jofrid betrachtet Trygve aus den Augenwinkeln. Und sie betrachtet ihn sowohl lange als gründlich: „Welches Gesetz?“ fragte sie. Und nach kurzem Besinnen: „Wenn es sein leiblicher Sohn ist, Trygve? Sollte das vielleicht nicht genügen?“

„Ich weiß nicht — nein, ich glaube, es genügt noch lange nicht.“

Hierauf betrachtet Jofrid diesen Trygve, ihren Mann, noch einmal. Ihr Blick wird immer schärfer und spitzer. Es ist eine helle, eindringliche Schärfe darin, die das jähe Verstummen nur noch peinlicher macht.

Trygve, wie konnte er nur so blind und von allen guten Geistern verlassen sein — es war doch gar nicht so übermäßiger Eigennutz in ihm, sondern es handelte sich mehr um Auflehnung gegen die fremde Macht. Der erbitterte Trygve vermag also nicht sogleich zuzustimmen. Und Jofrid schweigt. Darum entsteht ein neuer Zustand. Der dauert ein paar Tage an, ein paar Nächte — es werden gefährliche Frostnächte.

Der Schatten wächst auf Lisät. Er zeigt sich überall. Besonders gut gedeihen kann er im finsteren Schweigen. Zwei Menschen konnten dieses Schweigen ihr ganzes Leben lang nie mehr vergessen.

Herren vom Fjord

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