Читать книгу Tyra, die Märcheninsel - Karl Friedrich Kurz - Страница 10
Nur ein altes gatter
ОглавлениеWarum aber mußte das tückische Schicksal denn ausgerechnet in diesen Tagen, an denen einer Fiedel wegen am Strande von Tyremoen alles aus dem rechten Kurs geraten will — warum mußte es den Hofbauer an das obere Gatter neben der Kätnerhütte führen?
Hätte man sich hierüber bei Finn selber erkundigt, so hätte man wahrscheinlich vernehmen können, daß ein Hofbauer sich leider um mancherlei zu kümmern hat, und sich bei weitem nicht nur mit den Wolken am Himmel und den verschiedenen Andeutungen und Aspekten im Kalender begnügen kann. Und da wäre also dieses Gatter. Das ist mit den Jahren wirklich schadhaft geworden. Wenn das Gatter nicht mehr schließt, merken es die Schafe bald, dann schleichen sie sich aus dem Walde heraus, um Finns Haferacker, der in diesem Frühjahr — Gott sei Preis und Ehre! — ganz besonders dunkelgrün steht, abzufressen und großen Schaden zu stiften.
Fern aller Sünde sind Finns Gedanken, als er sich des mangelhaften Gatters erinnert. Oder sollte das vielleicht schon ein Verbrechen und unsittlich sein, wenn Karen, die Witwe, mit dem Wassereimer aus ihrer Hütte tritt?
Karen kann ja gar nicht anders, sie muß auf alle Fälle am Bauer vorbei, wenn sie hinunter zum Elv will.
Ottny hingegen in ihrer Stube betrachtet dieses Vorkommnis mit anderen Augen. Sie betrachtet es vollkommen vom eigenen Standpunkt aus. Darum rasselt sie vor Empörung mit ihrem Brustkasten, stößt zugleich mit dem giftigen Atem die unglaublichsten Seufzer aus und ruft mit lauter Stimme alle bösen Geister zum Beistand herbei.
Wahrscheinlich sagt in diesem Augenblicke dort oben die Witwe: „Gesegnet sei deine Arbeit, du, Finn! … Ja, dieses Gatter wurde mit der Zeit wahrlich baufällig.“
Damit geht sie auch schon vorbei.
Nein, bewahre! Karen blieb nicht stehen — das können die weißen Wolken am Himmel und das können alle Blumen auf der Wiese bezeugen. Karen? Ihr Fuß zögerte nicht. Sie schaute nicht länger zum Hofbauer hin als unbedingt nötig gewesen, ihm diese paar unschuldigen Worte zu sagen.
Der Bauer Finn seinerseits muß darauf nun erwidern: „Dieses Gatter! — Es hat mich schon manches sündige Mal geärgert, sollst du wissen! Den ganzen Winter lang ging ich herum und dachte bei mir selber, ein neues zu arbeiten. Aber ich hatte doch, beim Hunde, keine Zeit, siehst du …“
Indessen hat ja die Witwe schon mehrere Schritte gemacht. Aber sie muß nun doch ein wenig stehenbleiben; und sie antwortet nach rückwärts und sicherlich nur aus reiner Höflichkeit: „Oh — ja du! Einem Manne wie dir, Finn, mag sowohl bei Tag wie bei Nacht manches durch den Kopf gehen.“
Jawohl! Dieses ist eine untertänige, schöne Sprache von einer Witwe einem Hofbauern gegenüber. Und somit wäre also das Gatter schon wieder vollständig in Ordnung. Der Bauer Finn hat zurzeit in dieser Gegend nichts mehr zu tun und kann sich anderen Dingen zuwenden.
Er stapft hinter der Witwe Karen her, und — Gott helfe ihm! — vor lauter Stolz und Selbstgefälligkeit muß er ihr noch eine weitere Mitteilung machen: „Ich sollte nun bald Mannschaft haben! Monrad kann nächste Woche einmal mit mir nach Fagarö rudern. Es ist nämlich so, daß ich mich schließlich doch noch entschlossen habe, eine von diesen neumodischen Maschinen anzuschaffen — und vorläufig soll es nur eine Mähmaschine sein … Jawohl. Und wir müssen natürlicherweise das große Boot nehmen …“
Ach, das stimmt vielleicht nicht so ganz genau. Bauer Finn hat die Mähmaschine in Wahrheit noch gar nicht bestellt. Der Handelsmann Laurentzen machte beim letzten Kirchgang nur so ein paar Bemerkungen darüber. Jedoch Karen wird von dieser strahlenden Neuigkeit völlig übermannt.
„Oh, du, Finn — du, Finn!“ ruft sie. „Wie du nur auf alle diese großen Ideen und Einfälle kommst! Und, Finn, für wie ungeheuer Vieles du stets die Geldmittel hast.“
„Nun?“ entgegnete Finn, „soll denn das Pferd den ganzen Sommer über nur so in der Wildmark herumlaufen und wiehern und die Mähne schütteln und sich einen runden Bauch anfressen, während wir armen, geplagten Menschen rackern und schuften?“
„Ja, darin hast du wieder vollkommen recht“, nickt Karen.
Da man unter solchen Redensarten in die Nähe des Hauses gelangte, beschleunigt die Witwe ihre Schritte, zieht ein wenig den Kopf zwischen die Schultern und schaut scharf auf den Weg, damit sie an keinen Stein stößt.
Und Finn, dieses große gutmütige Kind mit dem Vollbart, hat solcherart wieder ein paar frohe Minuten erlebt. Wie oft schon hat doch diese blasse Witwe den mächtigen Mann von Tyremoen mit ein paar guten, bewundernden Worten getröstet und sein Gemüt leicht und hoffnungsvoll gemacht.
Kann das nun alles miteinander frevelhaftes Gelüste oder verbotene Frucht oder Ehebrecherei genannt werden?
Hört jetzt nur Ottny an! Die faucht wie ein Feuerberg, die schießt in ihrer Stube herum wie eine Rakete. Sollte es nur noch ein klein wenig so weitergehen, muß sie völlig platzen und in die Luft fliegen.
Wenn der Bauer Finn ahnungslos und mit Engeln im Herzen eintritt und in weichem Tone fragt: „Hast du, Frau, wohl mein Dolchmesser irgendwo gesehen? Ich war dort oben am alten Gatter, da merkte ich, daß ich das Messer nicht mehr bei mir hatte …“
Hier kann Ottny sogleich aufwarten: „Das Messer? — Daß du das überhaupt noch merken konntest, du alter Narr und Ziegenbock.“ Hei, so brennt Ottny los. „Dein Messer? Du wirst es vor lauter Aufregung und Abgötterei verschluckt haben …“
„Aber, gute Frau …“ stottert der Hofbauer.
„Halt nur gleich dein Schandmaul und schweige still!“ schreit Ottny.
„Was ist denn nur geschehen? Und wo willst du denn jetzt so augenblicklich hinfahren?“
Ottny schwingt schon den Wassereimer in der Hand. Aber sie wendet sich noch einmal zurück: „Glaubst du vielleicht, ich hätte keine Augen im Kopfe?“ fragt sie. „Jetzt will ich zum Elv hinunter …“
Fort ist Ottny.
„Das war aber doch des Teufels!“ sagt der Hofbauer fassungslos zu sich selber. „Ist dir vielleicht schon so etwas begegnet?“
Ottny ist fort. Und wenn Karen, die Witwe, zu jeder Stunde des Tages nach Belieben Wasser am Elv holen darf, warum sollte da die Bäuerin Ottny nicht auch hin und wieder etwas Wasser aus dem Elv schöpfen dürfen? Hier trifft es sich allerdings so, daß dort unten schon Jenny, die gesegnete Kindermutter, mit ihrem Eimer steht.
„Ich gratuliere zu deinem neuen Kopftuch“, sagt Jenny mit ihrer überlauten Krähenstimme. Sie meint es wahrhaftig nicht böse. „Dieses ist, bessere mich, ein großartiges Tuch“, fügt sie hinzu. „Es glänzt wie Seide.“
„Oh — weit entfernt!“ entgegnet Karen mit einem verlegenen Lächeln. „Es ist ja auch gar nicht mehr neu. Ich habe es nur nicht mehr tragen wollen, weil es das letzte Geschenk Thorgeirs war.“
Dann kommt also Ottny herangebraust. Karen füllt schnell ihren Eimer und geht. Aber sie geht doch nicht schnell genug, als daß Ottny sie nicht hätte fragen können: „Dir muß also schon wieder Feuer ins Blut geschossen sein, daß du dich so mit allen Farben und Federn schmückst.“
Karen gibt darauf natürlich gar keine Antwort; sie schleppt schwer an ihrem Eimer und muß jetzt noch mehr als zuvor auf ihren Weg achten.
„Ahach — dieses alte Weibermensch!“ seufzt Ottny laut. „Paß nur gut auf, du, Jenny, und hüte deinen Jon. Denn Karen ist rein unmöglich zu solchen Zeiten. Wie sie hinter dem Mannsvolk her ist — nein, das kann man gar nicht sagen …“
„Ist sie das wirklich, Liebe?“ lacht Jenny. „Ja, Gott verzeihe ihr! Meinen Jon mag sie immerhin anschauen — hihihi! Karen? Nein, aber was denkst du nur, meine Liebe?“
„So? Als ob ich es nicht mit diesen meinen beiden leiblichen Augen gesehen häte — wie sie aus ihrer Hütte kroch und sich an Finn heranschlich … mit blutiger Fleischeslust und Verführung …“
Jenny stellt ihren Eimer wieder ins Gras und setzt sich auf einen Stein.
„Du himmlische Güte und Dreifaltigkeit!“ ruft Jenny.
Man lebt natürlich einsam genug an diesem Strande von Tyremoen, und ein unschuldiger Schwatz erquickt das Herz und erfrischt die Seele.
Dort nähert sich auch schon Ranveig von Höigaard, den Eimer am Arm. Sie hat gewittert, daß sich irgendeine Sache begeben will. Aber als die fleißige Frau, die sie stets ist, nähert sie sich strickend. Die stählernen Nadeln klirren und schießen scharfe Blitze in den blauen Morgen. Auch Ranveig setzt sich auf einen Stein. Alsdann wird die Witwe ein wenig gewaschen und gekämmt.
Das geht so lange, bis Ranveig auffährt und sich ihrer Pflichten erinnert. „Tröste mich! Jetzt muß ich aber heim und meinen Mannsleuten das Essen richten.“
Dann will Ranveig ihren Eimer füllen. Doch Ottny schiebt sie hastig zur Seite.
„Warte ein Weilchen — ich will zuerst die Steine waschen.“
„Was willst du?“ lacht Jenny schon wieder aufs neue. „Hihi … Nein, aber liebe Ottny, jetzt übertreibst du!“
„Kann man denn nur wissen, welcher Art Seuche und Pestilenz diese Menschen mit sich herumführen? Ich will nichts gesagt haben — aber ich frage: erinnert ihr euch noch an den großen Dorsch, den Thorgeir kurz vor seinem Tode gefangen hat? Hatte der nicht auch solche rotbraunen Flecke auf der Haut?“
Ottny wäscht die Steine, auf die sich Karen gestützt. Hierauf schöpfen die Weiber ihre Eimer voll und machen sich in Frieden auf zu ihren Kochöfen.
Jenny und Ranveig haben denselben Weg und gehen nebeneinander her. Und Jenny sagt: „Ich glaube von dem allem kein einziges Wort. Aber ich glaube, diese Ottny muß von einem schlimmen Teufel besessen sein. — Und Finn, diese Windtüte! Finn und Fleischeslust — hast du vielleicht schon so etwas Tolles vernommen — hihihi!“
Ranveig trägt in einer Hand den Eimer, in der anderen den Strickstrumpf und entgegnet ernst und düster aus ihrem frommen Gemüte heraus: „Vieles ist möglich in dieser verderbten Welt. Nur im Himmel oben wohnt die wahre Seligkeit.“
Über einen solchen Spruch macht Jenny sich in ihrem tapferen Sinn keine unnötigen Gedanken.
Sie bleibt stehen. „Was ich sagen wollte — es steht bei euch im Graben bei der Mauer eine Menge Weiberrocken; es sollte wohl nicht verboten sein, wenn ich ein wenig pflückte, zu Tee?“
„So, zu Tee? — Der Herr bewahre uns vor Krankheit! Den Weiberrocken dachte ich aber für mich selber zu haben …“
Nun ist Ranveig zu Hause.
Friede und Stille liegt über der Natur. Der Elv klatscht an die Steine. Die Sonne scheint, und das Meer strömt nichts als pure Himmelsunschuld aus. In den paar grauen Häusern hat man einiges, worüber man Worte reden kann.
Der Lehrer Klagg verzehrt sein Mahl einsam am großen Tisch in der Nordstube. In der Südstube trägt Ottny für Mann und Tochter das Essen auf. Ihre Nasenlöcher sind jetzt nicht mehr so weit. Der Bauer Finn hingegen fährt sich mit seiner großen, borstigen Hand über Gesicht und Bart und fragt Hjördis: „Wie steht es mit deinen Fellen? Ich habe mich also bestimmt, nächste Woche einmal nach Fagarö zu rudern. Da kannst du mitkommen … Ja, es ist nämlich wegen der Maschine …“
„Wegen welcher Maschine?“ erkundigt sich Ottny sogleich.
„Wegen der Mähmaschine“, sagt Finn in fabelhaftem Gleichmut. Und da hat es jetzt das hitzige Weib Ottny, für alle ihre überflüssigen Redensarten vom Morgen.
„Jetzt glaube ich aber …! Mann, bist du denn ganz von Sinnen?“
Oh, Finn sitzt aber da, in Sicherheit und Größe. Und er hat natürlich schon etwas vernommen von dem, was sich am Elv ereignete. Mit einem listigen Augenblinzeln wendet er sich abermals an seine Tochter: „Wir werden also miteinander die Maschine holen … Wir nehmen das Großboot. Monrad soll auch mit dabeisein.“
„Ich — was sagst du? — Mir wird ganz übel!“ stöhnt Ottny. „Und womit willst du dann diese Maschine bezahlen?“
Hier sitzt nun allerdings der Mann, der in passender Weise zu antworten weiß. „Was das anbetrifft, Weib, so könnte ich mir, wenn es mir im Sinn läge, auch gleich noch eine Rechmaschine dazukaufen“, sagt Finn, immer seiner Tochter pfiffig zublinzelnd, und schaut darauf zum Fenster hinaus.
Die Menschen sind doch nicht so einfach, wie man gemeinhin glaubt. Da sieht man nun Finn, den Hofbauer, in neuem Lichte. Ganz gewiß ist der Geldbeutel in seiner Hosentasche nicht leer. Nein, es werden sich wohl mehrere Scheine darin finden, blaue und gelbe — ja, und vielleicht auch noch ein grüner. Welchen Wohlstand der Bauer aber täglich in seiner Hosentasche mit sich in der weiten Welt herumträgt, das weiß außer dem lieben Gott nur er selber; und er legt darüber keinem Rechenschaft ab.
Und wenn man gleich allem völlig bis auf den Grund kommen möchte, so hängt dieses wohl damit zusammen, daß Finn der erste Mann am Strande von Tyremoen ist und sich unmöglich von einem lausigen Häuslerbub und einer Fiedel in den Hintergrund drängen läßt.
Finn macht es als besonnener reifer Mann natürlich um vieles besser als der verwegene Ove. Er erfindet im richtigen Augenblicke die glorreiche Geschichte mit der Mähmaschine. Damit übertrumpft er sowohl Geige als Naturgenie.
Finn kann sich jetzt im Hochsitz zurücklehnen und mit der Hand über Gesicht und Bart streichen; er kann sogar hochfahrend und kurz angebunden gegen die himmlischen Gewalten und sein hitziges Weib sein und auf dringliche Fragen kaum halbe Antworten geben. Finn besiegt mit seiner Maschine auch Ottny und bringt sie auf andere Gedanken.
Während im Hause Finns von Fortschritt und Aufstieg die Rede ist, wird auf Sörbö unter unglaublichem Lärm die Grütze verzehrt. Der einzige, der hier schweigt, ist Jon, der Vater und Versorger, ein Mann, der mit trauriger Miene seinen Hornlöffel betrachtet und unentwegt von düstersten Vorahnungen erfüllt bleibt.
Was dem grauen Jon immerfort unmöglich erscheint, nämlich seine unmäßig vielen Kinder zu ernähren, das macht Jenny mit Gelächter und Spektakel ab. Alle die Kinder sind darüber zwar grau und mager, genau wie der Vater, geworden und klein von Wuchs geblieben, aber dabei von unerhörter Lebendigkeit.
Man kann auf Sörbö ganz gewiß nicht an eine Mähmaschine denken, man hält sich hier genau ans Bibelwort, verzehrt, Schweiß im Angesicht, die Hafergrütze und sorgt nicht für den morgigen Tag. Und bis dahin hat noch ein jeder Tag immer das Seine gebracht.
Zu allem Überflusse liegen jetzt auch noch ein paar Säcke Wolle auf dem Dachboden, Winterwolle, feinste Lammwolle. Jon ist trotz seiner düsteren Weltanschauung ein tüchtiger Mann und ein Bauer durch und durch. Er gräbt im Moor und leitet immerzu das Grundwasser ab, und er schleppt Steine und rodet Erdreich. Er rodet in zäher, langsamer und mühseliger Arbeit und mit verbissenem Trotz jedes Jahr ein Stück Land — o ein lächerliches Stücklein Land! Aber Jon gibt nicht nach; ebensowenig wie der Kindersegen nachgibt. Dadurch glückte es ihm, in gewissem Sinne durch seiner Hände Arbeit, bis zu dieser Stunde mit der himmlischen Verfügung einigermaßen Schritt zu halten. Auf diese Weise ist nicht nur die Familie, sondern auch der Hof stetig gewachsen — und Jenny wird sicherlich gewinnen und Siegerin bleiben in diesem Rennen, sie, mit ihrem unverwüstlichen Lebensmute.
O Jenny! Sie hat ganz gewiß eine häßliche Krähstimme und nur noch die zwei allerletzten Zähne im Munde. Sie ist erbärmlich abgenutzt und verbraucht in einem harten, gnadenlosen Leben, jedoch das Lachen sitzt ihr noch ebenso locker im Halse wie zu ihrer Jungmädchenzeit, da sie noch auf Fagarö diente und von einer Zukunft träumte. Wer weiß, ob es nicht das wunderbare Lachen war, das dieses verhutzelte Weibchen bis dahin am Leben erhalten.
Nach dem Essen zieht Jon mit seinen unstillbaren Sorgen und allen seinen Kindern wieder hinaus aufs Moor, um weiter zu graben und Erde zu schaufeln. Jenny aber steigt auf den Dachboden hinauf und zupft aus jedem Sack eine Handvoll Wolle. Jenny weiß doch sehr wohl, daß diese Wolle der Handelsmann Laurentzen haben muß für allerlei Waren, die leider zum Leben notwendig sind, und sie weiß, daß es bei weitem nicht reichen wird. Höchstens so viel wird der harte Kaufmann geben, daß man wieder ein wenig Kaffee und Mehl kaufen kann.
Aber Jenny zupft trotzdem eine Handvoll aus jedem Sack und schnürt sie in ein Bündel. Sie schnürt das Bündel hart zusammen, so daß es nicht größer als notwendig erscheinen soll. Dann hängt sie sich den großen Tragkorb über die spitzen Schultern und nimmt die Sichel zur Hand. So können Jon und seine Kinderschar und der ganze Strand sehen, daß Jenny in den Wald geht, um Gras zu sammeln für die kranke Ziege, die im Stalle meckert.
Jenny steigt die Berghalde hinan und klettert über den Steinwall, mäht da ein wenig und mäht dort ein wenig, und kommt so bis an die Kätnerhütte. Hier wartet sie ein Weilchen, horcht in die Stille der Natur hinaus und faßt dann einen merkwürdigen Gedanken, sie öffnet das Gatter und schlüpft zu Karen in die Stube.
„Gestern ist eine meiner Ziegen lahm geworden in den Beinen“, sagt Jenny. „Nun weiß ich mir keinen anderen Rat, als sie im Stall zu halten. Es ist meine beste Milchziege … Ich sehe, du spinnst dunkles Garn, Karen. Dann muß es wohl die Wolle von Ottnys Schafen sein. Soviel kann ich verstehen. Feines Garn — das soll wohl gewoben werden…
Soweit Karen von dieser Sache unterrichtet ist, ist es zu einem Tuch für den Bauer selber bestimmt. Und so reden die beiden, und es wird ein Gespräch.
Ist Karen vielleicht vernichtet und völlig niedergeschlagen von dem Ereignis am Elv? Sie ist nicht vernichtet. Sie kennt den Lauf des Lebens und ist schon längst weise geworden. Sie ist still geworden. Sie wurde freundlich und duldsam wie ein Hund, der es gelernt hat, die guten und schlimmen Launen der Menschen zu ertragen.
„Mein altes Kopftuch mußte ich doch Monrad geben. Es geht noch immer nicht gut mit seiner Wange. Und ich kann keine Zugluft ertragen.“
Jenny läßt sich auf der Bank nieder. Sie sagt: „Wußte ich es denn nicht selber die ganze Zeit lang. Ottny hat sich sündhaft benommen. Aber einmal wird auch sie vor der himmlischen Obrigkeit erscheinen müssen. Dann kann sie der gerechten Strafe nicht mehr entgehen … Was soll man sagen? So verhielt es sich leider von jeher: die Reichen vergessen ihre Seele und tun unrecht an den Geschöpfen Gottes, nur aus Stolz und Hochmut … Du sollst nicht länger daran denken, du, Karen — bei all deinen Aussichten mit Monrad …“
Hierauf reden sie noch eine Zeitlang; Karen wird dadurch so erleichtert, daß sie aufsteht, um Kaffee zu kochen. Aber Jenny will das nicht. „Nein, durchaus nicht! Ich möchte es lieber auf ein andermal zugute haben … Aber als ich heute nach Hause kam, mußte ich daran denken, daß wir dir noch einigen Lohn schulden — du weißt doch, von der Kartoffelernte her.“
„Ihr schuldet mir keinen Lohn“, entgegnet Karen.
„Das sagst du so! Aber es fiel mir heute wieder ein. Nun ist es bei uns leider knapp mit dem baren Geld. Und ich bringe dir ein wenig Wolle — sei so gut, verschmähe sie nicht.“
„Du schuldest mir doch gar nichts“, sagt Karen abermals.
Wie hilflos sie doch ihre mageren Arme hängen läßt.
„Das sollst du aber nicht behaupten!“ wehrt sich Jenny. „Wenn wir auch nicht gerade Überfluß leiden an irdischen Gütern, so darf man uns doch nicht nachreden, daß wir dir den Lohn schuldig bleiben … Und dort liegt also die Wolle. Und ich habe es auch schon zu Ranveig gesagt, daß alles miteinander eine abscheuliche Lüge sein muß …“
Karen hebt die Hand, und ihre Stimme ist dünn und kläglich. „Nein. Gott segne dich für dieses Wort und alles miteinander! Aber nimm die Wolle wieder mit dir …“
Sie reden noch mehreres und schieben dabei das Wollbündel hin und her und werden alle beide davon warm und glücklich. Das Ende wird natürlich, daß Jenny mit verhaltenem Gelächter zur Stube hinausschlüpft.
Noch unter der Tür murmelt Karen verwirrt: „Nein, Gute, Dank und Ehre! Aber du hättest es nicht tun sollen …“ Hernach betrachtet sie lange das Wollbündel, wägt es in der Hand, legt es wieder hin und schüttelt den Kopf. Dann spinnt sie weiter an ihrem dunklen Wollgarn, das einmal zu Finns Kleid werden soll.
Jenny trägt Waldgras nach Sörbö und füttert die kranke Ziege. Das und alles übrige ist nichts Wunderbares — nichts, worüber man den Kopf schütteln müßte … Ein wenig Regen, ein wenig Sonnenschein zogen über die Märcheninsel hin.