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BERGLEIDENSCHAFT

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Sobald ich gehen konnte, nahm mich meine Mutter auf Ausflüge und Wanderungen in die heimatlichen Berge des Arlberg mit. Zuerst zu Spielplätzen am Bach im Schöngraben, zum Beerensammeln im Maroi mit Kreuzottererlebnis, auf den Erzherzog-Eugen-Weg oder auch den Arlenweg, auf Ausflüge über den Kristbergsattel von Dalaas nach Schruns, auf Wanderungen zum Spullersee im Lechquellengebirge, aber auch auf anspruchsvolle exponierte Wanderungen wie den oberen Höhenweg vom Kapall zur Leutkircher Hütte. Es war im Frühsommer 1954: In St. Anton gab es kein Kino und natürlich auch kein Fernsehen, aber Walter Schuler hatte in seinem Hotel Post einen Saal für Filmvorführungen eingerichtet. Dort sah ich den Film über die Erstbesteigung des Mount Everest durch den Neuseeländer Edmund Hillary und den Sherpa Tenzing Norgay. Ich war fasziniert und begeistert, und bei der nächsten Wanderung bat ich meine Mutter, mir einmal einen Eispickel zu kaufen, damit ich diesen starken Männern nacheifern könne.

Als ich fast zehn Jahre alt war, nahm mich mein Onkel Franz Rofner mit auf den Patteriol (3056 m), das matterhornähnliche Wahrzeichen des Verwalls und des gesamten Arlbergs. Mit dabei waren auch seine Kinder Harald und Doris, unser Cousin Gerhard Pedrini aus Innsbruck und Brigitte Walter, eine Freundin von Doris. Mit insgesamt fünf Kindern, die ältesten waren gerade einmal zwölf Jahre alt, brach Onkel Franz von der Konstanzer Hütte auf. Extra für diese Tour hatte mir meine Mutter eine schicke Knickerbockerhose aus Schnürlsamt geschneidert. Als Kopfbedeckung trug ich einen normalen Hut, Steinschlaghelme gab es ja noch nicht. Alle zusammen erreichten wir den Gipfel des Patteriol nach einigen Stunden, die letzten zwei Stunden mussten wir im zweiten Schwierigkeitsgrad klettern. Noch heute wundern Harald und ich uns, dass sich Onkel Franz traute, diese Klettertour auf diesen markanten Gipfel mit fünf Kindern ohne Seil zu unternehmen. Uns bescherte Onkel Franz’ Mut aber ein prägendes Erlebnis. Unsere Freude und unser Stolz waren riesengroß.

Mit meinem Vater und seinem Freund Richard Murr durfte ich als Zehnjähriger zur Gämsenjagd zur Erlachalpe ins „Erli“, nördlich der Valluga. Zweimal sollten wir auch übernachten. Einmal in einem Heustadel auf den Fallerstaißwiesen und das zweite Mal auf der Erlachalpe selbst. Es waren zwei wunderschöne Sommertage am Fuße von Fallerstaiß- und Roggspitze. Wir pirschten uns in diesen zwei Tagen mehrmals an Gämsen an. Richard schoss viermal und verfehlte viermal. Lapidar und nicht unglücklich sagte er nach jedem Fehlschuss: „Dann lassa mir sie halt leba“. Er hätte mir gar keine größere Freude machen können als mit den nicht getroffenen Gämsen, die nach dem Schuss davonspringen konnten.


Blick vom Kuchenjoch auf den winterlichen Patteriol (3056 m) im Verwall. Meine Winter-Erstbegehungen des Nordostgrats im Februar 1972 (rechts) und des mittleren Südostpfeilers im März 1973 wurden bis heute nicht wiederholt.

Als Elfjähriger bestieg ich mit Onkel Franz und meinem Cousin Harald den Hohen Riffler (3160 m), den höchsten Berg der Verwallgruppe und weithin sichtbaren Eckpfeiler. Kurz vor meinem 15. Geburtstag kaufte ich mir das Buch „Klettern im Fels“ von Franz Nieberl. Ich begann nun theoretisch bergzusteigen. Mit meinen Schnürsenkeln übte ich Bulinknoten, Sackstich, Prusikknoten, Weberknoten und Spierenstich. Diese genügten für die damalige Seiltechnik. Und im Sommer 1962 wurde ich von einigen Jesuitenpatres auf die Zimba im Rätikon mitgenommen. Meine Bergleidenschaft war geweckt und spontan fingen mein Cousin Harald Rofner, mein Nachbar Walter Strolz und ich an, die heimatlichen Gipfel, darunter auch leichte Felsgipfel wie die Weißschrofenspitze, zu besteigen. Immer wieder schweifte unser Blick hinüber zur steil aufragenden, felsigen Roggspitze nördlich der Valluga. Ein echter Kletterberg.

Damals gab es keinen Brust- oder Sitzgurt, sondern man band sich direkt mit einem Bulinknoten ins Hauptseil ein, das um die Brust geschlungen war. Auch Perlonseile waren noch nicht üblich. Und die Karabiner waren aus Stahl statt aus Alu, ebenso wie die Felshaken. Der Stiel des Hammers war aus Holz. Gesichert wurde über die Schulter und nicht mit Sicherungsgeräten wie einem Achter. Und beim Abseilen mit der Dülfermethode fraß sich das über einen Schenkel und die entgegengesetzte Schulter verlaufende Seil wegen der Reibungswärme durch die Kleidung und hinterließ auch Brandwunden auf der Haut.


Am Südpfeiler der Roggspitze in den Lechtaler Alpen: Sich ohne Sitzgurt direkt ins Hauptseil einzubinden war damals die übliche Anseilmethode. Dazu gehörten steigeisenfeste Lederschuhe und Schnürlsamt-Knickerbocker.

Mit Harald wollte ich den Südpfeiler der Roggspitze erklettern, der als Genusskletterei galt. Wir hatten aber keine Ahnung, wie schwer diese Route war. In meinem ersten Kletterjahr war ich idiotisch mutig. Das betraf nicht nur mein Können, sondern auch die Ausrüstung. Walter lieh uns ein altes, etwa 20 Meter langes Hanfseil, das beim Heuen verwendet wurde und einen Durchmesser von etwa acht Millimeter aufwies. Im Sporthaus Hannes Schneider besorgte ich mir einige Eisenkarabiner, mehrere geschmiedete Felshaken und einen Felshammer. Mutig stiegen Harald und ich am Pazüeljoch in den Südpfeiler ein, der 250 Meter in den Himmel ragt. Oft den Schwierigkeiten auf Bändern ausweichend, erreichten wir kurz unter dem Gamsband nach etwa zwei Dritteln der Tour die Schlüsselstelle: einen abdrängenden Riss, den ich persönlich wegen meiner kurzen, zum Spreizen weniger geeigneten „Haxen“ mit IV+ bewerte. Den Blick für den Verlauf einer Route hatten wir noch nicht, und so probierte ich lange, ehe ich direkt im Riss, mit Hängen und Würgen, den Durchstieg schaffte. Nicht auszudenken, was bei einem Sturz passiert wäre. Das in einen Haken und Karabiner eingehängte Hanfseil wäre bei einem Sturz von mehr als einem Meter sicherlich gerissen und ich wäre dann fast 200 Meter bis zum Wandfuß abgestürzt. Nach dieser Tour lieh uns Onkel Pepi fortan sein neues, geflochtenes Perlonseil.


Mit Walter Strolz am Weg zur winterlichen Bacherspitze. Im Hintergrund der Hohe Riffler (3160 m). Die eierförmigen Steinschlaghelme waren in den 1960er-Jahren modern.

Bei einer Wanderung auf dem Ludwig-Dürr-Weg, der von der Friedrichshafener zur Darmstädter Hütte führt, übernachteten wir Anfang September 1962 auf der Darmstädter Hütte. Immer wieder schaute ich mit Harald zur mächtigen Kuchenspitze (3148 m), zu ihrer Nordwand mit ihren zwei Eisfeldern und zum Ostgrat hinauf. Über den Ostgrat kletterten wir wenige Tage später auf den Gipfel der Kuchenspitze. Und vom Gipfel aus sahen wir im Westen den nahen Patteriol mit seinem Ostgrat aus dunkler Hornblende, der sich 1300 Meter mächtig über das Fasultal erhebt. Das war unser nächstes Ziel. Im Führer des Bergverlages Rother fanden wir eine Beschreibung und Fotos dieser Tour. Beim Anseilen am Schneefeld unterhalb des Grates sahen wir zwei Kletterer rasch aufsteigen. Es waren Innsbrucker, und als sie an uns vorbeigingen, musterten sie uns und blieben stehen. Einer von ihnen kam zu uns herüber, und ohne mit uns zu schimpfen, nahm er den Bulinknoten vor unserer Brust und zurrte ihn fest, wir hatten diesen nämlich nicht durch die Schlaufe gezogen. Von da an wussten wir, wie der Bulinknoten richtig gemacht wird. Weil ich mehrere Felshaken trug, bat mich Harald, auch einen Haken tragen zu dürfen, weil dies so toll aussehe. Selbstverständlich bekam er einen. Es dauerte lange, bis wir den Gipfel des Patteriol erreichten. Aber wir kamen unter dem gestrengen Blick von Ludwig Tschol, Bergführer und Hüttenwirt der Konstanzer Hütte, der unser Treiben durch einen Feldstecher beobachtete, am Gipfelan.

Mit der Zeit waren wir dann zu viert, die auf die heimatlichen Berge kletterten: Mein Freund Walter Strolz, mein Cousin Harald Rofner, Bernhard Pfeifer und ich. Mit Bernhard, einem Bewegungstalent, beging ich auch die Nordwand des Patteriol. Einmal – wir stiegen von der Weißschrofenspitze durch das Törli zum Schöngraben ab – sahen wir direkt nach dem Törli einen mehrere hundert Meter hohen Lawinenkegel in den Schöngraben hinunter. Der Bach hatte den abgelagerten Lawinenschnee unterhöhlt. Warum wir dann durch das Bachbett 200 Meter unter der Lawine ins Tal wanderten – diese verrückte Idee können wir uns heute noch nicht erklären.

Fast drei Jahre lang kam das Bergsteigen dann zu kurz. Einerseits schrieb ich eine umfangreiche Dissertation über die Messungen an der ehemaligen Forschungsstation Hochserfaus im sonnigen, trockeneren inneralpinen Klimagebiet des Oberen Gerichtes südlich von Landeck, wobei ich zum ersten Mal auch extremwertstatistische Methoden zur Beurteilung der Jährlichkeit von Neuschneehöhen angewendet habe. Andererseits übernahm ich im Malerbetrieb meines Vaters die Büroarbeiten. Ich schrieb die Rechnungen, erledigte die doppelte Buchführung bis zur Rohbilanz und berechnete sogar die Löhne der Mitarbeiter. Fast drei Jahre war ich an jedem Wochenende im Büro. Als mein Vater im November 1973 starb, übernahmen meine Schwester Erika und mein Schwager Kurt den Betrieb und auch die Büroarbeit.

Einmal, ich war zwei Jahre nicht mehr auf einer längeren Bergtour gewesen, plante ich mit Gerhard Markl aus Innsbruck, den Monte Rosa über seine 2000 Meter hohe Ostwand, die höchste Eiswand der Alpen, zu besteigen. Gerhards alter Peugeot war ein abenteuerliches Fahrzeug. Auf der Hinfahrt nach Macugnaga öffnete sich in einem Tunnel in der Schweiz die Motorhaube und versperrte die Sicht nach vorne. Gerhard meisterte das Problem locker, indem er das Seitenfenster herunterkurbelte und dort hinausschaute, bis der Tunnel zu Ende war. Auf der Rückfahrt verbrauchte das Auto für den defekten Kühler mehr Wasser als der Motor Benzin. Die Monte-Rosa-Ostwand bestiegen wir über das Marinelli-Couloir in zwei Etappen: am ersten Tag bis zur winzigen Biwakschachtel, dem Marinellibiwak, am zweiten über den Zumsteinsattel zum Gipfel. Bis auf die letzten 250 Höhenmeter gingen wir seilfrei, dann spürte ich konditionell meine zweijährige Trainingspause und bat Gerhard, uns wegen meiner wacklig gewordenen Beine anzuseilen. Nun, vierzig Jahre später, dürfte die Monte-Rosa-Ostwand aufgrund der Erwärmung eine äußerst stein- und eisschlaggefährliche Wand geworden sein.

„Ich habe die Wolken von oben und unten gesehen

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