Читать книгу Maß- und Formänderungen infolge von Wärmebehandlung von Stählen - Karl Heeß - Страница 18
Оглавление1.2 Entstehung von Maß- und Formänderungen1
Als Ursache von Maß- und Formänderungen sind heute zwei Ursachen bekannt, die sich durch die Begriffe
Volumenänderungen und
Verformungen
Bild 1.1:
Ursachen für Maß- und Formänderungen
charakterisieren lassen (Bild 1.1). In den folgenden beiden Abschnitten werden die zugehörigen Zusammenhänge diskutiert.
1.2.1 Volumenänderungen
Volumenänderungen resultieren prinzipiell aus Dichte- und/oder Masseänderungen. Letzterer Fall tritt bei jeder thermochemischen Behandlung auf, da in deren Verlauf zusätzliche Atome in den oberflächennahen Bereich eingebracht werden. Natürlich tragen auch ungewollte Veränderungen wie bspw. eine Randschichtoxidation oder eine Entkohlung zu diesem Effekt bei. Diese gewollten oder ungewollten Randschichtmodifikationen führen neben der Masseänderung in der Regel auch zu Dichteänderungen.
Die Dichte wird aber auch durch Phasenumwandlungen und Ausscheidungsprozesse nachhaltig beeinflusst, die ihrerseits von der (lokalen) chemischen Zusammensetzung und dem prozessabhängigen Temperatur-Zeit-Pfad bestimmt werden. Weiterhin können Spannungen das Umwandlungsverhalten nachhaltig beeinflussen (bspw. /Ahr00/).
Bild 1.2 zeigt die Abhängigkeit der reziproken Dichte – dem spezifischen Volumen – vom Kohlenstoffgehalt /Lem59/. Diese Darstellung von Lement basiert auf röntgenographischen Messungen der Gitterkonstanten und enthält im Original eine Vielzahl weiterer Abschätzungen. An dieser Stelle wurde die Zahl der dargestellten Phasen bewusst begrenzt. So benötigt der Austenit das geringste Volumen pro Masseneinheit, er weist die höchste Dichte auf. Phasengemische aus Ferrit und Zementit und der Martensit benötigen mehr Volumen. Mit wachsendem Kohlenstoffgehalt steigt das spezifische Volumen für alle genannten Phasen näherungsweise linear an. Die Differenz zwischen den Geraden für Ferrit + Zementit und Martensit vergrößert sich dabei deutlich mit wachsendem C-Gehalt. Entsprechendes gilt für die Volumenänderung eines Bauteiles nach der martensitischen Härtung, das im Ausgangszustand aus Ferrit und Zementit bestand. Mit Hilfe von Bild 1.2 oder unter Verwendung der in /Lem59/ angegebenen Formeln können die resultierenden Volumenänderungen abgeschätzt werden.
Bild 1.2:
Der Einfluss des Gefügezustands auf das spezifische Volumen von Kohlenstoffstählen /Lem59/
Die Ursache für dieses Verhalten ist in der Atomanordnung im jeweiligen Elementargitter zu sehen. So sind die vier Atome/Elementarzelle im kubisch-flächenzentrierten Gitter des Austenits entsprechend dichter gepackt als die zwei Atome/Elementarzelle im kubisch-raumzentrierten Gitter.
1.2.1.1 Volumenänderungen durch Umwandlungen
Die im Detail ablaufenden Vorgänge bei der Erwärmung und Abkühlung können mit diesen Überlegungen natürlich nicht erfasst werden. Dafür ist der Einsatz eines Dilatometers hilfreich. Bild 1.3 zeigt einen vollständigen Wärmebehandlungszyklus für eine Probe aus 20MnCr5, die im Ausgangszustand FP-geglüht war. Die Umwandlung in Austenit zeigt die aus der Verringerung des spezifischen Volumens zu erwartende Verkürzung, während die Umwandlung zu Martensit mit einer Volumenvergrößerung einhergeht resultierende Längenänderung am Ende des Zyklus ist vergleichsweise gering, aber positiv und entspricht damit den in Bild 1.2 aufgezeigten Verhältnissen bei einem Kohlenstoffgehalt von 0,2 %.
Die Rückumwandlung von Austenit zu Martensit bringt drastisch größere Maßänderungen mit sich. Beispielhaft ist die Volumenänderung in Form einer Längenänderung in der in Bild 1.3 dargestellten Dilatometerkurve für einen 20MnCr5 zu sehen. Wertet man diese Kurve bei 50 °C aus, so stellt man in diesem Beispiel eine Längenzunahme von 0,9 % des martensitischen Gefüges verglichen zum ferritisch-perlitischen Ausgangszustand fest. Erkennbar sind auch die unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten von Ferrit-Perlit und Austenit.
Bild 1.3:
Längenänderungen beim Blindhärten des 20MnCr5 /Lüb12/
1.2.1.2 Volumenänderungen durch Ausscheidungen
Ausscheidungen verursachen kleinere Maßänderungen, die aber im Dilatometer noch gut nachweisbar sind. Bild 1.4 zeigt dies am Beispiel der Carbidausscheidungen beim ersten Anlassen des Stahls X155CrVMo12-1. Die Abweichung vom linearen Ausdehnungsverhalten bei ca. 260 °C ist auf diesen Vorgang zurückzuführen. Weiterhin sind die Bildung von kubischem Martensit und die erneute Martensitbildung am Ende der Abkühlung von Anlasstemperatur erkennbar.
Bild 1.4:
Längenänderungen beim ersten Anlassen des X155CrVMo12–1 nach einer Austenitisierung bei 1050 °C und Ölabschreckung /Lüb12/
1.2.2 Verformungen
Zur Verzugsentstehung beitragende Verformungen lassen sich in plastische und elastische Verformungen unterteilen. Die für die Maß- und Formänderungen infolge Wärmebehandlung relevanten elastischen Verformungen entstehen bei der Wärmebehandlung selbst und werden durch die Eigenspannungen des Bauteils hervorgerufen (s. Bild 1.1).
Jede Veränderung des am fertigen Bauteil vorliegenden Eigenspannungszustandes führt dann über plastische Verformungen unvermeidbar zu Änderungen in den elastischen Verformungen und damit zu Maß- und Formänderungen. Dies kann bspw. durch thermische oder mechanische Lasten im Einsatz des Bauteils erfolgen. Auch ein mechanischer Eingriff in das Spannungsgleichgewicht z.B. durch lokale Abtragprozesse führt zu Verformungen.
Zur Erzeugung von plastischen Verformungen sind Spannungen notwendig. Diese können mehrere Ursachen haben. Einerseits können es Wärme- und Umwandlungsspannungen sein, wie sie bei vielen Wärmebehandlungsprozessen aufgrund von thermischen bzw. thermischen und chemischen Gradienten entstehen. Diese werden im Detail im Abschnitt 1.3 diskutiert.
Andererseits können Lastspannungen zu Maß- und Formänderungen führen. Hier sei bspw. der Einsatz von Abschreckfixturen genannt, die zur gezielten Erzeugung von Richtkräften beim Abschrecken von bestimmten Bauteilgruppen wie bspw. Synchronringen, Schiebemuffen, Kupplungskörpern und Tellerrädern, eingesetzt werden /Hee99/. Aber auch durch Verspannen einer Gruppe von Führungsleisten werden Lastspannungen erzeugt, die die Einzelteile eines solchen Pakets in Form halten /Hub92/.
Nicht vergessen werden darf, dass das Eigengewicht des Bauteils als Lastspannung wirkt. Speziell für dünnwandige Teile können hier bei mangelnder mechanischer Unterstützung oder aber in Kombination mit Reibung zwischen Bauteil und Auflage, besonders bei mehrlagiger Chargierung, Lastspannungen in kritischer Höhe entstehen.
Letztendlich wirken Eigenspannungen, die aus den Prozessen vor der Wärmebehandlung stammen, genauso wie die oben erwähnten Eigenspannungen nach der Wärmebehandlung. Der Unterschied liegt darin, dass bei einer Wärmebehandlung die Temperaturen zwangsläufig höher sind als im Einsatz. Entsprechend können daraus deutlich größere Maß- und Formänderungen entstehen. Details zu diesem und dem vorangegangenen Aspekt werden in /Sur12/ am Beispiel der Produktion von Wälzlagerringen vorgestellt.
Aus den Spannungen können aber letztlich nur dann Maß- und Formänderungen resultieren, wenn sie zu plastischen Verformungen führen. Dies kann durch eine Überschreitung der Streckgrenze geschehen, durch Umwandlungsplastizität oder durch Kriechprozesse (Bild 1.1). Für jeden dieser Effekte ist die Ursache der Spannung unerheblich.
1.2.2.1 Plastische Deformationen durch Streckgrenzenüberschreitung
Beim erstgenannten Mechanismus bedarf es einer Mindestspannung, die größer als die lokale Streckgrenze ist. Diese Größe ist u.a. abhängig von der Temperatur (Bild 1.5, links). Bei niedrigen Temperaturen können vergleichsweise große Spannungen elastisch ertragen werden. Mit steigender Temperatur sinkt dieser Widerstand gegen eine plastische Deformation aber immer weiter ab, bis er bei üblichen Haltetemperaturen nur noch wenige zig MPa beträgt. Zudem tritt bei diesen Temperaturen nur noch eine geringe Verfestigung auf, so dass geringe Überschreitungen der Streckgrenze zu großen plastischen Deformationen führen können: 65 MPa reichen bei 700 °C aus, um eine plastische Deformation von 0,2 % zu erzeugen (Bild 1.5, rechts).
Bild 1.5:
Temperaturabhängigkeit der Streckgrenze des 100Cr6 im GKZ-geglühten Ausgangszustand (links) und zugehörige Spannungs-Dehnungskurven bei 20 und 700 °C gemessen mit einer Dehnrate von 40×10-4 1/s (rechts) /Lüb12/.
1.2.2.2 Plastische Deformationen durch Umwandlungsplastizität
Im Gegensatz zum gerade besprochenen Mechanismus benötigt die Umwandlungsplastizität keine Mindestspannung für plastische Deformationen. Das umwandlungsplastische Dehnungsinkrement ist proportional zum Spannungsdeviator (im einachsigen Lastfall proportional zur wirkenden Spannung) und tritt immer dann auf, wenn ein Umwandlungsprozess und eine Spannung zeitgleich auftreten /Bes93/. Dabei ist es gleichgültig, ob Austenit oder eine ferritische Phase gebildet wird. Die Proportionalitätskonstante zwischen der umwandlungsplastischen Dehnung und dem Spannungsdeviator hängt aber von der Art der Umwandlung ab /Dal06/.
In Bild 1.6 sind Dilatometerkurven für die Martensitbildung des 42CrMo4 dargestellt. Es zeigt sich, dass eine Spannung, die kurz vor Beginn der Umwandlung aufgebracht wird, die spannungsfreie Kurve deutlich verändert. Für die Martensitbildung beim 42CrMo4 ergab sich für die Proportionalitätskonstante ein Wert von 4,2×10-5 mm²/N. D.h. bei einer Spannung von 50 MPa resultiert in diesem Fall nach vollendeter Umwandlung eine umwandlungsplastische Deformation von 0,2 %.
Die Umwandlungsplastizität sorgt speziell bei zeiligem Gefüge für eine Anisotropie und Ortsabhängigkeit der Umwandlungsdehnung. Insbesondere beim Erwärmen von Bauteilen im FP-geglühten Zustand mit ausgeprägten Zeilen aus Ferrit und Perlit können durch diesen Effekt auf mesoskopischer Ebene deutliche Maß- und Formänderungen der Bauteile auf makroskopischer Ebene hervorgerufen werden. Details dazu werden in /Hun12, Ren12/ vorgestellt.
Bild 1.6:
Einfluss von Spannungen auf das Längenänderungsverhalten bei der martensitischen Umwandlung am Beispiel des Stahls 42CrMo4 /Bes95/
1.2.2.3 Plastische Deformationen durch Kriechen
Auch der dritte verzugsrelevante Plastizitätsmechanismus – das Kriechen – bedarf keiner Mindestspannung. Er wirkt speziell bei erhöhten Temperaturen und ist ein zeitabhängiger Effekt (s. Bild 1.7). Selbst bei einer sehr moderaten Spannung von 5 MPa resultiert bei einer beim Aufkohlen üblichen Temperatur von 940 °C bereits nach einer Stunde eine plastische Deformation von 0,2 %.
1.2.2.4 Relevanz der Mechanismen
Die Umwandlungsplastizität ist sowohl beim Erwärmen als auch beim Abkühlen ein relevanter Verzugsmechanismus.
Die Streckgrenzenüberschreitung ist primär beim Abschrecken von großer Bedeutung. Beim Erwärmen spielt sie dann eine Rolle, wenn sehr große Fertigungseigenspannungen im Teil vorliegen, die bereits bei geringen Temperaturen die Streckgrenze überschreiten.
Das Kriechen spielt beim Abschrecken keine Rolle, da der für diesen Mechanismus notwendige Temperaturbereich recht schnell durchquert wird. Beim Erwärmen und Halten bzw. Aufkohlen hingegen darf dieser Mechanismus bei einer Bewertung möglicher Verzugsursachen nicht aus dem Auge verloren werden.
Bild 1.7:
Plastische Deformation durch Kriechen bei 940 °C am Beispiel des 20MCr5 /Lüb12/