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Entgegen der herbeigehofften Annahme der Beamten gab es auf dem väterlichen Hof des Bürgermeisters und offensichtlich auf der gesamten Insel nicht die geringste Spur desselben, selbst der einheimische Polizist konnte das ihm bekannte Auto des Inselvorstehers ringsum nirgends ausmachen und so beendete Kommissar Brandt die Rundfahrt, nicht ohne immer wieder bis zu den Deichen hin Ausschau gehalten zu haben, ob nicht doch noch irgendetwas Verdächtiges in seine Augen kommen sollte. Bald führte er sein Tun ad absurdum; seine in die Eintönigkeit dieser ihm fremden Inselwelt hinausgeworfenen Blicke erschienen ihm völlig ohne Sinn.

Er dachte daran, noch mal zur Ehefrau des Bürgermeisters zu fahren, allein schon, um sie zu vernehmen und von ihr eine Speichelprobe zum Zweck der DNA-Analyse zu entnehmen. Diese müsste dann wiederum zum Festland geschickt werden, dachte er, oder die Spurensicherung kam von dort erneut hierher. Alles umständlich, dachte er weiter, alles verlängerte nur seinen Aufenthalt hier auf dieser Insel.

Aber so war es nun mal und mit einem knappen Blick sah er nach Wagner und stimmte insgeheim seinem jungen Kollegen zu. Es gab Motive zweier Verdächtiger: der Bürgermeister hatte sich seiner jungen Geliebten warum auch immer entledigt und war geflohen. Seine Ehefrau konnte aus Eifersucht gehandelt haben, obwohl sie selbst fremdging. Es konnte zu einem Streit gekommen sein, sie hatte dabei ihre Nebenbuhlerin auf der Treppe zum Leuchtturm zu Fall gebracht – dann wäre es immer noch Totschlag. Theorien, dachte er, alles Theorien, ein ganzes Berufsleben lang immer dieselbe Denkweise, bis die Fälle aufgeklärt waren – oder auch nicht. Er wollte nicht weiter darüber sinnieren, dass es auch solche gab, die bis dato nicht zu Ende gebracht worden waren.

Aber bald war sowieso Schluss. Er sah wieder nach seinem Amtskollegen. „Lassen Sie den Bürgermeister zur Fahndung ausschreiben“, brummte er.

„Das wollte ich eh vorschlagen.“ Der junge Kriminalmeister wandte sich nach hinten zum Inselpolizisten. „Das machen wir auf dem Computer in der Wache.“

„Vielleicht ist er auch nur mal rüber zum Festland.“ Der Kommissar stoppte den Wagen vor der Polizei-wache in Ostersiel. „Das lässt sich sehr leicht feststellen. Fragen Sie die Besatzung der Fähre, die erinnern sich bestimmt.“

„Falls er mit der Fähre rüber ist. Er könnte auch mit einem beliebigen Boot unbemerkt auf und davon sein“, entgegnete Wagner.

„So? Wie Sie meinen.“ Der Kommissar blieb am Steuer des Dienstautos, während die beiden anderen ausstiegen. Der Kriminalmeister schaute abwartend durch die noch geöffnete Beifahrertür nach seinem älteren Kollegen.

„Machen Sie das mal allein, da muss ich nicht dabei sein.“ Der Kommissar bedeutete ihm, die Tür zuzuwerfen. Dann wendete er den Wagen und während er die Straße befuhr, die rings um die Insel führte, nahm er den Hörer des Autotelefons und ließ sich mit dem Staatsanwalt in Husum verbinden, der daraufhin umgehend per Fax an die kleine Polizeistation auf Pellworm die Vornahme einer Speichelprobe bei Lina Olsen, der Frau des Bürgermeisters veranlasste. Ich brauche dafür keinen Computer, dachte Kommissar Brandt, und fuhr zurück zu seiner Pension in Klostermitteldeich, warf sich dort, so wie er war – nur die Schuhe hatte er vorher abgestreift – aufs Bett und gönnte sich einen Mittagsschlaf, wie er meinte, einen verdienten.

Am späten Nachmittag holte er Lina Olsen in Begleitung seines Kollegen Wagner und des Inselpoli-zisten ab und sie nahmen sie mit auf die örtliche Polizeiwache nur wenig weiter.

Eine Stunde später, nachdem ihr die Speichelprobe entnommen worden war, und zwar durch den jungen Kriminalmeister, der sich dazu förmlich aufgedrängt hatte – und Kommissar Brandt den Eifer seines Kollegen dabei kritisch beobachtete –, betrat ein Mann die Wache.

Ohne Umschweife stellte er sich als der Freund der Frau des Bürgermeisters vor und er sei als Vogelschutzwart tätig. Er wolle bezeugen, mit Lina Olsen den ganzen vorgestrigen Abend zusammen gewesen zu sein, bis kurz nach Mitternacht; zu diesem Zeitpunkt war nach Angaben der Spurensicherung die Geliebte des Bürgermeisters bereits tot.

Noch bevor der Kommissar darüber spekulieren wollte, wie der Mann da vor ihm so schnell an die

Information gekommen war, dass sie die Frau hier auf der Wache als Verdächtige hatten, fügte dieser hinzu, die komplette Stammgästeschaft des „Dorfkrugs“ in Tammensiel könne bezeugen, dass er und Lina Olsen den ganzen Abend über nicht ein einziges Mal die Wirtsstube verlassen hätten.

Dieses angebliche Alibi bedeute nichts für die beiden, brummte der Kommissar ihm zu, aber er wusste, dass dieses Alibi erst einmal saß, wenngleich er auch die Möglichkeit in Betracht zog, all diese Stammgäste der Kneipe dazu einzeln zu vernehmen. Er kam aber dahin, dass es, außer einem noch längeren Aufenthalt hier auf Pellworm, letztlich zu nichts weiterem führen würde. Den Verdacht auf die Frau des Bürgermeisters musste er fallenlassen.

Auch der junge Wagner hatte bei den Ausführungen des Vogelschutzwarts einige Male bedächtig genickt, wie der Kommissar ärgerlich an ihm feststellen wollte.

„Bleibt noch die Frage nach Ihrem Ehemann“, ließ er dennoch nicht nach. „Solange Sie mir nicht sagen wollen, wo er ist oder wann er zurückkommt, muss ich annehmen, dass sie beide“, der Kommissar zeigte dabei abwechselnd auf Lina Olsen und ihren Freund, „irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun haben.“

„Und solange er verschwunden ist, können Sie uns gar nichts“, erwiderte der Vogelschutzwart. „Sie haben nicht mal ein Indiz, geschweige denn einen Beweis dafür, dass wir ihn aus dem Weg geräumt haben sollen. Darauf wollen Sie doch abzielen, oder?“

Ein ziemlich abgekochter Kerl, dachte der Kommissar, und ob es hier auf der Insel einen Rechtsanwalt gäbe, sann er weiter, oder ob man hierfür aufs Festland musste. Sicher musste man es, dachte er, auf dieser beschissenen kleinen Insel gab es bestimmt keinen Rechtsverdreher, von dem man sich mit solch frechen Sprüchen versorgen lassen konnte.

„Sagen Sie mal“, und damit wandte er sich an Lina Olsen, die mit ihrem Freund, diesem Vogelschutzwart, bereits in der Tür stand, „wann haben Sie Ihren Mann vor seinem Verschwinden zum letzten Mal gesehen?“

Die Frau hielt inne, es schien, als sei es ihr lästig, noch mal aufgehalten worden zu sein. Doch dann war es so, als dachte sie nach.

„Bevor ich mit ihm“, sie wies mit dem Kopf zu

ihrem Freund, „in den ,Dorfkrug’ gegangen bin. Da war er schon losgezogen, wahrscheinlich zu seiner Schlampe.“

„Also am Sonntagabend.“

Die Frau nickte.

„Wann genau?“, wollte der Kommissar wissen.

Lina Olsen sah ihren Freund an, beide sahen sich an. „Gegen acht?“

„Ja, so gegen acht, da hab ich sie abgeholt“, bestätigte der Vogelschutzwart.

„Bei ihr zu Hause, nehme ich an. Ihren Mann haben Sie nicht gesehen?“

„Ja, wie sie es schon sagte. Was soll die ganze Fragerei, wir haben mit dem Arsch nichts zu tun“, raunzte der Vogelschutzwart.

„Halten Sie sich zu unserer Verfügung“, rief Kommissar Brandt den beiden nach und er sah, wie sie gleich einem sich umsorgenden Paar umarmend durch die Tür nach draußen verschwanden.

„Auf der Fähre hat ihn keiner gesehen“, konstatierte Kriminalmeister Wagner, als sie wieder ihrer Unterkunft in Klostermitteldeich entgegenfuhren. „Und alle bekannten Boote sind an ihren Liegestellen geblieben“, fügte er an.

„Wann wollen Sie das denn alles recherchiert haben?“ Mit spöttischem Seitenblick sah der Kommissar nach dem Beifahrersitz.

„Heute Nachmittag noch.“

„In so kurzer Zeit?“

„Schade, dass wir die beiden haben laufenlassen müssen“, ging Wagner darüber hinweg.

Sein Vorgesetzter stimmte ihm in Gedanken zu, wenn auch gereizt. Ja, verflucht.

„Immerhin haben wir jetzt ihre DNA“, bemerkte der Kriminalmeister. „Und wir sollten auch wieder mehr

in Richtung der toten Frau, dieser Frau Nielsen er-mitteln.“

„Trotzdem, den Bürgermeister lassen wir dabei nicht außer Acht.“

„Die Fahndung auf dem Festland nach ihm läuft

bereits.“

„Obwohl er Ihren Ermittlungen zufolge gar nicht dort sein kann?“ Kommissar Brandt sah spöttisch zu Wagner hinüber.

„Sicher ist sicher“, sagte dieser.

„Die DNA von Lina Olsen wird Ihnen auch nichts nützen, auch wenn diese mit den Spuren in dem Leuchtturmwärterhaus identisch sein sollte.“ Der Kommissar gewahrte, wie sein Kollege aufmerkte.

„Sie kann über ihren Mann, den Bürgermeister, in diesem Haus hinterlassen worden sein“, fuhr er fort.

Der Kriminalmeister hob seine Schultern. „Wir müssen in eine andere Richtung denken.“

„So, und welche schlagen Sie vor?“

„Vielleicht sprechen wir noch mal mit unserer

Wirtin. Sie scheint mir über alles hier auf der Insel im Bilde zu sein.“

„Wer nicht.“

„Mir will nicht aus dem Kopf, warum Lina Olsen sich nichts aus dem Fernbleiben ihres Mannes macht.“

„Haben Sie den Grund dafür vorhin nicht gesehen?“, raunzte der Kommissar.

Gezeitenstrom

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