Читать книгу Die Kobolde - Karl-Heinz Witzko - Страница 4

1. Kraut und Rüben und ein einsames Haus

Оглавление

Der Nachthimmel war weitgehend wolkenlos, und die Luft roch nach nachlässig gemähten Stoppelfeldern, an deren Rainen zahlreiche Roggenhalme stehen geblieben waren. Man hätte meinen können, es wäre Sommer, doch das war es nicht.

»Kraut und zwei Rüben«, flüsterte Riette. Wie immer fing sie viel zu früh zu zählen an.

Brams, dessen Finger die Vorderkante einer Tür umschlossen, mit der er und die anderen drei Kobolde wie mit einer Bahre durch die Dunkelheit eilten, wandte den Kopf zu ihr um. Viel mehr als einen dunklen Umriß am hinteren Ende der Tür konnte er nicht von ihr erkennen.

Hutzel, links hinter ihm, dessen neuerdings überaus auffälliges Profil sich scharf gegen den Nachthimmel abzeichnete, hob die freie Hand und deutete den Hang hinab zur Mühle.

»Augen nach vorne, Brams«, mahnte er. Ob er mit der rechten Hand tatsächlich die Tür trug oder nur so tat und sich in Wirklichkeit auf sie stützte, war nicht zweifelsfrei zu erkennen.

Wenigstens in dieser Hinsicht mußte sich Brams um Rempel Stilz, der auf der rechten Seite der Tür rannte, keine Sorgen machen. Rempel Stilz schleppte gerne schwere oder sperrige Gegenstände von einem Ort zum anderen.

Als Hutzel seine Aufforderung wiederholte, richtete Brams die Augen erneut zum Bach, der unten am Talrand floß, aber dessen Gurgeln noch lange nicht zu hören war. Gerade in diesem Augenblick meldete sich Riette erneut hinter ihm. Vergnügt rief sie die nächste Zahl: »Fünf Kraut und vier Rüben!«

Brams ärgerte sich. Oft genug hatte er Riette den Sinn des Zählens nahezubringen versucht.

Warum tat man so etwas überhaupt? Die Antwort war einfach: Bei dieser Art von Missionen zählte man, um den Überblick nicht zu verlieren. Man wollte wissen, wieviel Zeit bereits verstrichen war, um unliebsamen Begegnungen vorzubeugen. Menschen konnten bekanntlich äußerst unbeherrscht handeln, wenn sie Kobolde bei der Arbeit ertappten.

Daher begann man mit dem Zählen sinnvollerweise erst, wenn man ein Haus betreten hatte. Es sei denn, es war von einem Zaun umgeben. Dann konnte man auch sofort nach dem Überklettern dieses Hindernisses damit beginnen. Das war sogar ratsam, wenn mit scharfen Hunden zu rechnen war. Doch solange das Zielobjekt noch vier Meilen entfernt lag und kaum mehr war als ein verschwommener Lichtfleck in der Dunkelheit, ergab Zählen keinen Sinn!

Diesen einfachen Sachverhalt hatte Brams Riette oft genug erklärt. Doch jedesmal hatte er sich von ihrem gelangweilten »Ja, ja, das weiß doch jeder, Brams!« täuschen lassen. Er hatte nicht wahrhaben wollen, daß seine Worte an ihr abperlten wie Wasser am Pürzel einer Ente.

Brams erkannte plötzlich, daß er sich in Wirklichkeit auch über sich selbst ärgerte. Er war viel zu leichtgläubig.

»Siebzehn Kraut und fünf Rüben«, schmetterte Riette in die Nacht hinaus.

»Und wenn dich jetzt jemand hören würde?« murmelte Brams düster. »Was dann? Was dann?« Die Frage hallte so gewichtig in seinen Ohren wider, daß er ernsthaft über sie nachsinnen mußte. Was dann? Ja, was denn dann? Was, wenn jemand Riette hörte? Die Folgen wären allemal schwerwiegend, wahrscheinlich nicht einmal abzuschätzen! Wenn jetzt zum Beispiel ...

Er seufzte. Was sollte denn groß geschehen? Es war mitten in der Nacht. Das einzige Haus weit und breit war ihr Ziel, nämlich die Mühle unten am Bach. Ansonsten gab es hier nur Gras, Büsche und Bäume. Sicherlich, Spitzmäuse, Hamster, Eulen bevölkerten die Gegend zuhauf, doch die waren allesamt nicht sehr geschwätzig. Jedenfalls nicht hier, im Land der Menschen, wo man – anders als zu Hause – nicht mit ihnen reden konnte.

Doch halt!

Plötzlich fiel Brams der gesuchte Beobachter ein: ein einsamer Wanderer! Natürlich, ein einsamer Wanderer mochte Riette hören. Durch schieren Zufall könnte er auf dem sanft abfallenden Hang des Hügels, verborgen hinter einem Busch, sein Nachtlager aufgeschlagen haben. Womöglich hatte er ursprünglich in der Mühle übernachten wollen. Er hatte vielleicht bescheiden um Unterkunft gebeten, doch der Müller und seine Frau waren ihm mit Knüppeln entgegengetreten und hatten gedroht: »Verschwinde, du Lump und einsamer Wanderer! Für deinesgleichen ist hier kein Bleibens! Husch, husch!« Also war dem nun zusätzlich enttäuschten einsamen Wanderer nichts anderes übriggeblieben, als sich ins Gestrüpp zu betten. Da lag er nun, ausgesetzt den Launen von Wind und Wetter, nicht ahnend, daß sich genau ein Arglang von seinen Füßen entfernt das Ausflugsloch eines Hornissennestes befand. Armer Kerl! Das würde ein böses Erwachen geben.

Unzufrieden brach Brams sein Gedankenspiel ab. Wie so oft war wieder einmal die Phantasie mit ihm durchgegangen. Was sollte sein mühsam herbeizitierter einsamer Wanderer schon tun? Solange er sie nicht dabei beobachtete, wie sie in die Mühle einstiegen, würde er alles versuchen, um sich gegen die Wirklichkeit zu sperren. Menschen waren so. Wenn sie etwas wirklich gut konnten, dann war es, Dinge nicht wahrzunehmen, die sie nicht wahrnehmen wollten.

In seinem Geiste würde aus vier Kobolden, die mit einer großen Tür den Hügel hinabrannten, im Nu ein achtbeiniger Drache werden oder sogar ein wanderndes Gebüsch. Das Beste, was man womöglich von ihm erwarten konnte und wenigstens ein Gran Wahrheit enthielte, wäre das Eingeständnis: Ich sehe einen einzigen Kobold, der einen riesigen Kessel voller Gold und Silber trägt ...

Das war noch so eine menschliche Eigenheit. Dermaßen viel Gold und Geschmeide, wie sie sich ständig zu sehen einbildeten, konnte es gar nicht geben.

Damit war Brams am Ende seiner Überlegungen angelangt. Für einige Zeit kreisten seine Gedanken nur noch um den vor ihnen liegenden Weg. Er wich Kaninchenhöhlen und Ameisenhügeln aus und lauschte dem Trappeln der vier Paar Füße und Riettes unnötigem Zählen.

Dann beschloß er, etwas zu unternehmen.

Wenn Riette durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall beim Zählen unterbrochen würde, so müßte sie wieder von vorne beginnen. Das war einsichtig, oder? Würde sie kurz danach abermals gestört, so müßte sie es ein drittes Mal tun. Wenn sie jetzt aber nicht nur dreimal unterbrochen würde, sondern gar alle fünfzig Arglang, so wäre sie bis zur Mühle gut sechzig bis achtzig Mal gezwungen, neu zu beginnen.

Vielleicht lernte sie auf diese Art, was Worte ihr nicht beizubringen vermochten. Und falls nicht, so wäre das Ganze ein hübscher Streich.

Brams grinste und verwirklichte seinen gerade gefaßten Plan augenblicklich.

Laut stieß er eine Warnung aus: »Obacht! Sofort stehenbleiben! Kein Mucks!«

Er blieb stehen.

Hutzel und Rempel Stilz verharrten ebenfalls. Riette hingegen rannte unbekümmert weiter. Brams bemerkte diese Schwachstelle seines Planes, als ihm die Türkante schmerzhaft in den Rücken gerammt wurde, sie danach Wirbel für Wirbel an seinem Rückgrat hochschrammte und schließlich heftig gegen sein Hinterhaupt stieß. Als er stürzte und unter der Tür begraben wurde, hörte er ein munteres »Siebzigtausend Kraut und ... owei, owei, owei!«

Einige Herzschläge lang blieb Brams ruhig liegen. Er sog den Geruch der feuchten Erde ein und lauschte dem Zirpen der Grillen, die ihre Weibchen mit verlogenen Versprechen oder maßlosen Übertreibungen anzulocken versuchten. Dann krabbelte er unter der Tür hervor und brüllte herzhaft: »Scheißtür!«

»Jetzt bin ich es wieder!« beschwerte sich die Tür umgehend. »Dabei weiß ich nicht einmal, was ich angeblich verbrochen haben soll. Aber so ist das ja immer! Geht etwas schief, so gibt man der Tür die Schuld! Wenn es regnet, so heißt es: Bestimmt war es die Tür! Regnet es nicht – na klar! –, so war sie es auch. Eigentlich braucht ihr gar keine Gründe. Hackt nur auf der Tür herum! Das ist euch doch das Liebste. Aber was tätet ihr Kobolde ohne uns Türen? Woanders sind wir hochgeschätzt! Schreibt euch das hinter eure kleinen Ohren! Ist euch überhaupt bewußt, daß es viel mehr Lieder über Türen gibt als über Kobolde?«

Knarrend hob die Tür an zu singen: »Eine Tür zu deinem Herzen, mein Schnurzi-Purzi-Schatz! ... Wohlgemerkt, es heißt nicht: ein Kobold zu deinem Herzen, mein Schatz. Nein, eine Tür! ... Oder«, die Tür sang erneut, »wer klopft so spät noch an meine Tür? ... Hat man je gehört: Wer klopft so spät noch an meinen Kobold?«

»Ist ja schon gut«, unterbrach Brams die Mischung aus Gezeter und Singsang. »Ich meinte doch gar nicht dich.«

»Ach so? Du meintest also eine andere Tür. Gibt es denn noch eine andere Scheißtür hier? Wie seltsam, daß ich keine sehe.«

Brams seufzte: »Schwamm drüber! Es tut mir leid.«

»Und damit soll wohl alles vergeben und vergessen sein?« nörgelte die Tür weiter.

Als ginge ihn alles nichts mehr an, griff Brams entschlossen nach dem vorderen Ende des fünften Gruppenmitglieds.

»Wir haben heute nacht noch viel zu erledigen«, brummte er.

Umgehend nahm die Bande ihre Hatz den nächtlichen Hügel hinab wieder auf.

Etwas später bemerkte Brams, daß Riette erneut zu zählen begonnen hatte. Der Klang ihrer Stimme erinnerte ihn an den Streich, den er ihr hatte spielen wollen. Er war noch immer überzeugt, daß er – abgesehen von der kleinen Schwachstelle – ein guter Streich gewesen wäre. Zu schade, daß er just an der Person gescheitert war, der er gegolten hatte.

Urplötzlich verspürte Brams einen heftigen Schmerz am Bauch, knapp oberhalb des Gürtels.

Verdammte Steckmücken, dachte er und verbesserte sich sogleich. So schmerzhaft stachen nur Pferdebremsen.

Er sah an sich hinab, ohne aber den schnell flüchtenden Schatten eines geflügelten Blutsaugers ausmachen zu können. Statt dessen entdeckte er etwas viel Größeres, mit dem er auf den ersten Blick nichts anzufangen wußte. Erst nach und nach ergab das, was er sah, für ihn Sinn.

Aus dem Beutel, den Brams seitlich am Gürtel trug, wand sich ein Tentakel. Obwohl er eigentlich sehr schlank war, wies er an der Spitze eine kräftige Zange auf. Die Backen, die auf Brams’ Bauch zielten, öffneten sich langsam, aber stetig. Brams konnte leicht abschätzen, wie lange es dauern würde, bis sie ihre größte Weitung erreicht hätten und erneut zuschnappen würden.

So lange wollte er nicht warten.

»Obacht! Sofort stehenbleiben!« rief er aufgeregt.

Noch während er die Worte ausstieß, entsann er sich, was beim letzten Mal geschehen war.

Nein, diesen Fehler wollte er unter keinen Umständen wiederholen. Dieses Mal würde er sich nicht die Tür von Riette in den Rücken rammen lassen.

Entgegen seiner eigenen Aufforderung rannte Brams daher weiter.

Daß wiederum etwas nicht wie erwartet verlief, erkannte er, als ihm die Tür aus der Hand gerissen wurde. Sein Schwung trug ihn noch ein paar Schritt weit, bis er sich zum zweiten Mal in dieser Nacht im Dreck wiederfand. Unverzüglich schlug er nach dem Tentakel. Der feine Faden mit der kräftigen Zange verschwand blitzschnell dorthin, woher er gekommen war. Brams zog die Schnur des Beutels kräftig zu und verschloß ihn mit einem Knoten. Sodann raffte er sich auf und blickte zu seinen Gefährten.

Wie er sich inzwischen zurechtgelegt hatte, waren sie im Gegensatz zu ihm nicht weitergerannt, sondern gehorsam stehengeblieben, als er die Warnung ausgestoßen hatte. Die Folgen waren im Grunde nicht so unvorhersehbar gewesen.

Rempel Stilz hatte die Tür losgelassen. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, starrte er entschlossen ins Dunkel. Er schien auf alles vorbereitet zu sein.

Anders Hutzel. Aufgeregt blickte er nach links und nach rechts, wobei er »Wo? Wo? Wo?« flüsterte. Sein neues Profil ließ die alltägliche Bewegung äußerst gefährlich erscheinen. Brams bildete sich ein, ein »Wusch! Wusch!« zu hören, als Hutzels lange Nase die Luft durchschnitt.

Die Tür hingegen jammerte. Wie üblich dachte sie nur an sich. »Nicht loslassen! Ich werde nur noch von zweien von euch gehalten. Nicht loslassen!«

Riette hatte sich für den direkten Weg entschieden. »Hallo, ist da jemand?« rief sie mehrmals. »Hallo?«

Aus nur ihr bekannten Gründen ließ sie dabei ihre Stimme ein Spektrum an Gefühlen durchwandern. Während ihr erstes »Hallo?« noch hilflos und verängstigt klang, hörte es sich bald lockend, ja geradezu einladend an. Dabei blieb es jedoch nicht. Wenig später gemahnte Riettes »Hallo?« an ein bösartiges Knurren und sodann an ein Versprechen roher Gewalt. Hätte in der Dunkelheit tatsächlich ein Unhold gewartet, und wäre er von noch so schlichtem Gemüt gewesen, so hätte er unweigerlich begreifen müssen: Hier rief kein argloses Frauenzimmer, nein, hier lauerte in Wirklichkeit der Inbegriff des Zerreißens, Zermatschens und Zerpflückens – und alles anderen, was man als Unhold nicht selbst zugefügt bekommen wollte.

»Hallo? Ist dort jemand?« erschallte es nochmals voller Niedertracht.

Rempel Stilz gab sein Bemühen auf, jemanden in der Dunkelheit ausfindig zu machen, und wandte sich an Brams.

»Und? Was ist?« verlangte er zu wissen.

Brams beachtete ihn nicht. Wortlos erhob er sich, strich seinen Umhang glatt und zupfte die Kapuze zurecht. Zum Abschluß verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und setzte eine strenge Miene auf. Es war Zeit für ein ernstes Wort.

Im Grunde war Brams kein Freund von Standpauken. Für seinen Geschmack ging es dabei immer viel zu ernst zu, was eigentlich seltsam war, da das Wort gar nicht so einschüchternd klang. Es erinnerte an Pauken und Trompeten.

Eine Standpauke mit Pauken und Trompeten, überlegte Brams versonnen, das war kein schlechter Einfall. Man müßte es eben wörtlich umsetzen. Solange er spräche, würde die Pauke mit dumpfen Schlägen die Schwere seiner Worte unterstreichen. Und für den Fall, daß das Ganze vielleicht doch zu ernst und trübsinnig wurde, hätte man die Trompete, die die Stimmung mit einem fröhlichen Tröten sofort wieder auflockern würde. Selbstverständlich bekäme jeder Anwesende Bunten Kuchen gereicht und soviel euterwarme Milch, daß anschließend niemand mehr den Heimweg ohne zu schwanken antreten könnte. Und da man überdies – wie geschickt! – Pauken und Trompeten schon da hätte, würde selbstverständlich zum Tanz aufgespielt werden. Es würde gesungen und gelacht werden. Das wäre etwas Feines!

Brams wollte schon begeistert in die Hände klatschen, als ihm plötzlich bewußt wurde, wie weit er von seinem ursprünglichen Vorhaben abgeschweift war. Er hielt gerade noch rechtzeitig inne und bedachte seine Begleiter mit einem prüfenden Blick.

Rempel Stilz und Hutzel befanden sich mittlerweile in einer angeregten Unterhaltung. Riette dagegen hatte augenscheinlich die Lust verloren, unsichtbare Unholde anzulocken. Statt dessen sang sie leise. Wie jemand, der sich nicht mehr so recht an die Worte eines Liedes erinnerte, unterbrach sie sich allenthalben und wiederholte mal zweifelnd, mal freudig überzeugt eine halbe Strophe. Seltsam genug, denn ihr Lied war das in allen Sprachen bekannte La-la-la.

Einzig die Tür schien noch halbwegs bei der Sache zu sein.

»Wir sollten die Mission sofort abbrechen«, sprach sie hastig. »Wenn so vieles schiefgeht wie heute, dann ist nichts Gutes mehr zu erwarten. Laßt uns umkehren, solange es uns überhaupt noch möglich ist. Ich hatte die ganze Zeit über ein schlechtes Gefühl! Ein verdammt schlechtes Gefühl sogar. Glaubt mir, auf mein Gefühl kann man sich verlassen. Kein Zaudern mehr. Flink, Kobolde! Jeder packt bei mir an, dann tragt ihr mich geschwind zu den beiden Kastanien zurück. Von da an übernehme ich. Aber jetzt laßt uns gehen! Nun macht schon! Los! Alle! Auf vier: eins, zwei ... Na los, ihr müßt nicht warten, bis ich vier gesagt habe ... Macht schon! Drei, hört ihr? Drei!«

Unversehens ließ Brams die Hand auf den Beutel an seiner Hüfte klatschen.

»Wer hat den Wechselta.(lg) besorgt?« fragte er grimmig.

Augenblicklich herrschte Stille. Selbst die Grillen schienen mehrheitlich ihr Zirpen eingestellt zu haben. Brams war von seinem Erfolg gänzlich überrumpelt. Verlegen räusperte er sich erneut und flüsterte: »Wer hat den Wechselta.(lg) besorgt?«

Niemand dachte daran, etwas zu erwidern. Schweigen, allgemeines Schweigen, sonst nichts! Brams war so verwirrt, daß er unwillkürlich die Luft anhielt, um besser hören zu können. Atmeten seine Gefährten überhaupt noch?

Rempel Stilz erhob plötzlich die Stimme. Sie klang unendlich einsam in dieser Stille.

»Das ist leicht zu beantworten, Brams. Entweder warst du es oder es war einer der anderen«, gab er erschöpfend Auskunft.

»Ich war es nicht«, beteuerte Riette zaghaft mit piepsigem Stimmchen.

»Die Tür war es«, behauptete Hutzel.

»Natürlich! Wieder einmal war es die Tür«, sagte die Tür erregt und verstummte sogleich wieder. Brams maß sie mit einem langen, festen Blick. Sie schien nicht vorzuhaben, sich ausführlicher in dieser Angelegenheit zu äußern.

»Weißt du, was Wechselta.(lg) bedeutet?« sprach er sie an.

»Ja«, antwortete sie knapp.

Brams ließ ihr einige Augenblicke Zeit. Als sie keine Anstalten machte fortzufahren, fragte er weiter: »Und? Was bedeutet es?«

»Wechselta.(lg) heißt Wechseltalg, leicht gehässig«, leierte die Tür gehorsam herunter.

»Leicht gehässig!« wiederholte Brams. »Leicht! Aber dieser Wechselta.(lg) hat eine Zange herausgebildet und mich damit in den Bauch gezwickt. Wechselta. (lg) tut so etwas nicht. Es sei denn, er wäre nicht mehr frisch! Doch dann nennt man ihn nicht mehr Wechselta.(lg), sondern Wechselta.(ug).«

»Hä?« gab Rempel Stilz verwundert von sich.

»Wechseltalg, unglaublich gehässig«, erklärte Brams in lehrerhaftem Ton.

»Pfff!« stieß Rempel Stilz verächtlich aus. »Jetzt übertreibst du aber, Brams. Das bißchen In-den-Bauch-Zwicken nennst du unglaublich gehässig? Unglaublich gehässig ist etwas ganz anderes!«

»Das sehe ich genauso«, pflichtete Hutzel ihm bei. »In den Bauch zwicken ist allenfalls leidlich lästig, also hätten wir es höchstens mit Wechselta.(ll) zu tun.«

»Na, na, na, Hutzelgabler«, widersprach Riette. »In den Bauch zwicken, zumal mit einer Zange, kann reichlich lästig sein. Ein eindeutiger Fall von Wechselta.(rl)!«

»Aber bloß, wenn man sich die Zunge verknoten will«, gab Hutzel geringschätzig zurück.

Ungeduldig trommelte Brams mit den Fingern auf der Tür. »Könnten wir diese Sprachbetrachtungen beenden und unser Augenmerk wieder auf die Erfüllung unserer Mission richten? Das Zeug ist jedenfalls alles andere als frisch.«

»Hat er denn bereits begonnen, sich zu verwandeln?« erkundigte sich Hutzel.

Brams überlief es heiß. Daran hatte er gar nicht gedacht! Mißtrauisch blickte er auf seinen Beutel. Der Inhalt schien sich zu bewegen. Aber vielleicht war das auch Einbildung.

»Ich glaube nicht«, sagte er zögernd. »In was sollte er sich denn verwandeln?«

»Na, in dich!« schlug Hutzel vergnügt vor.

Erneut betrachtete Brams den Beutel. Er hatte noch nie von einem Fall gehört, daß Wechselta.(lg) die Gestalt seines Trägers angenommen hätte. Die Folgen wären gewiß schwerwiegend und wahrscheinlich nicht abzuschätzen!

»Nein, hat er nicht!« sagte er rasch. »Bestimmt nicht. Wird er auch nicht. Keine Sorge!«

»Na dann!« meldete sich plötzlich wieder die Tür zu Wort. »Mag sein, daß der Wechselta.(lg) vielleicht einen einzigen, lumpigen Tag zu alt ist oder vielleicht auch ein Jahr. Aber nun ist wirklich nicht die Zeit für lange Ansprachen und gegenseitige Schuldzuweisungen! Ich jedenfalls habe für derlei Kindereien kein Verständnis. Laßt uns die Mission wie geplant zu Ende bringen, solange der Wechselta.(lg) noch für etwas gut ist. Packt an, Kobolde, packt an!«

Brams folgte ihrer Aufforderung. Warum hatte er heute nacht nur ständig das Gefühl, daß alles anders verlief, als es eigentlich sollte?

Die Mühle kam rasch näher. Das Licht, das aus einem der Fenster fiel und bisher den Weg gewiesen hatte, war merklich schwächer geworden, so, als hätte jemand den Docht einer Öllampe heruntergedreht. Zweifellos war das ein gutes Zeichen, bedeutete es doch, daß sich die arglosen Bewohner zur Ruhe begaben.

Nun hörte Brams auch den Mühlbach. Er floß auf der abgewandten Seite der Mühle, wodurch das womöglich schwierige Überqueren dieses Hindernisses entfiel. Das eigentliche Mühlgebäude war schmucklos. Sein Untergeschoß bestand gänzlich aus dicken Eichenbalken. Sie waren eisenhart. Das mußten sie auch sein, da sie das Gewicht der großen Mühlsteine zu tragen hatten.

Das Mühlhaus schloß sich im rechten Winkel daran an. Ein Karrenweg führte zu ihm. Einstmals war das Haus von einem Zaun umgeben gewesen, von dem aber nur noch drei Latten zeugten. Einsam ragten sie aus dem Boden und erinnerten an drei alte Bauern, die geduldig darauf warteten, daß der Müller bei Tagesanbruch sein Handwerk aufnahm und ihr Korn mahlte.

Nahebei lag ein umgekippter Steintrog. Das eine Ende verschwand im hochstehenden Gras, das andere zeigte auf einen Karren, der auf halbem Weg zum Haus abgestellt war. Er war zwar einachsig, aber das erklärte nicht ganz, warum er so schief dastand.

Brams ließ die Tür los und ging zu dem Gefährt, um seine Neugier zu befriedigen. Es besaß nur noch ein Rad. Das erklärte natürlich alles!

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Rempel Stilz war neben ihm in die Hocke gegangen und besah sich die Unterseite des Karrens. Wegen der Dunkelheit konnte dort nicht viel für ihn zu erkennen sein. Dennoch verkündete er einen Augenblick später: »Die Achse ist ebenfalls gebrochen. Wie schändlich! Der Müller hätte sie längst gegen eine neue ersetzen können. So aufwendig ist das doch überhaupt nicht. Ich brauchte vielleicht eine halbe Stunde dazu – das Anfertigen der Achse eingerechnet!«

»Die wäre dann aber nur schlicht und ohne Zusätze.« Der Einwand kam von Riette, die ebenfalls hinzugestoßen war.

Rempel Stilz zuckte die Schultern. »Sicherlich, eine schlichte Karrenachse ohne Zusätze und Besonderheiten. Doch gib mir etwas mehr Zeit ...«

Riette klopfte sacht gegen die Seitenwand des Karrens. »Ein bißchen Farbe könnte das alte Holz auch vertragen.«

»Sie bemalen ihre Karren nicht«, erwiderte Rempel Stilz.

»Das erklärt vieles«, seufzte Riette.

Rempel Stilz nickte zustimmend. »Welche Farbe würdest du verwenden?«

Das Quietschen der Tür aus ein paar Arglang Entfernung unterbrach ihre Unterhaltung. »Haben wir heute nichts mehr vor? Falls dem so sein sollte, könnte ich dann, bitte schön, heimgetragen werden?«

Brams konnte der Tür nur zuzustimmen. Sie hatte selbstverständlich recht! Soviel Zeit war nicht übrig, daß man sie bedenkenlos mit einem alten Karren vertrödeln durfte! Aufmunternd nickte er Riette zu. Die Koboldin sah ihn verständnislos an. Plötzlich wurden ihre Augen groß. Aufgeregt flüsterte sie: »Kraut und siebzehn Rüben!«

Brams schenkte ihr ein knappes Lächeln, bevor er die Augen zusammenkniff und angestrengt vom Müllerhaus zur Mühle starrte. Leise knurrte er: »Hund!«

Eigentlich hat Brams damit nur sagen wollen: »Nun laßt uns zuerst einmal herausfinden, ob es irgendwo einen Wachhund gibt, liebe Freunde.«

Das war aus seiner arg verkürzten Äußerung jedoch nicht unbedingt herauszuhören. Daher war Brams reichlich verwundert, als Rempel Stilz jäh die Fäuste hochriß und Riette flugs hinter seinen breiten Rücken sprang. Dort hüpfte sie auf und ab und stieß streitlüsterne Worte aus: »Der blöde Köter soll bloß kommen! Links ein Haken und rechts einer und dann noch mal links! Danach einen Tritt dahin, wohin es kein Hündchen mag!«

»Hier gibt es überhaupt keinen Hund«, sprach Hutzel ruhig. Er stand noch immer bei der Tür, die er als einziger nie verlassen hatte.

»Woher willst du das wissen, Hutzelberger?« fragte ihn Riette.

»Das sagt mir mein Näschen«, erwiderte Hutzel und warf den Kopf in den Nacken, so daß die Kapuze von seinem Haupt rutschte. Das lange, spitze Ding, das er seit ein paar Tagen im Gesicht trug und die Bezeichnung »Naschen« ganz und gar nicht verdiente, zielte auf den Nachthimmel.

Wie jeder wußte, hatte Hutzel kürzlich eine Wette mit einem Reiher abgeschlossen. Ein paar Tage später war er mit diesem schnabelartigen Ding im Gesicht aufgetaucht. Leider hatte er niemandem anvertraut, ob er die Wette gewonnen oder verloren hatte. Und nun wollte ihn keiner danach fragen.

Denn wenn Hutzels neue Nase sein stolzer Gewinn war, wäre er vielleicht gekränkt und enttäuscht, daß überhaupt Zweifel aufgekommen waren. So, als hätte man zu ihm gesagt: »Was, das soll ein Gewinn sein, Hutzel? Ha, ha, ha! Da lachen ja die Hühner! Dieser durchtriebene Reiher hat dich Trottel ganz schön über den Teich gezogen.«

War andererseits die Nase das Zeichen, daß Hutzel die Wette verloren hatte, so hätte man, statt die verfängliche Frage zu stellen, gleich zu ihm sagen können: »Welch Glück, daß du den häßlichen Zinken los bist, alter Freund! Kennst du schon einen Einfaltspinsel, mit dem du um deine Ohren und Füße wetten kannst?«

Da war es doch besser zu schweigen, selbst um den Preis ungestillter Neugier.

Brams wollte sich nicht länger mit dieser Nase beschäftigen. Doch die Vorstellung, daß irgendwo im seichten Wasser eines Weihers ein Reiher stünde, ausgestattet mit der Stupsnase eines Kobolds, hatte etwas zutiefst Beunruhigendes. Sie ließ ihn einfach nicht los.

Er riß sich zusammen und hob die rechte Hand. Mit drei Fingern zeigte er zuerst zum Himmel und dann nachdrücklich zu Boden. Mit der anderen Hand wies er rasch auf Rempel Stilz, danach auf sich und schließlich zu dem erleuchteten Fenster.

»Rempel Stilz soll ihm folgen, während wir anderen drei hier warten«, übersetzte Riette die stillen Handzeichen.

Brams verzog das Gesicht. Auch über solche überflüssigen Erklärungen würde er zu gegebener Zeit mit ihr reden müssen, dachte er und eilte zum Haus.

Unter dem Fenster verschränkte Rempel Stilz die Hände zu einem Steigbügel. Brams setzte den Fuß hinein und stemmte sich hoch.

Das Fenster hatte zwar Läden, aber sie waren nicht geschlossen. Nur ein Vorhang, der leicht in der nächtlichen Brise flatterte, verwehrte den Blick ins Haus. Brams schob ihn behutsam zur Seite und spähte in das dahinter liegende Zimmer. Es schien leer zu sein.

Er blickte auf einen Herd und einen Kamin, der auf beiden Seiten zwei schmale Simse aufwies. Auf dem einen brannte eine Kerze. Ihr Licht fiel auf Pfannen, Töpfe und Backformen, die an Haken an der Wand hingen. Neben einer schmalen Bank entdeckte Brams etwas, das er zuerst für den Rahmen einer breiten, aber sehr niedrigen Tür hielt. Auf den zweiten Blick erkannte er darin ein Butzenbett. Es war mit zwei Klappen verschlossen. Zweifellos schlief das ahnungslose Müllerpaar in der Wandnische.

Die Wiege stand ein Stück vom Herd entfernt, wo sie nicht im Weg war. Das Kind darin war ohne Frage der Grund für die brennende Kerze. Wahrscheinlich fürchtete es sich in der Dunkelheit.

Brams hatte genug gesehen. Er ließ sich wieder hinab und gab Hutzel und Riette das Zeichen, die Tür zu bringen. Vorsichtig richteten sie sie mit vereinten Kräften auf und lehnten sie gegen die Hauswand.

Die Tür gab knappe Anweisungen: »Links, links! Noch ein Stück. Halt! Näher an die Wand heran. Noch näher. Gut!«

Als Brams zum ersten Mal Zeuge geworden war, wie eine Tür mit einer Wand verschmolz und danach Tür und Wand so aussahen, als hätten sie schon immer zusammengehört, war er tief beeindruckt gewesen. Das hatte sich mit der Zeit gelegt. Nach ein oder zwei Dutzend solcher Erfahrungen hatte er sich an den Anblick gewöhnt und sich gefragt, warum sich Türen auf dieses offenbar gar nicht so schwere Kunststück so viel einbildeten. Hutzels Meinung teilte er jedoch auch heute noch nicht. Der hatte noch kürzlich behauptet: »Jeder Trottel, der lange genug an einer Wand lehnt, verschmilzt irgendwann damit. Das ist ein ganz natürlicher Vorgang.«

Auch dieses Mal ereignete sich das Unbegreifliche, das die Türen in einer längst toten Sprache schwülstig als Makkeron Optalon bezeichneten und was »die größte Leistung« bedeutete. Von einem Augenblick auf den anderen sah die Tür aus wie jede beliebige andere der Mühle.

Brams drückte ihre Klinke hinunter und betrat das Haus. Sogleich bemerkte er, daß er sich getäuscht hatte. Das Müllerpaar schlief keineswegs! Aus dem Butzenbett waren rhythmisches Knarren und die gleichmäßige Stimme einer Frau zu hören: »Jetzt aber ... Jetzt aber ... Jetzt aber ...«

Brams vergewisserte sich mit einem raschen Blick, daß die Läden des Bettes noch immer heruntergeklappt waren, und trat zur Wiege. Der Säugling, der darin lag, hatte ein rotes Gesichtchen und schien im richtigen Alter zu sein.

»Bringen wir es rasch hinter uns«, flüsterte Brams, als Rempel Stilz und Riette ebenfalls bei der Wiege standen. Im Geiste ging er die Liste durch: »Haarfarbe?«

»Blond«, antwortete Rempel Stilz.

»Paßt!« bestätigte Brams. »Geschlecht?«

»Ein Junge«, erwiderte Rempel Stilz einen Herzschlag später.

»Paßt!« betätigte Brams erneut. »Augen?«

»Sind beide geschlossen«, erklärte Rempel Stilz. »Haben wir aber gleich!«

Er beugte sich zur Wiege. Das Kind gab einen unleidigen Ton von sich.

»Blau«, wisperte Rempel Stilz. »Es hat hellblaue Augen.«

»Paßt! Größe?«

»Laß mich raten«, erwiderte Rempel Stilz gedehnt. »Vielleicht ein knappes dreiviertel Arglang?«

»Wie knapp? Ich muß es ganz genau wissen.«

»Ein oder zwei Rechtkurz weniger. Eher zwei. Ja, zwei. So groß wie Riette also.«

»Paßt genau«, meinte Brams und beendete damit die Prüfung. Geschwind löste er das Säckchen mit dem Wechselta.(lg) von seinem Gürtel. Derweil schlug Riette die Bettdecke zurück und schob den Säugling sacht zur Seite. Wieder stieß er einen unzufriedenen Laut aus.

Brams nestelte den Verschluß des Säckchens auf und ließ den zähflüssigen Inhalt gleichmäßig neben dem Säugling in die Wiege tropfen.

Er war keineswegs zufrieden mit dem, was er sah. Üblicherweise hatte Wechselta.(lg) dieselbe Farbe wie das Haupterzeugnis eines Kleinkindes, das wochenlang mit Spinat gefüttert worden war. Dieser erschien ihm jedoch etwas zu gelb zu sein.

Wenn das nur gutging!

Doch schon kam Bewegung in die grünlich-gelbbraune Masse. Winzige Tentakel bildeten sich, tasteten nach dem Säugling und zogen sich sogleich wieder zurück. Danach geschah gar nichts weiteres mehr, außer daß einige bislang separate Tröpfchen Wechselta.(lg) sich mit der Hauptmasse vereinigten.

Das war ein bißchen wenig!

Angespannt sah Brams auf. Riette schüttelte ungeduldig den Kopf und verkündete besorgt: »Dreizehn Kraut und achthundert Rüben!«

Brams preßte die Lippen zusammen. Als wüßte er nicht selbst, daß die Zeit nicht stehenblieb.

»Sieben Kraut und neunzehn Rüben«, drängte Riette.

Doch nun begann es!

Mit einem leisen Schmatzen erhob sich – kaum mehr erwartet! – ein nacktes Kinderbein aus der formlosen Masse. Zuerst wechselte seine Farbe noch zwischen Grün und Braun, dann färbte es sich hellrosa. Mit einem abermaligen Schmatzen gesellte sich ein einzelner Arm zu dem Bein. Als nächstes entstanden ein Paar Lippen. Sie zitterten und sonderten einen Speichelfaden ab. Nun war auch ein Auge zu entdecken. Rege blickte es von links nach rechts und blieb auf dem Arm hängen.

Während der Wechseltalg immer mehr die Form eines Kindes annahm, betrachtete das einzelne Auge, zu dem erst spät ein zweites hinzukam, den Arm mit der winzigen Hand und den Fingerchen, die sich zur Faust schlossen und wieder öffneten. Besonders schienen es ihm Daumen und Zeigefinger angetan zu haben. Mit behaglichem Glucksen verfolgte der entstehende Wechselbalg, wie sich ihre Spitzen berührten und wieder voneinander entfernten. Schließlich bewegte sich das Ärmchen zu dem echten Säugling und kniff ihn kräftig in die Wange.

Das echte Kind hob sogleich lauthals zu schreien an.

Brams’ Herz raste. Doch Riette bewies Geistesgegenwart. Im Nu hatte sie ein Röhrchen an den Lippen und blies Sanftpuder in die Wiege.

Brams wich hastig zurück, um nicht versehentlich den feinen, glitzernden Staub einzuatmen. Das fehlte noch: eine Schar Kobolde, die bis zum Morgen mit sich und der Welt zufrieden um die Wiege herum stünden! Eine knappe Warnung wäre durchaus angebracht gewesen!

Das Plärren erstarb fast sofort. Brams trat wieder an die Wiege heran, wobei er sich die Nase vorsichtshalber zuhielt.

Der Säugling hatte den Daumen in den Mund gesteckt und nuckelte friedlich daran. Sein mittlerweile fast vollständig entwickeltes Ebenbild dagegen lächelte auf eine Art, die Brams frösteln ließ – so, als wüßte der Wechselbalg genau, daß der Sanftpuder seinesgleichen nichts anhaben konnte.

Die kleinen Äuglein blitzten bösartig auf, als das Geschöpf lauthals zu schreien anfing.

Der Anblick war in höchstem Maße beunruhigend: ein Säugling mit knallrotem Kopf, der wie am Spieß brüllte und sich offensichtlich köstlich dabei amüsierte!

Erschrocken starrte Brams zum Butzenbett. Nur noch ein paar kurze Augenblicke fehlten, bis der letzte Rest Wechselta.(lg) sich verwandelt hatte. Danach würden er und die anderen mit dem Müllerkind verschwinden, und niemand bekäme je etwas von dem Austausch mit.

Seine Lippen formten tonlos Worte wie in einer stummen Beschwörung: Haltet aus! Kümmert euch nicht um den Balg! Nur noch ein kleines Weilchen, dann sind wir wieder weg!

Doch schon beraubte die Frauenstimme Brams jeglicher Hoffnung.

»Das Kind schreit«, stellte sie fest.

»Ich höre es«, brummte eine Männerstimme.

»Steh auf und schau nach, was Friedi fehlt!« verlangte die Frau.

»Doch wohl nicht jetzt«, erwiderte der Mann empört. »Gleich! Ein bißchen noch ... Jetzt aber!«

»Nichts da, jetzt aber«, widersprach die Frau. »Hurtig! Schau nach!«

Das Knarren aus dem Wandbett hörte auf und wurde durch ein unzufriedenes Brummeln ersetzt. Die Zeit war um!

Ohne zu zögern griff Rempel Stilz in die Wiege, hob das Müllerkind heraus und rannte mit ihm zur Tür. Obwohl der Säugling etwa gleich groß war wie er selbst, trug er ihn dank seiner beachtlichen Körperkräfte mit einer Leichtigkeit, als wöge er nicht mehr als eine Feder.

Hutzel stand bereit. Rasch riß er die Tür auf, und ein Kobold nach dem anderen rannte in die Dunkelheit hinaus.

»Hinter den Karren, schnell!« befahl eine Stimme.

Brams war froh, daß ihm einer der anderen die Entscheidung abgenommen hatte, und bog nach rechts zu dem angegebenen Ziel ab. Umgehend stolperte er über den umgekippten Trog und stürzte. Jemand trat auf ihn drauf und stürzte ebenfalls. Dann noch jemand.

»’tschuldigung«, flüsterte Hutzel in sein eines Ohr.

»Kein Kraut und fünfzig Rüben«, wisperte Riette in sein anderes.

Brams kämpfte sich unter beiden hervor und richtete sich ein Stück auf. Über den Rand des Trogs hinweg lugte er zum Haus.

»Kackmist!« kam es leise über seine Lippen. Sie hatten die Tür vergessen!

In der offenen Tür stand der Müller. Sein langes Nachthemd reichte fast bis zum Boden. Nachdenklich rieb er sich den Kopf.

»Wer hat denn vergessen, den Riegel vorzuschieben?« brummte er, trat ins Haus zurück und schloß die Tür.

Brams stieß erleichtert die Luft aus: »Puh!«

Riette tat es ihm gleich: »Kackpuh!«

Beiden war bewußt, daß ihnen nur ein kleiner Aufschub gewährt worden war. Über kurz oder lang würde dem Müller auffallen, daß er eine Tür geschlossen hatte, die es noch nie an dieser Stelle gegeben hatte. Zudem eine mit Klinke – wahrscheinlich die einzige im ganzen Haus. Die Tür mußte schleunigst entfernt werden. Möglichst dann, wenn der Müller nicht gerade auf sie schaute. Denn selbst ihm würde es seltsam erscheinen, wenn sie unter seinen Augen verschwände.

Brams sprang auf und rannte, gefolgt von Hutzel und Riette, zum Haus. Ein weiteres Mal ließ er sich zum Fenster hinaufhelfen. Während seine Gefährten links und rechts der Tür Aufstellung nahmen, lugte er durch einen Spalt im Vorhang ins Haus. Wie befürchtet, schaute der Müller in Richtung der Tür.

Er hatte seinen Sohn – oder das, was er für ihn hielt – aus der Wiege genommen und schaukelte ihn auf den Armen. Dabei sprach er besorgt: »Was hat denn mein kleiner Friedebrech?«

Plötzlich zog er eine Hand unter dem Kind vor. Er betrachtete sie und hielt den vermeintlichen Säugling hoch, um ihn von allen Seiten begutachten zu können.

Brams erkannte sogleich, was den Müller störte. Auf der Rückseite des Wechselbalgs, in der Gegend des Gesäßes, hatte der Wechselta.(lg) noch immer nicht ganz seine neue Form angenommen.

Da der Müller in seiner Einfalt nicht ahnen konnte, was er in Wahrheit sah, rief er aus: »Mein Sohn ist ein Hosenscheißer!«

»Mach ihn sauber«, verlangte die Frauenstimme aus dem Butzenbett.

Der Müller sah sich ratlos im Zimmer um. Schließlich griff er nach einem Tuch, das verdächtig nach der Schürze seiner Frau aussah, und machte sich daran, den Hintern seines Stammhalters sauberzuwischen.

»Säuberst du ihn?« vergewisserte sich die Frauenstimme.

»Ja, ja«, brummte der Müller gedankenverloren.

Brams bedauerte den armen Menschen unendlich. Der gute Müller hatte keine Vorstellung, was er soeben anrichtete.

Wechselta.(lg) haßte es, wenn Fitzelchen von ihm abgerubbelt wurden! Dafür würde sich der Wechselbalg mit erheblich gesteigerter Bosheit rächen. Für diese unselige Tat würden der Müller und seine Frau noch viele Jahre bezahlen müssen.

Als der Müller seine verhängnisvolle Tätigkeit als verrichtet ansah, wandte er sich endlich ab, so daß die Tür aus seinem Blickfeld rückte. Brams gab das vereinbarte Zeichen und ließ sich vom Fenstersims gleiten. Blitzschnell entfernten Hutzel und Riette die Tür von der Wand. Brams packte mit an. Geschwind trugen sie das fünfte Gruppenmitglied im Eilschritt davon. Hinter dem Karren schloß sich ihnen Rempel Stilz mit dem Säugling an.

Etwa zweihundert Arglang von der Mühle entfernt, hob die Tür zu zetern an: »Das habt ihr mit Absicht getan!«

»Ach was«, widersprach Brams. »Warum sollten wir?«

»Weil ihr Kobolde ständig jemandem Streiche spielt.«

»Jemandem«, wiederholte Brams betont. »Jemandem! Vielleicht auch uns gegenseitig. Aber doch nicht uns selbst! Das wäre widersinnig. Wir brauchen dich doch.«

»Gut, daß du das nicht vergessen hast«, gab die Tür schnippisch zurück. »Vergiß es nie!«

Sie verstummte einen Augenblick und sagte dann argwöhnisch: »Vielleicht wolltet ihr euch ja an mir rächen?«

»Wofür?« meinte Brams verwundert.

»Nun, ich habe eigene Ansichten. Ich gebe Widerworte. Ich bin nicht so willfährig wie andere Türen, die ihr vielleicht kennen mögt.«

»Unfug«, brummte Hutzel grob. »Kennt man eine Tür, kennt man alle. Ich wüßte allerdings einen wirklichen Grund. Er hat aber nichts mit eigenen Ansichten zu tun, sondern mit eigenen Versäumnissen.«

Die Tür ging nicht auf seine Worte ein und fragte auch nicht, was er damit meinte. Hutzel äußerte sich nicht weiter dazu. Ein unbefangener Beobachter hätte meinen können, daß zwischen beiden ein seltsames Einverständnis herrschte.

Nun ging es für einige Zeit wieder schweigsam den Hügel aufwärts. Etwa auf halber Höhe des Hangs begann Riette erneut zu zählen. Erst nachdem ihr Brams zweimal versichert hatte, daß die Mission erfolgreich beendet sei, hörte sie unwillig damit auf.

Endlich kamen die beiden Kastanien in Sicht, wo die Kobolde die Menschenwelt betreten hatten.

»Da liegt einer«, raunte Rempel Stilz, der vorausstapfte.

Brams folgte seinem Blick. Tatsächlich, da lag jemand im Gras. Ein Mensch, gekleidet in Eisen: ein Ritter!

»Wie seltsam!« murmelte er. »Als wir den Hügel hinabgingen, stellte ich mir einen einzelnen Schläfer vor. Jetzt liegt da wirklich einer.«

Er ließ die Tür los und trat zu dem Liegenden. Das vordere Viertel einer abgebrochenen Lanze ragte aus der geborstenen Rüstung.

»Dem hat jemand einen ganz bösen Streich gespielt«, stellte Hutzel fest, als er neben Brams trat. Riette kam ebenfalls herbei. Sie stieß den Ritter mit ihrer Fußspitze an, aber er rührte sich nicht.

»Lachen konnte er über den Streich auch nicht mehr«, urteilte sie.

»Ich hoffe, daß künftig nicht alles eintritt, was ich mir manchmal vorstelle«, sagte Brams ernst. »Das wäre mir gar nicht recht.«

»Und ich hoffe, daß ihr jetzt zurückkommt und mich das letzte Stück zu den Bäumen tragt«, brachte sich die Tür in Erinnerung.

Brams und die anderen taten wie geheißen. Sie trugen die Tür zu einer Stelle zwischen den beiden Kastanien und richteten sie auf. Als sie sie losließen, blieb sie ohne zu schwanken stehen. Für sich genommen, war das eine gewisse Leistung, doch war sie nicht annähernd so beeindruckend wie die, welche die Tür bei der Mühle vollbracht hatte, als sie mit der Hauswand verschmolzen war. Daher wäre jedem, der nicht ahnte, was noch käme, unverständlich geblieben, warum die Türen auch hierfür einen angeberischen Begriff aus der längst toten Sprache verwendeten: Ephipotmakkeron Optalon – »die mit überhaupt gar nichts zu vergleichende Leistung«.

Worin diese unvergleichliche Leistung bestand, enthüllte sich erst, als Brams die Klinke drückte und die Tür öffnete. Dahinter wartete eine schummrig ausgeleuchtete Diele.

Alle Kobolde, die Brams kannte, sahen eine Diele. Da sie auf Einbildung beruhte, unterschied sie sich von Betrachter zu Betrachter. Sie war etwas, das der überforderte Geist hinzuerfand, damit das, was ihm das Auge berichtete, ein bißchen Sinn ergab. Schließlich mußte er schon damit zurechtkommen, daß eine Tür, die man eben noch getragen hatte, sich plötzlich in nichtvorhandenen Türangeln bewegen ließ und daß hinter ihr nicht das sichtbar wurde, was sie verdeckte, sondern etwas ganz anderes, das man vom Freien aus betreten konnte, ohne daß ein Türrahmen oder gar Wände zu erblicken gewesen wären.

»Na, das war’s doch mal wieder«, sprach Brams und ging zügig durch die Tür. Er war froh, nach Hause zu kommen, ins Koboldland-zu-Luft-und-Wasser.

Die Kobolde

Подняться наверх