Читать книгу Die Kobolde - Karl-Heinz Witzko - Страница 5

2. Willkommen zu Hause, Brams!

Оглавление

Im Koboldland-zu-Luft-und-Wasser war es gerade Mittagszeit. Die Sonne schien auf lose gruppierte Häuser, die durch Felder und Beete voneinander getrennt und durch schmale Wege miteinander verbunden wurden. Manche Häuser erinnerten an Baumstrünke, Pilze oder verwelkte und zusammengerollte Blätter vom letzten Herbst, andere an aufeinandergestapelte Kiesel oder halb aus dem Boden gezogene Rüben mit üppigem Kraut. Hin und wieder waren die Wege kniehoch mit Laub bedeckt. Um diese Stellen machten Brams und seine Begleiter wohlweislich einen Bogen, da sie wußten, daß das Laub nicht zufällig dort lag, sondern etwas verbarg, was zu einem Streich gehörte, der auf ein Opfer wartete. Oft genug sollte dieser Eindruck allerdings auch nur zum Schein erweckt werden, um die Wachsamkeit der Vorübergehenden einzuschläfern.

Die Tür hatte darum gebeten, in ihrer Stammkneipe abgesetzt zu werden. Sie trug den Namen Zum fein geölten Scharnier und sah aus wie ein großer Backstein. Links und rechts des Eingangs lehnten zwei eisenbeschlagene Eichentüren. Die beiden waren die Rausschmeißer der Schenke und hatten die Aufgabe, unerwünschten Gästen den Zutritt zu verwehren. Darunter verstanden sie im wesentlichen »Kobolde in Alltagslaune oder gar in beschwingter Stimmung«. Brams fand diese Regelung vernünftig. Seines Erachtens mußte ein Kobold völlig niedergeschlagen sein, um sich in dem abweisenden Gemäuer wohl fühlen zu können, in dem es ständig unheimlich knarrte und quietschte und – bösen Zungen zufolge – die Türen sich angeblich gegenseitig verstohlen ihre Knaufe zeigten.

Nachdem die Tür zum Fein geölten Scharnier gebracht worden war, verabschiedeten sich Riette und Hutzel, da ihre Anwesenheit nicht weiter vonnöten war. Rempel Stilz, der das Müllerkind trug, kam noch bis zum Krämer mit.

Das Haus des Krämers wurde von einem großen, blau und grün gestreiften Zelt verborgen. Der Besitzer hatte es um sein ursprüngliches Heim herum aufgeschlagen, da er zwar die Annehmlichkeiten seines gewohnten Zuhauses weiterhin genießen, aber auch gleichzeitig in einem Zelt wohnen wollte. Einmal im Jahr wurden seine Nachbarn an das Haus im Zelt erinnert, nämlich dann, wenn der Krämer die Zeltplanen zum Waschen abnahm.

Über dem Zelteingang hing ein Schild. Ursprünglich war darauf Abrechnungen und anderer Kram zu lesen gewesen. Doch dann hatte jemand die erste Silbe durchgestrichen, so daß die Schrift für eine Weile verkündete: Rechnungen und anderer Kram. Das wiederum war eines Tages in die vorläufig letzte Inschrift geändert worden: Rechenkrämer.

Vor dem Zelt stand eine Theke. An ihrem Ende saßen Erpelgrütz und Mopf, die beiden Gehilfen des Rechenkrämers, und würfelten. Ihre Kapuzenmäntel waren grün-blau wie das Zelt. Jedesmal, wenn jemand an ihnen vorbeiging, sprang einer von beiden auf und schrie erregt den anderen an: »Was wagst du mich nicht zu betrügen, du Klump! Dir will ich gleich etwas borgen!«

Worauf sich der andere zu verteidigen pflegte: »Meiner Treu du Gurke! Ich Möhre bei allem, was mir eilig ist: Mein Spiel war völlig unehrlich!«

Als die beiden Gehilfen Brams und Rempel Stilz erkannten, erhoben sie sich ebenfalls von ihrer Bank, doch dieses Mal ohne sich gegenseitig zu beschuldigen.

»Welche Überraschung! Der Bramsel und der Rempler. Da seid ihr ja wieder! Und, wie lief’s?«

»Wie sollte es laufen?« erwiderte Rempel Stilz und legte das immer noch friedlich am Daumen nuckelnde Müllerkind auf die Theke. »Alles innerhalb der Spezifikationen.«

»Das werden wir gleich sehen«, erwiderte Erpelgrütz streng. Gemächlich griff er unter die Theke und zog ein großes Buch hervor. Wichtigtuerisch befeuchtete er die Finger mit der Zunge und blätterte durch die Seiten, bis er die gewünschte gefunden hatte. Laut las er vor: »Größe?«

»Etwa ein Dreiviertel Arglang, meine ich«, antwortete Mopf, nachdem er das Kind mit Handlängen abgemessen hatte.

»Paßt!« rief Erpelgrütz aus und bedachte Brams und Rempel Stilz mit einem tiefschürfenden Blick, so als wisse er von einem Geheimnis, das beide ängstlich zu hüten versuchten, doch dessen Enthüllung nun bevorstand.

Er ließ einige Herzschläge verstreichen, bis er fortfuhr: »Haarfarbe?«

»Blond«, sagte Mopf.

Rempel Stilz unterbrach die beiden: »Wieso Überraschung? Wie lange waren wir denn weg?«

Seine Gegenüber schauten einander fragend an. »Fünf, sechs Wochen? Vielleicht sogar sieben?«

»So lange!« stieß Rempel Stilz erschrocken aus und rannte davon. Nach vielleicht zwanzig Schritten blieb er stehen, wandte sich um und rief: »Brams, hab’s eilig!« Schon rannte er weiter.

Die beiden Gehilfen sahen ihm mißbilligend hinterher, dann fragte Erpelgrütz: »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Bei blond«, meinte Mopf.

»Was war blond?« verlangte Erpelgrütz in scharfem Ton zu wissen.

Beide beugten sich über das Buch. Brams dachte nicht daran, so lange zu warten, bis sie herausgefunden hatten, daß »blond« weder auf die Körpergröße noch auf die Augenfarbe des Säuglings zutreffen konnte. Statt dessen erkundigte er sich: »Ist er da?«

»Ja. Geh einfach rein«, erwiderte einer der beiden, ohne von dem Buch aufzublicken.

Brams schritt zum Zelteingang, schob das Tuch davor zur Seite, drückte die Klinke der dahinter befindlichen Haustür und trat ein.

Der Rechenkrämer stand mit dem Rücken zur Tür und arbeitete an einem komplizierten Flechtwerk aus Stangen, Röhren und Rinnen, das von seinem Schreibpult aus zu den rund hundert Kerzen führte, die den Raum erhellten. Er war ähnlich gekleidet wie seine Gehilfen. Große Ruß- und Ölflecke zeigten, wo er sich die Hände an seinem Umhang abgewischt hatte.

Brams schob die Kapuze vom Kopf und machte sich bemerkbar: »Moin-Moin!«

Vom Schreibpult her erklang ein gackerndes Lachen. Moin, der Rechenkrämer, hatte den Scherz zwar sicher schon Tausende Male gehört, freute sich aber immer wieder aufs neue, wenn jemand Späße über sein Äußeres machte.

Moin war gewiß der größte Kobold, den Brams je gesehen hatte. Manche behaupteten, daß Zwergenblut in seinen Adern flösse. Das stimmte zwar genausowenig, wie wenn Rempel Stilz vorgab, Trollblut in den seinen zu haben, aber irgendwie versuchte man sich eben, Moins stattliche Körpergröße zu erklären.

Vor einigen Jahren hatte jemand die Behauptung aufgestellt, daß es unhöflich sei, Moin einfach nur mit »Moin!« zu begrüßen. Das reiche vielleicht bei einem Kobold gewöhnlicher Größe, aber bei einem so langen Kerl wie ihm spreche man mit einem knappen »Moin!« nur den halben Kobold an, also entweder nur die obere oder nur die untere Hälfte. Angemessener sei es, beide Teile zu berücksichtigen und ihn daher »Moin-Moin!« zu rufen. Das war hängengeblieben. Moin störte es nicht. Ihm gefiel es sogar.

»Ich habe gleich Zeit für dich«, erklärte er.

»Ich kann warten«, erwiderte Brams und sah sich neugierig um, ob sich etwas an der Einrichtung des Empfangsraums verändert hatte. Die Röhren schienen jedoch das einzig Neue zu sein. Ansonsten waren die Wände wie gewohnt mit Schiefertafeln behängt, auf die als Beweise von Moins Können mit Kreide einfache und schwierige Berechnungen geschrieben waren. So stand etwa auf der Tafel gleich beim Eingang

3 + 7 = 12.

Auf den flüchtigen Betrachter mochte diese Kostprobe von Moins Fertigkeiten nicht allzu vertraueneinflößend wirken. Ein weniger flüchtiger Betrachter konnte aber erkennen, daß sowohl die Drei als auch die Sieben in anderen Handschriften geschrieben waren als die Zwölf. Tatsächlich war nicht einmal das Pluszeichen in derselben! Nachträglich hatten flinke Finger die Ziffern so verändert, daß man jetzt nur noch sagen konnte, irgendeine Rechnung hatte irgendwann einmal als Ergebnis Zwölf gehabt.

Diese Tafel war beileibe kein Einzelfall. Allenthalben waren die Kreidezeichen verändert worden, so daß das, was mittlerweile auf den unzähligen Schiefertäfelchen stand, fast immer völlig unsinnig war. Allerdings gab es ein paar wenige Ausnahmen. Dazu gehörten etwa die Tafeln, die so hoch hingen, daß nur Moin an sie heranreichte. Ebenfalls dazu gehörte die Universaltafel. Sie bestand nicht aus Schiefer, sondern aus grünem Stein, und die Zeichen darauf waren aus Gold.

Auf Moins Universaltafel standen Berechnungen in allen ihm bekannten Rechen- und Zahlensystemen, ausgeführt in den fremdartigsten Zeichen. Manche der Völker, von denen sie stammten, schienen in Pfeilspitzen zu rechnen, andere in Symbolen, die an Tiere, Pflanzen, Wellen oder Wolken erinnerten. Brams konnte mit keinem dieser Zeichen etwas anfangen und daher nicht beurteilen, ob diese Berechnungen mehr Sinn ergaben als die auf den weiter unten hängenden Tafeln. Soweit es nach ihm ging, würde diese Frage allerdings bald entschieden sein.

»Und, wie lief’s?« erkundigte sich Moin, ohne von seiner Tätigkeit abzulassen.

»Wie hatten ein paar Schwierigkeiten«, räumte Brams ein. »Der Wechselta.(lg) war zu alt.«

»Wer hat ihn besorgt?« hakte Moin nach.

»Die Tür«, erklärte Brams.

»Besorg dir eine andere Tür«, riet ihm Moin sogleich.

»Jeder macht einmal Fehler, Moin-Moin.«

»Sicher, Brams. Einen Fehler, zwei Fehler, vielleicht auch drei. Besorg dir endlich eine neue Tür!«

»Ich weiß nicht«, brummte Brams unentschlossen. In gewisser Hinsicht hatte Moin sicherlich recht, aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, der Tür den Laufpaß zu geben. »Was treibst du eigentlich?« fragte er.

»Es war mir hier immer etwas zu dunkel«, erklärte Moin.

Dem konnte Brams nur zustimmen. Deswegen hatte er Moin schon frühzeitig geraten, Lichtöffnungen in die Zeltplane vor seinen Fenstern zu schneiden oder wenigstens helleren Stoff zu verwenden. Moin hatte für diesen Vorschlag jedoch nur eine sehr knappe Antwort übrig gehabt: »Stillos!«

Brams beschloß, seine Meinung über die Neuerung für sich zu behalten und allenfalls laut zu denken. »Wie lange mag es wohl jedesmal dauern, diese vielen Kerzen anzuzünden? Doch gewiß eine halbe Stunde?«

»Ha!« rief Moin so begeistert, als habe er genau auf diesen Einwand gewartet. »Es ist eine Sache weniger Augenblicke! Siehst du die Rinnen, die zu den einzelnen Kerzen führen? Lampenöl heißt das Geheimnis! Ich schlage mit einem Steinschloß einen Funken. Der Funke entzündet das Lampenöl, das dann durch die Rinnen zu den Kerzen läuft und auf ihre Dochte tropft. Das entzündet sie, und schon brennen die Kerzen! Das ist es im wesentlichen.«

»Aber es dauert sicher einige Zeit, sie wieder zu löschen?« erwiderte Brams.

Moin warf ihm einen strengen Blick zu: »Du suchst offenbar etwas, das du bemängeln kannst, Brams. Auch daran habe ich gedacht. Über jeder Kerze befindet sich ein Hütchen, das sich senkt und die Flamme löscht. Ich kann alle Hütchen gleichzeitig mit diesem Klingelzug betätigen!«

Er trat zur Wand hinter dem Pult und zog an einem breiten Lederband, das dort herunterhing. Dutzendfaches Klappern erklang. Überall erloschen die Kerzen, und im Nu wurde es so dunkel, daß man kaum noch die Hand vor Augen sah.

»Oh«, ertönte Moins überraschte Stimme. »Das hatte ich nur zeigen, aber nicht tatsächlich vorführen wollen. Wo ist denn gleich ... Autsch! Autsch!«

Etwas fiel klappernd zu Boden. Brams beschloß, die unvorhergesehene Gelegenheit zu nutzen. Rasch schlich er zu Moins Universaltafel und stellte sich mit dem Rücken vor sie. Flink tastete er nach der Stelle, die er für die Änderung ausersehen hatte, und zog die eigens mitgebrachte Schablone und die Goldkreide unter seinem Mantel hervor. Er drückte die Schablone gegen die Tafel und begann zu malen. Nun zahlte es sich aus, daß er die letzten beiden Tage – er verbesserte sich: die letzten beiden Tage vor fünf bis sieben Wochen – damit zugebracht hatte, hinter dem Rücken einen Fisch an die Wand zu malen. Zunächst frei Hand, was ziemlich klägliche Ergebnisse geliefert hatte, dann mit der Schablone. Wer hätte gedacht, daß er diese neue Fertigkeit beinahe umgehend einsetzen könnte?

»Na also!« meldete sich Moin wieder. Das Kratzen eines Zündrades erklang, und zahlreiche feurige Linien schössen durch die Dunkelheit. Überall entflammten Kerzen. Geschwind trat Brams von der Universaltafel weg. Staunend rief er »Ah!« und »Oh!«, um davon abzulenken, daß er Kreide und Schablone noch in den Taschen verschwinden lassen mußte.

»Wunderbar, nicht?« fragte Moin.

»Ein Wunderwerk, ein ganz verwunderliches Werk«, lobte Brams. »Jeder wird es haben wollen.«

Unauffällig lugte er zu der Universaltafel, auf der nun eine neue Gleichung prangte: Drei aufrechte Pfeilspitzen – plus? Minus? Vielleicht auch geteilt durch? – einen aufgedunsenen Fisch sind gleich sieben liegende Pfeilspitzen.

Hervorragend! Man erkannte gar nicht, daß der Fisch nur aufgemalt war. Besser hätte er es auch im Hellen nicht hinbekommen!

»Ha!« lachte Brams erfreut.

»Ist etwas?« erkundigte sich Moin mißtrauisch.

»Nein, nein«, beschwichtigte ihn Brams rasch. »Ich bin nur so ergriffen. Doch jetzt laß uns die Abrechnung machen.«

»Gut«, erwiderte Moin und schlug einen dicken Wälzer auf, der auf seinem Pult lag. Laufende Missionen stand auf dem Einband. Seine Hand griff nach einer goldenen Gänsefeder und tauchte sie, ohne sie zuvor zu spitzen, in ein Tintenfaß. Die Feder war offenbar belebt, aber nicht sonderlich klug, wie ihr melodisches Flüstern bewies: »Nasse, schwarze Füße – fein!«

»Wie rechnest du, Brams?« fragte Moin. »Ich vergesse es immer wieder. Nach dem üblichen Schlüssel?«

»So ist es«, antwortete Brams rasch. Moin begann zu schreiben.

»Gewohnte Mannschaft?«

»Ja.«

»Schade.« Moin blickte auf. »Wenn du eine kleine Mission übernehmen würdest, so könnte ich alles zusammen abrechnen und euch dafür zu einem erheblichen Teil in Buntem Kuchen und Süßer Milch ausbezahlen.«

Brams lief der Speichel im Mund zusammen.

»Wann soll das sein?« fragte er. Seine Stimme wechselte dabei ungewollt die Tonhöhe, als befände er sich wieder im Stimmbruch.

»Gleich morgen.«

»Unmöglich«, erklärte Brams widerstrebend. »Ich war eben erst fünf bis sieben Wochen weg.«

»Sechs!« verbesserte ihn Moin. »Für dich waren das jedoch sowieso nur wenige Stunden.«

»Mehr als ein Tag«, widersprach Brams. »Aber das ist bedeutungslos. Hier sind sechs Wochen verstrichen. Da kann viel geschehen. Ich muß mich erst wieder auf das laufende bringen.«

»Dann nicht«, sagte Moin kühl und widmete sich wieder der Abrechnung. Dabei murmelte er düster. Hin und wieder verstand Brams einzelne Worte, wie etwa »unglaublicher Verlust« ... »einfach im Stich lassen« ... »schlimme Notlage« ... »niemand mehr trauen« ... »kümmerlicher Freundschaftsdienst, pah!«

Die Stimmung war auf einmal sehr frostig.

Brams räusperte sich und fragte zaghaft: »Was geschieht jetzt eigentlich mit dem Müllerkind?«

Moin murmelte weiter: »... das plötzlich wissen? ... ihm die Not anderer Leute doch sonst völlig gleichgültig.« Er verstummte und sah auf. »Sagtest du etwas?«

»Das Müllerkind, was geschieht mit ihm?« wiederholte Brams.

»Sonst willst du das nie wissen«, entgegnete Moin, als wolle er ihn der Gedankenlosigkeit bezichtigen.

»Die Vorgaben waren dieses Mal sehr genau. Darüber habe ich mich gewundert«, erklärte Brams.

Moin lächelte und legte die Schreibfeder beiseite. »Tatsächlich ist es eine sehr spannende Geschichte. Kennst du dich mit dem Strohschwindel der Dämmerwichtel aus?«

»Nur ganz allgemein. Die Dämmerwichtel reden einem Einfaltspinsel ein, sie könnten Stroh zu Gold spinnen. Glaubt es der Pinsel, so muß er einen Vertrag unterschreiben, bei dem er der Dumme ist. Ich habe aber nie verstanden, wie das im einzelnen abläuft. Der Pinsel bekommt ja tatsächlich Gold. Irgendwo muß es herkommen.«

»Luft«, erklärte Moin. »Das Geheimnis heißt Luft. Man kann Gold unwahrscheinlich dünn hämmern. Einen Klumpen, gerade mal so groß wie das erste Glied meines kleinen Fingers, könnte ich so breit klopfen, daß sich daraus ein Gewand für dich schneidern ließe, Brams. Bei dem Strohschwindel wird diese hauchdünne Goldplatte in schmale Streifen geschnitten – wie Strohhalme eben. Diese Goldstreifen bauscht man ein wenig auf, und schon hat man einen riesigen Ballen Goldes, der aber so gut wie nichts wert ist. Dann kommt das dicke Ende: Hier ist dein Stroh, jetzt gib mir das vereinbarte Schwein, das Kind, den Schwiegervater und so weiter. Manchmal geben dir die Dämmerwichtel auch scheinbar die Gelegenheit, sie übers Ohr zu hauen. Du gewinnst zusätzlich fast mühelos ein Wunderelixier, etwa einen Schönheitstrank, den Nektar der ewigen Jugend und so weiter und so fort. Den mußt du aber sofort trinken, da er angeblich sonst seine Wirkung verliert. Hinter diesen schön klingenden Namen verbirgt sich allerdings grundsätzlich etwas, das dir die Kraft raubt. Sobald du den Wundertrank intus hast, erscheint dir dein falscher Goldballen unsagbar schwer.«

»Die Wirkung des Trankes verliert sich doch sicher irgendwann wieder?« unterbrach ihn Brams.

»Sicherlich«, bestätigte Moin. »Aber meist besitzt der Pinsel seinen Goldballen ohnehin nicht lange, da ihm jetzt auch jeder, dem er begegnet, unsagbar kräftig erscheint. Dadurch wechselt das trügerische Gold rasch seinen Besitzer, und die Spuren werden verwischt. Du glaubst gar nicht, wie viele Legenden es gibt, in denen ein Mensch anfangs Gold von einem Kobold gewinnt – sie können uns nämlich nicht von Dämmerwichteln unterscheiden – und anschließend von einem Troll windelweich geprügelt und ausgeraubt wird. Es gibt sogar eine Redewendung bei ihnen: Auf den Fersen des Kobolds folgt der Troll! Ich weiß nicht genau, was sie bedeutet. Vermutlich: Das dicke Ende kommt noch!«

»Du kennst dich gut aus, Moin-Moin«, warf Brams ein.

»Mein Geschäft bringt das mit sich, Brams. Allerdings hatte ich in jungen Jahren ein Verhältnis mit einer Dämmerwichtelin, was nicht gerade zu meinen schönsten Erinnerungen zählt.«

»Hört sich unnötig schwierig an, Moin-Moin. Warum halten es die Dämmerwichtel nicht wie wir: nachts mit der Tür ins Haus und mit Schwein, Schwager oder Kind wieder raus?«

»Das kann viele Gründe haben. Einer davon ist, daß Dämmerwichtel gierig, verlogen und allgemein unnütz sind. Es gibt aber auch andere. Stell dir vor, es ginge dir um ein Königskind. Königskinder leben in Burgen und Schlössern. Da mußt du womöglich mit deiner Tür durch zehn, zwanzig Mauern, bis du bei ihm bist, und dabei ständig auf der Hut vor jähzornigen Wachen und blutrünstigen Hunden sein. Vielleicht haben sie auch Fallen aufgestellt? Wer weiß? Es hat seine Gründe, warum seit der Zeit des Guten Königs Raffnibaff kein Wechseltrupp mehr versucht hat, ein Königskind auf die herkömmliche Weise auszutauschen. Und diejenigen, die’s damals versuchten, kehrten nie wieder heim.«

»Schön und gut, aber was hat das alles mit dem Müllerkind zu tun?«

»Ist das nicht offensichtlich? Der Pinsel war eine Frau, die dem Dämmerwichtel ihr Erstgeborenes für die Kunst des Goldspinnens versprochen hatte. Offenbar haben sich zwei Gleichgesinnte getroffen, da sie den Einfall hatte, dem Dämmerwichtel ein fremdes Kind statt ihres eigenen zu übergeben. Dazu mußte das Ersatzkind natürlich gewisse Voraussetzungen erfüllen.«

»Wird der Dämmerwichtel das nicht bemerken?«

»Das muß nicht meine Sorge sein«, erklärte Moin. »Ich besorge nur das Kind. Tatsächlich ist die Angelegenheit noch viel verwickelter. Der Dämmerwichtel handelte nämlich nicht auf eigene Faust. Es gibt Hinterleute.« Er schlug das Buch der Laufenden Missionen zu. »Das mache ich später fertig. Warum schaust du nicht heute abend vorbei? Ich habe eine Kuh.«

»Eine Kuh!« rief Brams ungläubig aus, wobei seine Stimme zwischen »eine« und »Kuh« abermals einen plötzlichen Sprung tat.

»Nur vorübergehend. Sie ist sozusagen auf der Durchreise zu ihrem neuen Besitzer. Aber ich dachte mir, wenn sie schon mal da ist, dann kann ich sie auch melken. Schau vorbei, Brams. Ich lade noch ein paar Freunde und Nachbarn ein, und dann gießen wir uns alle kräftig einen hinter die Binde! Ewig werde ich die Kuh ja nicht besitzen.«

»Ich komme gerne«, versprach Brams. »Aber wir reden auf keinen Fall über etwas Geschäftliches.«

»Wo denkst du hin!« antwortete Moin empört. »Nur ein geselliges Beisamensein unter Freunden. Dazu ein guter Schluck und ein paar lustige Geschichten – das ist alles.«

Mit diesen Worten kehrte er Brams den Rücken zu und beschäftigte sich demonstrativ wieder mit seiner Beleuchtungsmaschinerie.

»Bis heute abend, Brams. Bring Durst mit!«

Brams verabschiedete sich.

Draußen, vor dem Haus, entdeckte er nur noch einen von Moins Gehilfen. Gelangweilt saß er an der Theke und spielte mit den Würfeln. Der andere Gehilfe brachte offenbar gerade das Müllerkind weg.

Brams machte sich auf den Nachhauseweg, wobei er aufmerksam nach Anzeichen von Veränderung Ausschau hielt. Sechs Wochen waren nicht wenig! Noch nie hatte eine seiner Missionen so lange gedauert. Doch Reisen in das Menschenland waren bekanntlich unvorhersehbar. Manchmal verging viel Zeit, manchmal weniger. Wie lange man unterwegs gewesen war, erfuhr man erst, wenn man wieder zurückkam und jemanden fragen konnte.

Einer Legende nach war einmal ein Kobold so schnell wieder von einem Ausflug ins Menschenland zurückgekehrt, daß er sich selbst im Türrahmen begegnet war. Das hatte tragische Folgen gehabt, da sich einer von beiden – Brams wußte nicht, ob der abreisende oder der ankommende Kobold – augenblicklich in eine grünlich-gelbbraune Masse verwandelt hatte, wodurch das erste Wechselta.(lg) entstanden sein sollte. Doch vermutlich war diese Geschichte erfunden.

Offenbar wußten nicht einmal die Türen, warum die Reisen unterschiedlich lange dauerten. Fragte man sie, so fiel wieder einmal ein Begriff in einer längst toten Sprache: Hoplapoi Optalon. Daran liege es! Aber das sei viel zu kompliziert, um es jemandem zu erklären, der sich nicht damit auskenne.

Brams hatte noch nie erlebt, daß eine Tür den geheimnisvollen Begriff in eine etwas lebendigere Sprache übersetzt hätte. Stillschweigend war er daher zu der Überzeugung gelangt, daß Hoplapoi Optalon entweder »die Dümmste Frage« oder »rutsch mir doch den Buckel runter« bedeutete.

Einmal hatte er sogar einen Elfenmystiker deswegen befragt. Dessen Erklärung hatte zuerst unerwartet unelfisch und unmystisch geklungen: »Denke an Fettaugen auf einer Suppe, kleiner Freund. Manches Mal schwimmen sie beieinander und berühren sich wie scheue Rehlein, ein andermal tun sie es nicht.«

Das klang einfach. Zum Zeichen, daß er diesen Satz verstanden hatte, hatte Brams erwidert: »Und manches Mal schöpft jemand mit dem Löffel ein Fettauge ab und verschluckt es.«

Der Elfenmystiker war darauf in nachdenkliche Stille versunken. Drei Stunden später hatte er die Unterhaltung für beendet erklärt. Als Brams ihn das nächste Mal aufsuchen wollte, erfuhr er von den Nachbarn, daß der Elfenmystiker aufgehört habe, ein Mystiker zu sein, und in ein fernes Land gezogen sei. Auch habe er seit Brams’ letztem Besuch unter schweren Alpträumen gelitten.

Brams war nun nicht mehr weit von seinem Zuhause entfernt. Auffällig hob es sich von den wurzel-, pilz- und nußförmigen Häusern seiner Nachbarn ab. Überall besaß es Winkel. Sein Grundriß war rechtwinklig, ebenfalls die Tür an der Vorderseite sowie die beiden Fenster rechts und links davon. Auch das Dach lief in einem spitzen Winkel zu. Den Giebel hatten ursprünglich zwei gekreuzte Einhornköpfe verziert. Nachdem sie aber fahrlässig von jemandem belebt worden waren, waren sie blitzschnell von unbekannter Hand entfernt worden.

Brams hatte das Haus von seinem Vorbesitzer an einem Abend erworben, als seine Gedanken vom überreichen Genuß Süßer Milch schon arg verwirrt gewesen waren. Deswegen hatte er erst am nächsten Tag durchschaut, was an dem vermeintlichen Vorzug des Hauses so seltsam und verwirrend geklungen hatte: »Und das Beste überhaupt – innen ist das Haus viel kleiner, als man von außen denken könnte!«

Je näher Brams seinem Zuhause kam, desto mehr verlangsamte er seine Schritte. Unauffällig schaute er sich mit halbgesenkten Augenlidern um. Nirgends war ein Lebenszeichen auszumachen. Die Häuser wirkten verlassen und unbewohnt.

Doch halt! Hatte sich dort nicht gerade ein Vorhang bewegt? War nicht für einen winzigen Augenblick lang ein Haarbüschel zu sehen gewesen?

Brams gähnte und räkelte sich überzogen.

»Wie schön, nach dieser langen Abwesenheit wieder zu Hause zu sein«, sagte er überlaut und schaute rasch zu dem Fenster, hinter dem er glaubte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Doch nichts! Falls dort jemand herausgeschaut hatte, so verhielt er sich inzwischen vorsichtiger.

Im Grunde war eine Bestätigung überflüssig. Brams fühlte, daß er von Dutzenden Augenpaaren beobachtet wurde. Überall lauerten vermutlich seine Nachbarn und warteten in Vorfreude, mit kaum noch zu unterdrückendem Kichern und vor den Mund gepreßten Händen darauf, daß er sich gleich zum Narren machen und auf ihre wohl vorbereiteten Streiche hereinfallen werde.

Brams bemerkte, daß die Tür seines Hauses einen Spaltbreit offenstand.

Was war das? dachte er. Nachlässigkeit oder eine Warnung?

Er trat näher an die Tür heran und stieß sie mit der Fußspitze auf. Lautlos schwang sie nach innen. Prüfend ließ Brams den Blick über das Bett, den Tisch, den Schrank und die vielen Dinge wandern, die sich im Lauf der Zeit angesammelt hatten. Als ihm nichts Verdächtiges auffiel, trat er über die Schwelle und schlug die Tür hinter sich zu. Ohne Umschweife ging er zum Bett und rüttelte an den Stützpfosten des Baldachins. Er fiel nicht herab. Als nächstes hob er das Bett an. Auch dessen Füße waren nicht abgesägt worden. Brams kratzte sich am Kinn. Was war es wohl? Was war nicht so, wie es sein sollte?

Auf dem Tisch entdeckte Brams ein paar Tropfen Marmelade. Nach sechs Wochen hätte echte Marmelade längst eingetrocknet sein müssen. Vorsichtig beugte er sich über sie und schnupperte an ihnen.

Aha, dachte er und lächelte zufrieden, zumal als er entdeckte, daß die Tröpfchen nicht fruchtig rochen, sondern nach Leim. So hatten es sich die Nachbarn also vorgestellt: Der Heimgekehrte setzte sich an den Tisch, stützte sich mit den Ellenbogen auf und klebte dann fest!

Zufrieden über diese Entdeckung, griff er nach dem Stuhl. Das Möbelstück zerfiel sogleich in seine Einzelteile. Brams betrachtete einen Augenblick lang versonnen die Rückenlehne in seiner Hand und lehnte sie dann gegen den Tisch.

»Mein Stuhl«, rief er so laut, daß man ihn draußen hören mußte. »Das ist ja ein feiner Streich!«

Dann ging er wieder zur Tür. Wenn das alles war, was die Nachbarn ausgeheckt hatten, so würden sie jetzt aus ihren Verstecken kommen.

Als Brams die Haustür berührte, schwang sie nach außen auf.

Die ging doch immer nach innen auf, dachte er aufgeschreckt und sprang blitzschnell vom Hauseingang zurück. Schon platschte es, als sich der wassergefüllte Eimer entleerte, den augenscheinlich jemand vor wenigen Augenblicken erst draußen über der Tür aufgehängt hatte. Brams lachte triumphierend. Ein paar Spritzer hatte er zwar abbekommen, doch er war längst nicht so naß, wie er es ohne sein geistesgegenwärtiges Handeln geworden wäre.

Er streckte den Kopf ins Freie. Nach wie vor war draußen niemand zu sehen. Offenbar wartete noch immer ein Streich auf ihn.

Brams blickte zurück zum Tisch.

Hoppla, dachte er. Das ergab ja überhaupt keinen Sinn! Wenn der Stuhl auseinanderfiel, sobald man ihn berührte, so konnte man sich nicht mehr an den Tisch setzten und an der Tischplatte festkleben. Waren etwa für den Leim und den zerlegten Stuhl zwei unterschiedliche Urheber verantwortlich, die sich nicht miteinander abgesprochen hatten? Nein, solche Stümperei war keinem seiner Nachbarn zuzutrauen. Das ganze mußte eine Ablenkung sein, um ihn glauben zu machen, alles sei überstanden! Doch wie sah der wirkliche Streich aus?

Bestimmt war es am aufwendigsten gewesen, die Tür so zu präparieren, daß sie nach beiden Seiten aufschwang. Offenbar war es also wichtig, daß er naß wurde.

»Nehmen wir an, ich wäre naß«, murmelte Brams. »In dem Fall würde ich gleich meinen nassen Kapuzenmantel gegen einen trockenen auswechseln. Und der hängt ...«

Brams blickte zum Kleiderschrank. Aber natürlich! Dort lag die Antwort. Unwillkürlich mußte er an Moins Worte denken: »Auf den Fersen des Kobolds folgt der Troll. Das dicke Ende kommt noch.«

Wenige Schritte brachten Brams zu seinem Schrank. Etwa ein Arglang von ihm entfernt blieb er stehen und betrachtete ihn aufmerksam. Der blau bemalte Kasten mit den roten Herzen auf den Türen sah aus wie immer. Zweifellos durfte man die Türe nicht öffnen. Irgend etwas geschah dann, doch was? Das Auge verriet es nicht, eine eingehendere Untersuchung war daher notwendig.

Brams sah sich nach etwas um, das er anstelle einer Leiter verwenden konnte. Er entschied sich für den Stuhl neben seinem Bett, unter den er üblicherweise die Pantoffeln stellte. Diesen Stuhl hatte er vor etlichen Jahren den Anhängern einer finsteren Blutgottheit entwendet. Wegen der garstigen Schnitzereien hatte Brams ihn ursprünglich für einen leichten, frühmorgendlichen Aufwach-Scherz verwenden wollen, aus dem dann aber doch nichts geworden war.

Eingehend untersuchte Brams den ehemaligen Strangulierstuhl des Gottes Spratzquetschlach auf seine Festigkeit. Als er überzeugt war, daß sich niemand an ihm zu schaffen gemacht hatte, trug er ihn zum Schrank, stellte ihn seitlich daneben und kletterte hinauf. Mit einem Ruck hob er den Deckel seines Kleiderschranks an und schaute ins Innere. Er erblickte vier kammgeschmückte Köpfe und ebenso viele Paar Vogelaugen, die überrascht zu ihm aufblickten.

»Wer verbirgt sich alles in meinem Schrank?« fragte Brams streng.

»Hier ist niemand außer uns Hühnern«, antwortete aufgeregt einer der großen braunweißen Vögel.

»Ich nehme an, daß ihr laut gackernd und flügelschlagend aus dem Schrank kommen solltet, sobald ich die Türe öffne?« vergewisserte sich Brams.

»Gack!« bestätigte das Huhn.

»Der Plan hat sich geändert. Sobald ich die Schranktüre öffne, werdet ihr gesittet heraustreten, zur Haustüre gehen und mein Haus verlassen. Verstanden, Hühner?«

»Gack!«

»Können wir lieber zum Fenster hinaus? Ein Fenster! Lieber ein Fenster!« gackerten die anderen Hühner durcheinander.

»Meinetwegen«, erwiderte Brams, ohne eine Miene zu verziehen. Er kletterte wieder vom Stuhl herunter und öffnete die Schranktür.

Das Huhn, mit dem er zuerst gesprochen hatte – offenbar die Wortführerin – kam mit gestelztem Schritt heraus und schaute sich gewissenhaft um.

»Im ganzen Haus gibt es weder Körner noch etwas anderes aufzupicken«, erklärte Brams laut, damit die vier nicht unnötig trödelten.

Ein Huhn nach dem anderen schritt zum Fenster, hüpfte auf die Fensterbank und von da ins Freie. Brams nahm denselben Weg nach draußen. Ein schneller Blick zur Haustür bestätigte ihm, was ihm die Hennen in ihrer Aufregung unabsichtlich verraten hatten: Der Wassereimer war inzwischen wieder aufgefüllt worden!

Hühner mochten vielleicht nicht die schlauesten Vögel sein, doch manchmal lohnte es sich, ihnen aufmerksam zuzuhören.

Brams brauchte nicht lange zu warten, denn jetzt endlich zeigten sich seine Nachbarn. Jung und alt kamen lachend und kreischend aus ihren Häusern geströmt und riefen: »Willkommen, Brams! Wir haben dich schon vermißt! Sag, wie ist es dir ergangen?«

Der Heimgekehrte hob spielerisch mahnend den Finger und rief anerkennend, wie es gutes Benehmen verlangte: »Das war vielleicht ein Streich! Beim Guten König Raffnibaff, welch ein Streich!«

Nachdem alle viel gelacht hatten, wurden Neuigkeiten berichtet. Ausführlich wurde erzählt, wer was in den letzten Wochen getan und wer wem welchen Streich gespielt hatte. Brams konnte zu der Unterhaltung nicht viel beisteuern, da für ihn seither nur ein einziger Tag vergangen war.

Als sich die Nachbarn zerstreut hatten, war es schon fast an der Zeit, sich für den Besuch bei Moin herzurichten. Brams schlüpfte aus dem erdfarbenen Kapuzenmantel, den er während des Ausflugs in das Menschenland getragen hatte, und ging zum Schrank. Zum Glück hatten sich die Hühner zu benehmen gewußt.

Er ließ die Finger über die ordentlich aufbewahrten, frischen Kleidungsstücke wandern. Sollte er einen gelben Kapuzenmantel tragen oder einen grünen oder vielleicht einen blauen?

Nach kurzem Anprobieren entschied sich Brams gegen Grün und Blau, da er in beiden Farben zu sehr wie einer von Moins Angestellten aussah und den Rechenkrämer nicht auf falsche Gedanken bringen wollte. Statt dessen wählte er einen vornehmen purpurnen Umhang aus, den er noch nicht lange besaß.

Sodann machte er sich auf den Weg. Beim Denkmal des Guten Königs Raffnibaff kam ihm in den Sinn, kurz bei Rempel Stilz vorbeizusehen, zu dessen Heim es nur ein geringfügiger Umweg war.

Rempel Stilz’ Haus erinnerte an eine verschrumpelte Kastanie, nur daß es um einiges größer war. Ein Stück entfernt von der weit offenstehenden Haustür wartete eine ganze Schar junger und alter Kobolde und Koboldinnen. Brams wunderte sich, daß die Unterdessenmieter seines Freundes noch immer da waren. Offenbar hatte Rempel Stilz zuerst versucht, sie mit guten Worten zu überzeugen, bevor er sich für die gewohnte, handgreiflichere Vorgehens weise entschied.

Rempel Stilz mußte nicht vor Streichen auf der Hut sein. Wenn er unterwegs war, zogen stets seine Unterdessenmieter ein. Sie achteten darauf, daß niemand die Beine von Tischen und Stühlen absägte oder Hühner im Kleiderschrank versteckte. Das hatte große Vorteile.

Es hatte aber auch große Nachteile! Für gewöhnlich vergaßen die Unterdessenmieter nämlich binnen weniger Stunden, daß Rempel Stilz’ Haus gar nicht ihr eigenes war und sie nur darin bleiben durften, währenddessen er abwesend war.

In der Haustür erschien Rempel Stilz. Er hielt einen anderen Kobold an Kapuze und Hosenbund gepackt. Mit den Worten »Das ist der letzte!« warf er ihn schwungvoll hinaus.

»Hui!« rief der andere Kobold trotzig während des kurzen Flugs und rollte sich erstaunlich gewand ab, als er auf dem Boden aufkam. Unmittelbar danach stand er aufrecht. Offensichtlich verfügte er über viel Übung.

»Gib Bescheid, wenn du uns wieder brauchst«, verabschiedete er sich im Namen aller anderen.

»Geht klar«, erwiderte Rempel Stilz und wollte die Tür schließen. Da entdeckte er Brams.

»Brams!« rief er. »Warte auf mich. Ich komme mit.«

»Wohin kommst du mit?« fragte Brams. Doch Rempel Stilz hatte die Tür bereits zugemacht. Als er sich wieder zeigte, trug er ebenfalls einen purpurnen Kapuzenmantel. Er deutete auf seinen. »Wir sehen aus wie Brüder.«

»Ja«, erwiderte Brams abwesend. »Wohin kommst du mit, Rempel Stilz?«

»Zu Moin-Moin. Er hat doch derzeit eine Kuh zu Hause. Ich bin ebenfalls zu ihm eingeladen. Macht es dir etwas aus, wenn wir einen kleinen Umweg gehen?«

»Keineswegs«, sagte Brams und folgte ihm. »Er hat mir gar nicht erzählt, daß du auch eingeladen bist.«

»Hat er sich wohl nachträglich überlegt. Sein Gehilfe Erpelgrütz hat es mir ausgerichtet. Ich, du, einige Freunde und Nachbarn.«

Brams schüttelte den Kopf. »Wenn ihm das früher eingefallen wäre, so hätte ich es dir doch gleich sagen können. So etwas! Offenbar denkt Moin-Moin nur noch an seine Beleuchtung.«

Ihr Weg führt an einem Schnittlauchfeld vorbei. Die dunkelgrünen Pflanzen wuchsen in Büscheln von zwanzig oder dreißig Halmen. Etwa ein Achtel Arglang trennte ein Büschel vom nächsten. So standen sie in langen Kolonnen, viele Tausend von ihnen. Manche blühten und sahen aus, als trügen sie violette Hüte. Das machte sie zu natürlichen Anführern.

Mit einem Mal verstand Brams den Sinn des Umweges. Er verdrehte heimlich die Augen, ließ sich aber sonst nichts anmerken. Manchmal war Rempel Stilz doch sehr leicht zu unterhalten!

Sie waren nur noch wenige Arglang von dem Feld entfernt, als ein dünnes Stimmchen von seinem Rand ertönte.

»Vorsicht, Kobolde im Anmarsch!« rief eine der Pflanzen. »Bestimmt wollen sie uns einen Streich spielen. Seid wachsam, tapfere Schnittlauche! Habt acht, Kameraden! Schließt die Reihen, Geschwister, Brüder, Schwestern, Artgenossen! Hört nicht auf ihre trügerischen Reden!«

Der Warnruf wurde aufgenommen und über das ganze Feld weitergegeben. Dann herrschte wieder Stille. Angespannte Stille, knisternde Stille.

Brams und Rempel Stilz gingen schweigend weiter, als hätten sie nichts gehört. Erst fast am Ende des Feldes ergriff Rempel Stilz in scheinbar beiläufigem Ton das Wort. Nur ein leichtes Beben der Stimme verriet seine wahren Gefühle.

»Seltsam«, wunderte er sich. »Was macht denn der Blumenkohl im Schnittlauchfeld?«

Er schloß die Hand zur Faust, preßte sie an die Brust und begann stumm zu zählen, indem er Finger für Finger wieder öffnete: Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger ...

Weiter kam er nicht, denn schon verwandelte sich die geordnete Welt des Schnittlauchs in Wirrwarr. Zahllose Rufe klangen durcheinander: »Ein Eindringling! Ein Blumenkohl! Wo ist er? Schaut euch um, Kameraden! Wir sind unterwandert! Fremde unter uns!«

»Gleich«, flüsterte Rempel Stilz in Vorfreude. »Gleich kommt es!«

Und schon ertönte der Ruf, auf den er gewartet hatte: »Achtung, wackere Schnittlauche! Alle durchzählen!«

»Eins ... zwei ... drei«, erscholl es zackig.

»Dazu brauchen sie die ganze Nacht und den halben Tag«, kicherte Rempel Stilz leise. »Auf dem Rückweg müssen wir unbedingt noch einmal hier vorbei. Ich werde dich dann fragen, warum der Blumenkohl ständig ›Fünf! Fünf! Fünf!‹ schreit. Dann fangen sie nämlich wieder von vorne an.«

Brams fühlte sich an den Streich erinnert, den er Riette hatte spielen wollen. Mißmutig tadelte er seinen Begleiter: »Das Gemüse zu ärgern ist kein Zeichen von Reife.«

»Sie haben es verdient«, widersprach jener. »Die Schnittlauche sind gänzlich humorlos.«

»Gilt das nicht für jedes Gemüse?« meinte Brams.

»Es gibt durchaus Ausnahmen«, erklärte Rempel Stilz.

»Nenne mir eine.«

»Kartoffeln.«

»Kartoffeln?« wiederholte Brams zweifelnd.

»Erstaunlich, nicht? Aber es gibt Anzeichen dafür«, erklärte ihm Rempel Stilz begeistert. »Natürlich haben sie dasselbe Problem wie alle Knollen. Es dauert sehr lange, bis man eine Regung bei ihnen bemerkt.«

Brams dachte über das Gehörte nach, bis sie Moins Zelt und Haus erreicht hatten. Dort kam zu seiner Überraschung gerade Hutzel an. Er trug ebenfalls ein purpurnes Mäntelchen. Auf seinen Umhang und die der anderen deutend, fragte er: »Planen wir eine Verschwörung?«

»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Rempel Stilz und blickte fragend zu Brams. Der kam jedoch nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben, denn von der rückwärtigen Hausseite kam ein Laut, der ihn alles andere vergessen ließ: »Muh!«

Die Kobolde

Подняться наверх