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3. Äpfel und Birnen und der Fortschritt der Wissenschaft
ОглавлениеWolken verbargen die meisten Sterne, und die Luft roch nach violetten und dunkelbraunen Blättern, die in klammer Kälte vermoderten. Man hätte meinen können, es wäre Herbst, doch das war es nicht.
Abermals war es nachts, und wiederum rannten Brams und seine Gefährten mit ihrer Tür über nasses Gras.
»Warum sind wir hier?« fragte Hutzel im Laufen.
»Weil wir Einfaltspinsel sind«, brummte Rempel Stilz.
»Richtig! Ich wollte es nur noch einmal hören. Und warum sind wir Pinsel?«
»Weil wir zuließen, daß uns Moin-Moin mit Süßer Milch betrunken machte«, antwortete Brams widerstrebend. »Nachmittags noch sagte ich ihm ausdrücklich, daß ich über nichts Geschäftliches reden wolle!«
»Für jemanden, der das nicht wollte, warst du sehr redselig«, erinnerte ihn Hutzel.
»Du hättest mich zum Schweigen anhalten können«, gab Brams schnippisch zurück. »Wenige Worte hätten genügt: Sei still, Brams!«
Er hob die freie Hand, spreizte drei Finger ab und sprach: »Drei! Nur drei Worte!«
Hutzel seufzte. »Ich fühlte mich nicht dazu in der Lage. Ich wurde sozusagen von den Ereignissen überrollt. Es hätte uns mißtrauisch machen sollen, daß er uns allesamt einlud.«
»Ich wurde nicht eingeladen«, warf die Tür ein. »Ich werde nie zu solchen Treffen eingeladen. Man vergißt mich regelmäßig. Bei meinesgleichen ist das ganz anders. Ich habe viele Freunde und Bekannte unter den Türen. Ich bin sehr begehrt, und wir haben immer viel Spaß miteinander.«
»Es gibt triftige Gründe dafür, daß ihr Türen nie eingeladen werdet«, behauptete Hutzel bedeutungsvoll. Er ließ einen Augenblick verstreichen, dann lachte er. »Ihr Türen schnappt immer so leicht ein!«
Die Bemerkung brachte Brams aus dem Tritt. Er lachte, stolperte und hatte einen Augenblick lang Mühe, nicht zu stürzen.
»Moin-Moin ist uns haushoch überlegen«, rief Rempel Stilz aus. »Da können wir einfach nicht mithalten.«
»Er ist schlauer als wir alle zusammen«, stimmte Riette fröhlich zu. »Aber das ist nicht schlimm. Soll ich jetzt mit dem Zählen beginnen?«
»Du bist nicht dran«, erinnerte Brams sie knapp. »Ich weiß übrigens, warum Moin-Moin so ist, wie er ist. Als junger Kobold hatte er eine Liebschaft mit einer Dämmerwichtelin. Sie hat ihn unentwegt betrogen und übers Ohr gehauen. Wenn er sich dann darüber beklagte, so redete sie ihm ein, daß er sich alles einbilde und es in Wahrheit ganz anders gewesen sei. Blauäugig und gutherzig, wie Moin-Moin in dem Alter war, nahm er ihr diese Lügen ab. Selbst daß sie ihn Zakaria nannte, obwohl sie wußte, daß er Moin hieß, machte ihn nicht argwöhnisch. So ging das viele Monate lang, vielleicht sogar Jahre! Solch anhaltende Tücke verändert einen Kobold von Grund auf. Seither kann man ihm nicht mehr trauen.«
»Weißt du das, oder erfindest du das gerade?« erkundigte sich Riette.
»Ich erfinde es selbstverständlich«, räumte Brams ein. »Andernfalls hättet ihr womöglich bereits davon gehört, und ich hätte mir das Erzählen ersparen können. Irgendwie muß man es sich ja erklären, daß er uns auf so heimtückische Weise hereingelegt hat.«
»Mir erscheint die Geschichte völlig glaubwürdig«, sagte Rempel Stilz. »Besonders, daß sie ihn immerzu Zakaria nannte, finde ich sehr ergreifend.«
»Die Geschichte stimmt aber nicht«, stellte Riette fest. »Es war nämlich ganz anders. Tatsächlich hat Moin-Moin die Dämmerwichtelin hintergangen. Eines Tages lockte er sie unter einem Vorwand in seinen Keller. Dort hat er sie mit einem so langen Seil gefesselt, daß man kaum noch etwas von ihr erkennen konnte. Sie sah aus wie ein Wollknäuel! Dann hat er ihr gedroht: Wenn sie ihm nicht alle Geheimnisse und Schwindeleien der Dämmerwichtel verrate, so werde er seinen Freund, den Riesen, holen, damit er sie zu Matsch zertrete!«
»Matsch?« wiederholte Hutzel bestürzt.
»Jawoll, Hutzelhuber! Matsch, Brei, Mus! Nur ein langer, feuchter Strich werde von ihr übrigbleiben.«
»Weißt du das, oder erfindest du das gerade?« fragte Brams zweifelnd.
»Eine Freundin hat es mir erzählt«, behauptete Riette.
»Welche Freundin?«
»Na, die eben«, erwiderte Riette schnippisch. »Meine Freundin. Die Spinne.«
»Die Spinne?«
»Nicht nachfragen«, zischte Hutzel. »Sei einfach still, Brams! Moin-Moin hat überhaupt keinen Keller.«
»Vielleicht ja jetzt nicht mehr«, murmelte Brams vor sich hin. »Wenn da ständig der Riese drauftreten muß, damit man nichts von seinen Familienstreitigkeiten erfährt ... Ich wußte nicht einmal, daß er einen Riesen kennt!« Er beschloß, das Gesprächsthema zu wechseln. »Ich habe Moin-Moin einen Streich gespielt«, verkündete er. »Ich habe die Universaltafel verändert!«
»Was hat er gesagt, als er deinen Streich bemerkte?« fragte Riette.
»Er hat ihn noch nicht bemerkt«, kicherte Brams. »Ich bin nämlich sehr geschickt vorgegangen ...«
»Bestimmt hat er ihn sofort bemerkt«, beharrte Riette. »Er wollte es dir nur nicht zeigen. Moin-Moin ist ungeheuer schlau! Dem kann man nichts vormachen. Mich stört das ja nicht. Soll ich jetzt zählen?«
»Nein«, sagte Brams unwirsch. Er war ein bißchen enttäuscht darüber, daß sein Streich nicht mehr Beachtung fand. Gleichzeitig fragte er sich aber, ob Riette vielleicht recht hatte. Womöglich war ihre jetzige Lage eine Folge des Streichs? Streich und Gegenstreich? Nein, das war sicher übertrieben!
Brams beschloß, noch einmal von vorne zu beginnen. Kichernd wiederholte er: »Ich habe Moin-Moin einen Streich gespielt.«
In dem Augenblick lief Rempel Stilz ohne ein Wort zu verlieren davon. Als ihn die Nacht beinahe verschluckt hatte, blieb er stehen und rief: »Ist das dieselbe Gegend wie gestern ... Ich meine, wie gestern und vielleicht noch ein paar Wochen dazu?«
»Nein«, erwiderte Brams verwirrt. »Der Müller wohnte in einem Tal mit einem Bach. Warum fragst du?«
»Auwei!« ließ Rempel Stilz verlauten. »Auwei! Auwei!«
Er bückte sich nach etwas. »Kommt rasch her, das müßt ihr euch ansehen!«
Alle Kobolde gehorchten aufs Wort. Keiner wartete, keiner zögerte, keiner verschwendete irgendeinen Gedanken an die Tür. Nicht einmal als sie empört ausrief: »Das wird ja immer schöner! Jetzt lassen sie mich einfach fallen und im Gras liegen!«
Rempel Stilz hatte mittlerweile etwas Großes vom Boden aufgehoben. Wegen des schwachen Lichtes konnte man jedoch nur schwer erkennen, was es war.
»Was ist das?« fragte Hutzel und machte einen Schritt auf ihn zu. Dabei stieß er sich den Fuß an etwas, das im Gras lag. Neugierig ging er in die Hocke, um nachzusehen, worum es sich handelte.
Derweil beantwortete Rempel Stilz seine Frage: »Es ist ein einzelner Arm mit Eisen drum herum.«
»Schon wieder so ein übler Streich«, stieß Brams aus und sah sich mißtrauisch um.
»Hier liegt ein Kopf«, meldete sich Hutzel vom Boden. »Abgehackt und ebenfalls in Eisen gepackt.«
»Ich habe den Rest gefunden, Hutzelheimer«, rief Riette zunächst triumphierend. Doch dann wurde ihr Tonfall grüblerisch. »Das ist aber seltsam! Dem fehlt zwar der Kopf, aber er hat schon ausreichend Arme. Er muß einen überzähligen Arm besessen haben.«
»Nicht nur einen zusätzlichen Arm«, sagte Brams mit unbewegter Miene, nachdem er sich einen vermeintlichen Maulwurfshügel näher angesehen hatte. »Hier liegt sein anderer Kopf. Laßt uns die Mission lieber schnell zu Ende bringen, bevor uns ein ähnlich böser Streich gespielt wird.«
Alle waren damit einverstanden, und auch die Tür hörte sofort zu zetern auf, als sie von dem zerhackten Ritter erfuhr.
Das Ziel ihrer gegenwärtigen Unternehmung war ein Dorf, das sich mit Unterbrechungen zu beiden Seiten einer Straße hinzog. Wahrscheinlich besaß es sowohl Gemeindeweiden wie auch einen Dorfplatz, doch davon war nichts zu erkennen. Alles, was man sah, waren lichtlose Häuser mit spitzen Dächern.
Etwas weiter abseits der Straße standen Scheunen. Sie waren erheblich kleiner als die Häuser und auf niedrigen Stelzen errichtet worden, und zwar so, daß die Scheunenböden überhingen. Damit erhoffte man allerlei Nager davon abzuhalten, sich an den Vorräten gütlich zu tun.
Brams und seine Gefährten näherten sich den Häusern von der der Straße abgewandten Seite. Unter einer der Scheunen blieben sie stehen, um nach Hunden Ausschau zu halten. Nun konnten sie auch erkennen, daß das Haus, auf das sie es abgesehen hatten, an der Rückseite nur eine Tür, aber keine Fenster besaß.
»Das wird dieses Mal nicht so leicht wie gestern werden, das Kind zu finden«, meinte Rempel Stilz.
»Wir wollen nicht das Kind austauschen, sondern den Großvater«, teilte ihm Brams mit.
»Wer will denn einen Großvater?« fragte Hutzel.
»Nachtalwen«, erklärte Brams.
»Nachtalben?« wiederholte Hutzel verwundert, so wie er ihn verstanden hatte. »Lassen die neuerdings ihre Opfer nach Hause liefern, damit sie sie mit Alpträumen plagen können? Das nenne ich aber stinkfaul!«
»Nicht Nachtal-b-en«, sagte Brams und betonte das »B«, »sondern Nachtal-w-en. Du weißt schon: flink, durchscheinend, gut riechend!«
»Das beantwortet nicht meine Frage«, erwiderte Hutzel. »Was wollen die Nachtal-w-en mit einem menschlichen Großvater? Du weißt schon: langsam, undurchsichtig, gelegentlich muffelnd?«
»Nachtalwen werden nicht alt, jedenfalls nicht so alt, daß man es ihnen ansieht«, erläuterte Brams. »Die Vorstellung, einen alten Großvater zu haben, der ihre Kinder auf den Knien wiegt, begeistert sie. Moin-Moin setzt große Hoffnungen in diese Sache. Wenn der Großvater gut bei den Nachtalwen ankommt, wollen sie vielleicht noch eine Großmutter.«
»So ist das also«, stieß Hutzel erleichtert aus. »Endlich verstehe ich, worüber ihr beiden gestern abend während des Zechgelages spracht, als du zu ihm sagtest, du könntest mit Leichtigkeit Dutzende, ja, Hunderte oder gar Tausende Großmütter besorgen.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Brams abweisend, obwohl er sich mittlerweile sehr gut an diesen Teil der Unterhaltung erinnerte.
Riette zischte plötzlich: »Da kommt jemand.«
»Woher?« flüsterte Brams.
»Wahrscheinlich aus dem Haus, aber ich habe ihn gerade erst entdeckt.«
Brams spähte vorsichtig unter dem Scheunenboden hervor. Tatsächlich, ein einzelner Mensch! Er ging leicht nach vorne gebeugt und bewegte sich langsam und unsicher. Während er ungeschickt an einem Strick nestelte, der ihm als Gürtel diente, brabbelte er unverständlich.
So ein Zufall, dachte Brams und blickte Bestätigung suchend zu Rempel Stilz.
»Man muß ja auch mal Glück haben«, wisperte jener zuversichtlich.
Brams schaute zu Riette. Sie wartete angespannt auf ihren Einsatz. Er nickte zufrieden und hob die Hand. Gelassen beobachtete er, wie das ahnungslose menschliche Sippenoberhaupt Schritt um Schritt näher kam. Dann ließ er plötzlich die Hand fallen.
Flink sprang Riette unter dem Scheunenboden hervor und blies der Gestalt Sanftpulver ins Gesicht. Das Brabbeln verstummte. Der Mann blieb stehen.
Brams klatschte in die Hände. »Das war ein Kinderspiel! Laßt es uns schnell zu Ende bringen!« Rasch ging er die Anforderungsliste durch: »Haarfarbe? ... Ach, unwichtig! Augenfarbe ebenfalls, Größe auch. Was haben wir noch? Sein Alter ... Wie alt ist er, Riette?«
»Hm«, antwortete die Koboldin unschlüssig. »Schwer zu entscheiden. Hutzelbacher, kommst du kurz her?«
Hutzel gehorchte. Beide tuschelten. Brams wartete eine Weile, dann brachte er sich in Erinnerung. »Alter?«
»Mittelalt.«
»Was soll das heißen: mittelalt?«
»Feste Haut, kaum Falten und ...« Ohne Vorankündigung sprang Riette auf Hutzels Schultern. Sie reckte sich. Der Mensch stieß ein würgendes Geräusch aus, dann verkündete Riette: »Noch alle Zähne!«
Schon stand sie wieder neben Hutzel. »Vermutlich geschlechtsreif und in der Blüte seiner Jahre. Mittelalt eben.«
»Ein mittelalter Großvater«, seufzte Brams.
»Er ist der Falsche«, nahm ihm Rempel Stilz die Worte vorweg.
»Ja, der Falsche«, bestätigte Brams.
Völlig unerwartet begann der falsche Großvater mit vor Entsetzen bebender Stimme zu sprechen: »Seine ... Hand ... in ... meinem ... Mund.«
Er klang wie jemand, der im Schlaf spricht, doch die Worte kamen viel langsamer über seine Lippen.
»Was ist das?« riefen alle Kobolde gleichzeitig. Daß jemand unter dem Einfluß von Sanftpulver eigenständig redete, war höchst ungewöhnlich.
Einige Augenblicke verstrichen, dann sprach der Mann erneut voller Furcht: »Erdmännchen, viele Erdmännchen! Sie sind gekommen, um mich zu holen. Ich will ihnen nicht folgen, doch ich muß es unweigerlich tun. In ihren unterirdischen Bau werden sie mich entführen. O Graus, unsittliche Dinge werden sie mit mir anstellen! Eines wird sich auf mich legen und eines unter mich. Ihr guten Götter und Geister! Laßt nicht zu, daß sich das mit der spitzen Nase unter mich legen wird!«
»Erdmännchen? Was ist das für ein Unsinn?« fragte Hutzel, aber niemand wußte ihm eine Antwort zu geben.
»Ihr verderbten Götter«, flehte unterdessen der Betäubte weiter. »Erspart mir das mit der Dolchnase!«
»Ja, ja, ist schon gut«, versuchte Hutzel ihn zu beruhigen.
»Oho!« rief Brams plötzlich aus. »Eines drunter, eines drüber? Ich glaube, ich weiß, wovon er redet: Succubi und Incubi!«
»Das wäre mir aber ein arg schlauer Bauernopa«, widersprach Hutzel. »Woher sollte er wohl Incubi und Succubi kennen?«
»Ich bin kein Bauer«, sprach der Mann weiter, »sondern bettete nur in der Scheune mein Haupt zur Ruhe. Ich bin Magister Dinkelwart von Zupfenhausen, bewandert in den Sieben Künsten und Dreiunddreißig Wissenheiten! Ihr guten Götter, bitte, bitte nicht das mit der Spießnase!«
»Und nun?« drängte Riette. »Wie geht es weiter?«
Brams zuckte die Schultern. »Sperren wir ihn eben in der Scheune ein. Da stört er wenigstens nicht.«
So wurde es getan. Als die Scheunentür verschlossen war, war das Flehen des Magisters nur noch schwach zu vernehmen: »Ihr Götter, ihr Götter! Nicht das mit der Schwertnase!«
»Alle fertig?« fragte Brams, als jeder wieder seinen Platz an ihrer Tür eingenommen hatte. Dann begann er zu zählen: »Drei Äpfel und keine Birne!«
Geschwind rannten die Kobolde mit der Tür zum nächsten Haus. An einer freien Stelle, gleich neben zwei Fässern, in denen die Hausbewohner Regenwasser sammelten, stellten sie die Tür auf und lehnten sie gegen die Wand. Innerhalb weniger Augenblicke war sie mit dieser verschmolzen. Brams öffnete sie und ließ seine Begleiter an sich vorbei ins Haus. Er folgte als letzter und schloß hinter sich die Tür.
Ein prächtiges Schnarchen füllte das stockdunkle, überraschend warme Zimmer. Die Luft roch überaus würzig.
»Man sieht überhaupt nichts«, beschwerte sich Rempel Stilz.
»Geduld«, vertröstete ihn Brams und wartete darauf, daß seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er hörte leises Schlurfen. Anscheinend konnte einer seiner Gefährten nicht abwarten, bis er wieder etwas sah.
»Vier Äpfel und zwölf Birnen!« gab Brams mahnend bekannt.
Plötzlich ertönte ein lautes »Quak-Quak!«, gefolgt von einem »Platsch-Platsch-Platsch!«, als sich schwimmhautbewehrte Füße rasch entfernten. Ein zweites »Quak-Quak!« antwortete. Ganz in der Nähe raschelte es, und etwas Großes richtete sich auf. Es machte »Mäh!«
»Die haben ihr gesamtes Vieh im Haus«, zischte Hutzel.
Brams streckte die Hand nach dem Schaf aus. Seine Finger berührten sofort einen warmen Körper mit dichter Wolle. Abermals erklang ein »Mäh!«
Nun war ein neues Geräusch zu vernehmen. Etwas sprang, wartete, sprang erneut und kam dabei immer näher.
»Miau!« ertönte es ganz nah. »Miau ... iiii!«
Das zweite Miauen klang anders als das erste: erschrocken, beleidigt, verängstigt? Die nachfolgenden Geräusche verrieten, daß die Katze die Flucht angetreten hatte.
Riettes fröhliche Stimme brachte Licht ins sprichwörtliche Dunkel: »Voll erwischt!«
Dann kam von irgendwo aus dem Raum ein tiefes Knurren.
Umgehend fühlte Brams, wie ihn jemand zur Seite drängte, um an die Türklinke zu gelangen. Er erkannte Hutzel an der Stimme: »Ein Hund!«
»Rückzug!« verkündete Brams knapp und wandte sich um. Er wunderte sich, daß die Tür noch nicht geöffnet war. Fand Hutzel etwa die Klinke nicht?
Ein weiteres Knurren drang aus dem Dunkel. Vielleicht näher, vielleicht aber nur lauter. Noch immer hatte Hutzel die Tür nicht geöffnet. Brams hörte ihn daran rütteln und Worte ausstoßen, die ihm die Haare zu Berge stehen ließen: »Geh endlich auf!«
»Ich will doch!« antwortete die Tür verzweifelt. »Aber ich klemme. Ich klemme!«
Aufgeregt tastete Brams nach der Klinke, um gemeinsam mit Hutzel daran zu rütteln. Allein, die Tür verhielt sich wie zugenagelt. Alles, was ihre abwechselnden Ausrufe »Geh auf, geh endlich auf!« bewirkten, war die hilflose Antwort der Tür:
»Laßt das! Ihr brecht mir noch die Klinke ab!«
Der Lärm im Haus nahm zu. Quaken mischte sich mit Mähen, dann schlug auch noch der Hund an.
Sein kurzes Bellen wurde überraschend beantwortet.
»Trau dich doch!« erklang Riettes Stimme. »Komm doch her, feiger Köter!«
Brams rang nach Luft.
»Haltet ihr den Mund zu!« japste er und erschrak über den Klang seiner eigenen Stimme. Angst, Verzweiflung, Kopflosigkeit schwangen darin mit. Gefühle, die jede Mission zum Scheitern verdammen mußten. Brams atmete tief durch und sprach ruhig gegen die aufwallende Panik an: »Drei Äpfel und siebzehn Birnen. Jemand soll ihr den Mund zuhalten.«
»Schon erledigt!« vermeldete Rempel Stilz, der als einziger in Frage kam. Gleich danach schimpfte er: »Sie beißt!«
»Sie tritt auch«, drohte Riettes unsichtbare Stimme.
Der Hund bellte jetzt durchgehend. Wie nicht weiter erstaunlich, mischte sich schroff eine verschlafene Männerstimme in den Lärm ein: »Bei allen verderbten Göttern, was ist denn hier los?«
Genau in diesem Augenblick sprang die Tür auf.
In Windeseile waren Hutzel, Brams, Rempel Stilz und Riette aus dem Haus hinausgerannt. Wenige Augenblicke später hatten sie die Tür von der Wand getrennt und sich wieder mit ihr unter die Scheune zurückgezogen.
»Das war doch keine Absicht!« verteidigte sich die Tür. »So etwas ist mir noch nie passiert. Es lag an den Umständen. Der zerhackte Ritter ... der Hund ... Wenn ihr Türen wärt, so verstündet ihr, wovon ich rede.«
Keiner ging darauf ein.
»Was nun?« fragte Rempel Stilz, als es im Haus wieder still wurde. »Brechen wir die Mission ab? Moin-Moin wird das nicht gefallen.«
»Wir versuchen es noch ein zweites Mal«, entschied Brams fest entschlossen.
»Ich lasse mich nicht noch einmal mit einem Hund einsperren«, erwiderte Hutzel ruhig. »Ich gehe nicht hinein.«
»Ich kann doch nichts dafür«, verteidigte sich die Tür. »Andere Leute machen auch gelegentlich Fehler.«
»So?« meinte Hutzel abweisend. »Wer? Wann?«
»Erst gestern«, erwiderte die Tür. »Ich mußte mehrmals Anweisungen geben, bis ich richtig an der Wand stand.«
»Ich werde gehen«, verkündete Riette kühn. »Rempel Stilz wird mich begleiten. Zusammen geben wir’s dem bösen Hündchen!«
»Das werde ich schön sein lassen«, berichtigte Rempel Stilz sie sogleich. »Ich bleibe ebenfalls hier.«
»So kommen wir nicht weiter«, seufzte Brams. »Wie Rempel Stilz sagte: Moin-Moin wird das nicht gefallen. Vielleicht hat er sich sogar eine Gemeinheit ausgedacht, falls wir ihm keinen Großvater bringen. Am Ende holt er seinen Freund, den Riesen.«
»Ich gehe nicht«, beharrte Hutzel. »Und es gibt auch keinen Riesen. Im ganzen Koboldland-zu-Luft-und-Wasser hat es noch nie einen Riesen gegeben.«
»Wohl gibt es einen Riesen«, widersprach Riette munter. »Er wird uns alle zertreten. Nur vier Striche werden übrigbleiben!«
Sie zeichnete mit dem Fuß vier Striche auf den Boden: »Brams, Rempel Stilz, Hutzelfisch, Riette ...«
»Das ist wahr«, stimmte Rempel Stilz zu. »Moin-Moin ist so durchtrieben, daß er bestimmt an diese Möglichkeit gedacht hat. Doch ich werde trotzdem nicht noch einmal hineingehen.«
Riette nickte: »Moin-Moin ist uns unglaublich haushoch überlegen. Aber mich stört so etwas nicht.«
Brams starrte eine Zeitlang wortlos auf den dunklen Umriß des Bauernhauses. »Wie wär’s, wenn wir nicht unsere Tür nähmen, sondern eine der ihren, also die gewöhnliche Haustür? Wärt ihr dann eher bereit?«
»He, was soll das werden?« beschwerte sich die Tür sogleich. »Menschliche Türen schlagen, knarren, quietschen, klemmen! Jeder weiß das.«
»Dem kann ich mich nur anschließen«, sagte Hutzel. »Auch wenn ich es als passender empfunden hätte, wenn jemand anderes als eine gewisse Tür den letzten Einwand vorgebracht hätte.«
»Bitte!« sagte Brams, des Streitens leid. »Wir könnten die Tür ölen und vielleicht oben und unten ein wenig abhobeln. Und wenn wir schon dabei sind: Wißt ihr, daß es große Vorteile hat, wenn man eine Tür nach beiden Seiten öffnen kann?«
»Der Hund kann uns dann leichter verfolgen«, warf Riette ein. »Hast du überhaupt dein Werkzeug dabei?«
»Nein«, mußte Brams zugeben. »Laßt mich einen Augenblick nachdenken. Mir wird schon etwas einfallen.«
Er verließ die anderen und schlenderte von der Scheune weg. Ab und zu blieb er stehen und schaute entweder zur Scheune oder zum Haus zurück.
»Ein ganz einfacher Sachverhalt«, murmelte er. »Der Großvater ist im Haus, und wir können nicht hinein. Also macht man am besten ...«
Brams hatte keine Ahnung, was man am besten machte. Er hoffte darauf, daß ihm einfallen würde, wie der Satz weitergehen mochte. Als er nach einiger Zeit noch immer keine Ahnung hatte, was man am besten machte, beschloß er, einen radikalen Schritt zu wagen und noch einmal von vorne zu beginnen. »Im Grunde ist es doch furchtbar einfach! Der Großvater ist im Haus, und wir können nicht hinein. Deswegen ... Deswegen also ...«
Doch noch immer fiel ihm keine Fortsetzung des Satzes ein. Vielleicht ging er ja das Problem unnötig kompliziert an? Große Ideen waren stets schlicht. Sie begannen nicht zaudernd und umständlich mit »deswegen also«, sondern kurz und knackig mit »da« oder »weil«. Wie: Der Großvater ist im Haus, und wir können nicht hinein, weil ... weil ... weil wir uns nicht trauen! Hm. Da sah man einmal wieder, daß auch große Ideen nicht immer zum Ziel führten.
Brams’ Fuß stieß gegen etwas, das im Gras lag. Mißtrauisch sah er zu Boden und dachte: Es wird doch nicht schon wieder ein abgehackter Kopf sein!
Doch es war kein blutverschmierter Schädel, sondern nur ein Krug, dessen oberer Rand, Schnabel und halber Hals abgebrochen waren. Brams stieß ein weiteres Mal mit der Fußspitze gegen den Krug und hob ihn dann auf. Erstaunlicherweise war der Henkel noch unversehrt. Dem schwachen Geruch nach zu schließen, schien die letzte Flüssigkeit, die der Krug enthalten hatte, Milch gewesen zu sein. Wie passend!
Ein Becher Süße Milch wäre jetzt das richtige, dachte Brams. Das würde ihn gewiß aufbauen! Oder vielleicht auch zerstören.
Urplötzlich blitzte in seiner Erinnerung ein Bild des vergangenen Abends auf: Moin-Moin, der kameradschaftlich den Arm um seine Schultern gelegt hatte, während sie auf und nieder hüpften und ihre leeren Becher schüttelten. Dazu sprach eine beschwingte Stimme, die Brams länger und besser kannte als jede andere: »Sag nicht Großvater, Moin-Moin! Sag einfach, wie viele du von mir haben willst!«
Brams drehte den Krug zwischen den Händen und überlegte, was er mit ihm anfangen solle. Eigentlich war es eine Vergeudung, einen Krug wegzuwerfen, dessen Bauch, Henkel und halber Hals noch unbeschädigt waren. Bestimmt hätte man die Scherben wieder ankitten können. Notfalls hätte man den Rest mit Ton neu modelliert. Etwas Geschick und Farbe vorausgesetzt, hätte man den Krug alsbald wieder mit Wasser füllen können oder ...
»Hervorragend!« murmelte Brams. Jetzt wußte er, wie sein Satz enden mußte.
Eilig kehrte er zu seinen Gefährten zurück. Den Krug schwenkend, rief er: »Schnell, ich brauche etwas Ähnliches!«
»Was ähnelt einem zerbrochenen Krug?« fragte Hutzel. »Ein zerbrochener Stuhl oder ...«
»Ein Gefäß«, erklärte Brams und machte sich sogleich selbst auf die Suche. Riette wurde als erste fündig. Sie roch streng, als sie mit einem Breinapf zurückkam.
»Lag im Misthaufen«, erklärte sie. »Völlig unnötig weggeworfen. Wahrscheinlich aus Versehen.«
»Sehr gut!« sagte Brams und nahm den Napf entgegen. »Du und Hutzel, ihr haltet euch bereit. Rempel Stilz kommt mit mir.«
»Nicht so schnell«, antwortete Rempel Stilz mißtrauisch. »Wie sieht dein Plan aus? Ich gehe nicht mit dir in das Haus.«
»Mein Plan?« wiederholte Brams genüßlich. »Alle großen Pläne sind bekanntlich einfach, liebe Kobolde. Sie beginnen nicht mit deswegen also oder mit weil ...«
»Sondern?« unterbrach ihn Rempel Stilz.
»Mit daher«, antwortete Brams stolz. »Der Großvater ist im Haus, und wir können nicht hinein. Daher locken wir ihn heraus!«
»Ein guter Plan!« lobte ihn Rempel Stilz. »Wie willst du das anstellen?«
»Ich werde es dir zeigen«, versprach Brams und bedeutete Rempel Stilz, ihm zu folgen. Er führte ihn zu den Fässern, in denen die Hausbewohner Regenwasser sammelten. Dort ließ er ihn den zerbrochenen Krug füllen.
Anschließend ging er mit ihm um das Haus herum bis zum erstbesten Fenster. Dort angekommen, streckte Brams Rempel Stilz den Napf entgegen. »Jetzt gieß das Wasser hinein! Aber du mußt den Krug dabei sehr hoch halten.«
»Ich werde etliches verschütten«, wandte Rempel Stilz ein. »Und lauter wird es dadurch ebenfalls.«
»So soll es auch sein«, bestätigte Brams. »Es muß ordentlich und gut hörbar plätschern.«
Rempel Stilz hielt den Krug über den Kopf und goß den Inhalt in Brams’ Napf. Als er voll war, hob Brams seinerseits den Napf über den Kopf und goß den Inhalt zurück in den Krug, den Rempel Stilz nun gesenkt hielt. Nachdem das Wasser auf diese Weise viermal vom Krug in den Napf und wieder zurück geplätschert war, meinte Brams: »Hier ist der Großvater nicht. Laß uns zum nächsten Fenster gehen.«
»Das Wasser verrät dir das?« fragte Rempel Stilz erstaunt.
»Nein, daß er sich noch nicht gerührt hat, verrät mir das«, erwiderte Brams geheimnisvoll und ging zum nächsten Fenster, wo sich alles wiederholte. Gerade hatte Rempel Stilz zum zweiten Mal den Napf in den Krug zurückgegossen, als aus dem Haus Geräusche drangen.
»Sapperlot!« sagte eine alte Stimme. »Sapperlot. Jede Nacht den gleichen Ärger!« Sie ging in trockenes Husten über und meldete sich danach erneut: »Oh, oh! Ah!«
»Er kommt!« zischte Brams und eilte mit Rempel Stilz im Gefolge zu den anderen zurück. Alle zusammen duckten sie sich, damit sie nicht gleich entdeckt würden.
Und schon öffnete sich die Haustür. Eine Gestalt im Nachthemd trat heraus. Sie hatte es bis zu den Knien hochgezogen und hielt mit schnellen Trippelschritten auf ein Latrinenhäuschen zu. Dabei hustete sie und stieß kurze, gequälte Laute aus. »Oh! Oh! Oh!«
»Dieses Mal prüfen wir lieber vorher nach, ob er es ist«, schlug Riette vor.
Dagegen hatte niemand einen Einwand vorzubringen. Riette verstellte dem mutmaßlichen Großvater den Weg. Auch die anderen zeigten sich.
»Aus dem Weg! Hab’s arg eilig!« rief der Großvater gequält, als er Riette erblickte, dann verharrte er jäh.
Er schaute von der Koboldin zu ihren Begleitern und stieß entgeistert aus: »Vier Erdmännchen mit purpurnen Mäntelchen!«
Seine Worte verwirrten Riette so sehr, daß sie darüber vergaß, dem alten Mann das Sanftpulver ins Gesicht zu pusten. Statt dessen entschuldigte sie sich für ihre Kleidung: »Wir hatten es heute morgen eilig, so daß ich nicht mehr zum Umkleiden kam.«
Diese Erklärung war jedoch verschwendet, da der Großvater mit einem Seufzen in Ohnmacht fiel. Riette vergewisserte sich, daß es ihm wohl erging, dann schritt Brams zur Tat und goß Wechselta.(lg) neben ihm aus, der unverzüglich die Form des alten Mannes anzunehmen begann.
»Wie bekommen wir den Wechselbalg ins Haus, wenn er fertig ist?« fragte Riette.
»Gar nicht. Wir lassen ihn einfach liegen«, entschied Brams.
»Weiß er denn, daß er ins Haus soll?«
»Das ist mehr eine Frage des Wollens als des Sollens«, erklärte Hutzel, der sich dazugestellt hatte. »Vielleicht versteckt sich der Wechselbalg zunächst und beobachtet aus dem Verborgenen heraus, wie ihn alle suchen. Manchen ist das ihr Liebstes. Vielleicht geht er auch gleich schlafen, damit er morgen frisch ist und schon in aller Frühe zu nörgeln anfangen kann. Niemand ist in der Lage, das Handeln eines Wechselbalgs vorauszusehen. Aber gewiß wird er nicht lange allein sein wollen. Wo bliebe denn da der Spaß?«
Als sich die grünlich-gelbbraune Masse in Gänze verwandelt hatte, schulterte Rempel Stilz den echten Großvater.
»Daß mir das nicht zur Gewohnheit wird«, ermahnte er seine Gefährten. Man konnte kaum noch etwas von ihm erkennen, da seine Last so viel größer war als er selbst. Dann ging es auf den Heimweg.
Nach einiger Zeit wurde der Großvater wieder wach, so daß Riettes Sanftpulver doch noch benötigt wurde. Unter seinem Einfluß hätte der alte Mann zwar allein gehen können, sofern man ihn alle paar Schritte dazu aufgefordert hätte, doch Rempel Stilz wollte ihn nicht mehr absetzen.
»Ich habe mich gerade daran gewöhnt, ihn zu tragen«, behauptete er. »Vielleicht schläft er ja auch wieder ein.«
Das wünschten sich alle, denn das aberwitzig langsame Jammern des Alten über die grau ... sa ... men ... Erd ... männ ... chen war auf die Dauer schwer zu ertragen.
Schließlich erfüllte sich dieser Wunsch.
Als die Kobolde die Stelle erreichten, wo sie die abgehackten Körperteile gefunden hatten, erstarben alle Gespräche.
Die Nacht hatte mittlerweile viel von ihrer Kraft verloren und wich dem Morgen. Hell war es zwar noch längst nicht, aber man konnte schon recht gut die hohen Holundersträucher und Buchen erkennen, die hier wuchsen. Brams wußte, daß er nicht der einzige war, der sie argwöhnisch im Auge behielt. Doch je länger er sie betrachtete, desto mehr strahlten sie etwas Unheimliches aus, so als stünden sie im Bunde mit dem, der den einstigen Besitzern der Arme und Köpfe den bösen Streich gespielt hatte.
Dieses beklemmende Gefühl war Brams unvertraut. Wenn ihm zu Hause, im Koboldland-zu-Luft-und-Wasser, eine Buche unheimlich erschienen wäre, so hätte er sie einfach zur Rede gestellt. Der Baum hätte dann wahrscheinlich geantwortet, daß er nicht nur im Augenblick unheimlich herumstünde, sondern es schon den ganzen verflossenen Tag lang getan habe, genaugenommen sogar die letzten Jahre und Jahrzehnte, weswegen man ihm jetzt bloß nicht dumm kommen solle.
Solchen herablassenden Äußerungen war zuzuschreiben, daß Buchen noch mehr als alle anderen Bäume im Ruf standen, nicht nur aalglatt zu sein, sondern keinerlei Spaß zu verstehen. Sie selber störten sich nicht daran. Geflügelt war das Wort einer ihrer Ahnen: Wer Humus hat, braucht keinen Humor!
Doch hier war nicht das Koboldland-zu-Luft-und-Wasser! Hier hielt man Buchen ihre unheimliche Erscheinung weder vor noch trug man sie ihnen nach. Hier erduldete man sie.
»Schneller! Schneller!« rief Brams.
Niemand verlangte eine Erklärung für die Eile. Jeder empfand offenbar ähnlich. Alle legten einen strammeren Schritt vor.
Erst nachdem der unheimliche Ort schon ein ganzes Stück hinter ihnen lag, gingen die Kobolde wieder langsamer. Brams wollte gerade bekanntgeben, daß bald alles überstanden sei, da er glaube, daß die Stelle, wo sie die Tür aufstellen müßten, nicht mehr weit weg sein könne, als eine Stimme ertönte: »Bleibt stehen, ihr Kobolde!«
»Tut das nicht!« widerrief dies umgehend eine andere Stimme quietschend. »Lauft, so schnell ihr könnt! Rennt um unser Leben, Kobolde!«
Sie gehörte der Tür, die während des gesamten Heimweges noch kein Wort verloren hatte. Brams, der diesmal ihr hinteres Ende trug, war jedoch schon langsamer geworden, um sich nach der Herkunft der Stimme umzusehen. Nun wurde ihm die Türkante mit einem Ruck aus den Händen gerissen, als seine Gefährten lospreschten. Rempel Stilz folgte ihnen nicht minder geschwind mit dem Großvater.
»Bleibt stehen!« rief Brams, während er immer noch herauszufinden versuchte, wer sie gerufen hatte. Daß jemand sie wahrnahm und dann auch noch richtig einordnete, war alles andere als üblich. Tatsächlich war es so unüblich, daß nicht auszuschließen war, daß ihnen jemand gerade einen Streich spielte.
»Bleibt doch stehen!« rief Brams den anderen ein weiteres Mal hinterher.
»Eben, bleibt doch stehen, ihr Kobolde«, schloß sich die fremde Stimme unaufgefordert seinem Wunsch an. Sie war jetzt unzweifelhaft als weiblich zu erkennen.
»Bleibt stehen! Es ist wichtig! Es geht mir nicht um den, den ihr gerade verschleppt. Der ist mir völlig einerlei.«
Das war zuviel für Brams. Die Fremde wußte nicht nur, wer sie waren, sondern auch, was sie taten! Er rannte nun ebenfalls.
»Bleibt doch stehen«, drängte die Stimme hinter ihm. Brams hatte das unbehagliche Gefühl, daß sie näher gekommen war. Er blickte über die Schulter zurück. Tatsächlich! Eine weiß leuchtende Gestalt lief ihnen hinterher!
Brams versuchte eine List. »Wir sind gar keine Kobolde. Wir sind Erdmännchen!«
Die Gestalt blieb stehen.
Hervorragend, dachte Brams und klatschte in die Hände. Das war leichter gewesen, als er gedacht hatte.
Doch zu früh gefreut! Abermals erklang die Stimme: »Erdmännchen? Was ist das denn für ein hanebüchener Unfug?«
Die weiße Gestalt nahm die Verfolgung wieder auf. Brams versuchte eine neue List. »Na gut, wir sind keine Erdmännchen. Wir sind Dämmerwichtel! Ein Mißverständnis. Geh also deiner Wege!«
»Dämmerwichtel, Schlemmerwichtel!« schallte es zurück. »Das ist ja noch besser! Gerade euch suche ich!«
Da Brams auf die Schnelle keine weitere Lüge einfiel, verließ er sich nun lieber ausschließlich auf seine Beine. Er rannte, so schnell er konnte. Zwanghaft schaute er immer wieder nach hinten.
Ohne Zweifel, die Gestalt kam näher und näher und näher!
Er blickte wieder nach vorn. Genau vor ihm stellten Hutzel und Riette soeben die Tür auf. Brams ruderte mit den Armen, um nicht gegen sie zu rennen.
»Tür auf!« kreischte er schrill. »Tür auf!«
Doch bevor er gegen die Tür donnern konnte, wurde er ein Opfer des Taus, der das Gras und das alte Laub feucht und rutschig gemacht hatte. Brams glitt aus und rammte Rempel Stilz. Den störte es zwar nicht, doch der Aufprall weckte den Großvater. Sofort nahm er seine quälend langsame Beschwerde wieder auf: »Erd ... männ ... chen! Ü ... ber ... all ... pur ... pur ... ne ... Erd ... männ ... chen.«
Hutzel hatte mittlerweile die Tür geöffnet, und die vertraute, schlecht beleuchtete Diele wurde sichtbar. Er ließ Riette als erste vorbei, dann winkte er Rempel Stilz hindurch, bevor er den beiden folgte.
»Was tut ihr da?« rief die Frauenstimme bedenklich nah. »Ihr verschwindet ja! Wohin wollt ihr Wichtel?«
Brams schubste Hutzel ungeduldig in die Diele, sprang ihm hinterher und zog die Tür hinter sich zu.
Später war er sich nicht mehr ganz sicher, ob sie nicht am Ende zugedrückt worden war, als jemand auf der anderen Seite gegen sie prallte. Doch da kümmerte es ihn schon nicht mehr, denn er war wieder zu Hause, im Koboldland-zu-Luft-und-Wasser.