Читать книгу Dämon wider Willen - Karl-Heinz Witzko - Страница 7
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ОглавлениеDie Schatten wurden schnell länger. Harkwart von Garonnje schätzte, dass er noch ungefähr eine halbe Stunde benötigte, um die ersten Häuser des vor ihm liegenden Dorfes zu erreichen. Beeilen musste er sich also nicht, wenn er vor Einbruch der Dunkelheit ankommen wollte. Doch nicht deswegen führte er sein Reittier am Zügel, sondern weil ihm das Land, durch das er schon seit vier Tagen zog, wirklicher erschien, wenn seine Füße den Boden berührten, anstatt ein Stück darüber zu schweben, wenn er im Sattel saß. Harkwart räumte gern ein, dass dieses fremdartige Gefühl, das er bisweilen empfand, auf Einbildung beruhen musste. Die letzten Tage hatten ihn gelehrt, dass das neue Land überaus fruchtbar war und seine Böden vermutlich zu den besten des ganzen Aldermannlandes gehörten. Allerdings war es sehr dünn besiedelt, was kein Wunder war. Denn bis vor zwanzig, dreißig Jahren hatten außer den übelsten Halunken höchstens noch kurz vor dem Verhungern stehende Bewohner der ehemaligen Fischerdörfer an den Alten Küsten gewagt, die Grenze zu überschreiten, die eigentlich keine war, die aber deutlicher als vermutlich jede andere auf der Welt zwei Länder trennte, nämlich das alte Aldermannland und den rund vierhundert Meilen langen und bis zu einhundertfünfzig Meilen tiefen Streifen der Wyrmelar’schen Eroberung. Frühzeitig hatten die Mächtigen dem neuen Landstrich den Namen Hellenland verpasst, bevor sich ein anderer, sehr ähnlich klingender Name im Volk einbürgern konnte, nämlich Höllenland. Diese weise Umbenennung hatte jedoch nicht verhindern können, dass niemand das neue Land haben wollte. Weder die Alderleute und schon gar nicht die Jarls erhoben Besitzansprüche, da diese damit verbunden gewesen wären, dass entweder sie selbst oder ihre kostbaren Erben von Zeit zu Zeit im Höllenland hatten leben müssen. Das aber wollten sie alle nicht. Also fiel das Land dem König zu, und da dieser bald wieder so ohnmächtig war wie vor den Ruhmreichen Tagen, gehörte es im Grunde niemandem. Oder genauer gesagt, so lange niemandem, bis dann doch zaghaft eine Besiedlung begann und den Bewohnern der neu gegründeten Gemeinden auffiel, dass nie jemand bei ihnen vorbeikam, um Abgaben zu verlangen. Insgeheim war Harkwart überzeugt, dass die neuen Siedler jenseits der Klippe – oder wie sie selbst sagten: diesseits der Wand – verantwortlich waren für die wüsten Geschichten von Ungeheuern, riesigen Räuberbanden oder immer wieder spurlos verschwindenden Menschen, die bisweilen aus dem Hellenland zu hören waren. Keine Abgaben zu entrichten hatte sich aus ihrer Sicht glänzend bewährt. Diesen Zustand wollten sie bestimmt nicht ohne triftigen Grund ändern. Harkwart wünschte sich nur, dass die Hellenländer genauso einfallsreich in der Benennung ihrer Ortschaften gewesen wären. Neu-Klörkum, Neu-Ölmen, Neu-Smilla, Neu-Skögan oder das nun unmittelbar vor ihm liegende Neu-Neureynis klangen auf die Dauer doch arg gleichförmig.
Als die zunächst vereinzelt stehenden Bauernhäuser sich nach und nach zu einer Siedlung verdichteten, hielt Harkwart Ausschau nach einer Herberge oder Schenke. Ein Schild, das auf Letzteres schließen ließ, entdeckte er über der Tür eines noch recht neuen Anbaus an einem der lehmfarbenen und mit dicken Rohrbündeln gedeckten Häuser. Anscheinend war die Notwendigkeit für Räumlichkeiten, in denen Fremde empfangen und bewirtet werden konnten, erst neuerdings erkannt worden. Harkwart band sein Maultier an einem dafür vorgesehenen Pfosten an und betrat den Anbau. Ein etwa zwölfjähriger Junge war die einzige Menschenseele, die sich gerade darin aufhielt. »Willkommen im Neuen Krug, Fremder«, grüßte er mit heller Stimme.
»Ich möchte den Wirt sprechen«, entgegnete Harkwart.
»Papa!«, schrie der Junge sogleich durchdringend.
Einen Augenblick später trat aus der Tür zum Haupthaus eine Frau, die Harkwart als Mutter des Knaben einordnete. Mehlstaub auf ihren bloßen Armen und in ihrem Haar deutete darauf hin, dass sie gerade am Backen war. In mütterlicher Zuneigung griff sie nach dem Schopf des Jungen, der jedoch gewandt unter ihrer Hand wegtauchte.
»Harkwart von Garonnje, Königlicher Korrektor«, stellte sich Harkwart vor und zog das Bildnis Myrkfreddas der Unsichtbaren aus seinem Ledersack. Nach einem misstrauischen Blick auf die Teigkrümel an den Fingern der Frau entrollte er das Pergament und fragte: »War diese Frau hier? Aber nicht anfassen!«
»Das hatte ich überhaupt nicht vor!«, beteuerte die Wirtin leicht entrüstet und wischte sich die Hände an ihrer Schürze sauber, als wolle sie anschließend Harkwart vom Gegenteil ihrer Worte überzeugen. Nach einem kurzen Blick auf das Bild brüllte sie einen Männernamen. Auch dieses Mal dauerte es nicht lange, bis sich die Tür öffnete und ein Mann hindurchtrat. Er hatte bloße Füße und hinterließ beim Gehen feuchte Abdrücke auf dem Boden. Die Szenerie kam Harkwart merkwürdig vertraut vor. Ein weiteres Mal stellte er sich vor: »Harkwart von Garonnje, Königlicher Korrektor.«
»Ich habe nichts verbrochen!«, beteuerte der Wirt sogleich.
»Ich habe deine Frau bereits gefragt, ob euch das Gesicht bekannt erscheint«, erwiderte Harkwart. Bevor er es verhindern konnte, berührte der Wirt die Zeichnung und ließ die Finger darüber streichen. »Als stünde sie vor einem!«, murmelte er bewundernd.
Harkwart trat flink mit der Zeichnung aus seiner Reichweite. »Und? Kommt sie dir bekannt vor?«
Der Wirt setzte eine nachdenkliche Miene auf und wandte sich an seine Frau. »Sie erinnert mich an den Burschen, der vor einigen Tagen hier war. Den, der sich etwas weibisch benahm.«
Das Gesicht der Wirtin leuchtete auf. »Wie wahr! Er könnte glatt ihr Bruder sein!« Sie wandte sich an Harkwart um Bestätigung: »Ist er ihr Bruder?«
Harkwart schüttelte den Kopf. »Er ist nicht ihr Bruder. Im Gegenteil, sie ist seine Schwester.«
Er benötigte einen Augenblick, um die verwirrten Blicke der Wirtsfamilie zu deuten. »Es gibt keinen Bruder. Sie ist ein und dieselbe Person. Sie reist in Männerkleidung.«
Wirt und Wirtin nickten erleichtert, so als hätte sie diese Vermutung die ganze Zeit über geplagt.
»Sagte sie, wohin sie wollte?«, erkundigte sich Harkwart.
Die Wirtsleute verneinten. »Er ... sie ... blieb über Nacht und ließ sich abends noch aufzählen, welche Dörfer es in der Nähe gebe. Was hat sie denn verbrochen?«
Harkwart ging nicht auf die Frage ein und ließ sich stattdessen ebenfalls über die Dörfer in der Umgebung aufklären. »Nun zeigt mir das Zimmer, in dem ihr sie untergebracht habt«, verlangte er anschließend.
»Warum?«, entgegnete die Wirtin.
»Zum einen, weil ich vorhabe, bei euch zu übernachten«, teilte ihr Harkwart mit, »zum anderen, weil ich nachsehen will, ob sie etwas versteckt hat, das mir hilft, sie zu fangen. Gar nicht so wenige Schurken handeln so! Sie wagen es nicht, einen Gegenstand, der sie belastet – einen Ring, ein Messer –, einfach wegzuwerfen, da sie wegen ihres schlechten Gewissens in ständiger Furcht leben, er könne augenblicklich gefunden werden. Also verstecken sie ihn lieber an einem Ort, wo niemand nachschaut: unter einer Diele, hinter einer Wandverkleidung ... Ihr ahnt gar nicht, wie viele Geheimnisse und Verbrechen ans Licht kommen, wenn alte Häuser einstürzen, abbrennen oder abgerissen werden.«
»Schlau!«, staunten der Wirt und sein Sohn beeindruckt.
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, antwortete die Wirtin unfreundlich und zeigte zur Decke. »Das Zimmer ist dort oben. Es gibt nur eines.«
Harkwart entdeckte eine Luke. Da er sich gut erinnerte, wie der Anbau von außen gewirkt hatte, konnte er sich einigermaßen vorstellen, wie klein die Kammer sein musste, wenn ihr lediglich der noch übrige Platz zwischen Zimmerdecke und Dach verblieb. Vermutlich bezeichnete man sie im stillen Kreis als die Schwester von »winzig«.
»Ich hole die Leiter«, meinte der Wirt, verschwand und war auch bald wieder zurück. Währenddessen bot die Wirtin Harkwart Essen an: »Ich habe einen guten Eintopf übrig. Er ist sogar noch warm. Ich könnte dir etwas Pferdewurst hineinschneiden und eine Schale füllen?«
Harkwart bedankte sich. »Keine Pferdewurst! Doch der Junge könnte sich vielleicht um mein Maultier kümmern? Ich meine damit: Er könnte es füttern und tränken?«
Nachdem Harkwart den Eintopf verspeist hatte, stieg er die Leiter hinauf in die Schlafkammer, die tatsächlich nur aus dem unverputzten Raum zwischen der Zimmerdecke, der Außenwand des Haupthauses und dem Dach bestand. Sie war geräumiger, als er erwartet hatte. Trotz ihrer zur einen Seite abfallenden Decke konnte er an der höchsten Stelle sogar fast aufrecht stehen.
Harkwart warf den Mantel und den Sack neben die Strohmatratze, die als sein Nachtlager dienen sollte, und begann dann nicht ganz so gründlich, wie er gegenüber den Wirtsleuten den Eindruck erweckt hatte, das Kämmerchen nach irgendetwas abzusuchen, das die Unsichtbare Myrkfredda wissentlich oder unwissentlich zurückgelassen hatte. Dazu hob er kurz die Strohmatratze an und tastete dann vorsichtig auf Händen und Knien den schwer zugänglichen Winkel zwischen Dach und Zimmerboden ab, wohl darauf bedacht, sich an dem rauen Holzboden keinen Splitter einzureißen.
Als er nicht fündig wurde, was er im Grunde auch nicht erwartet hatte, streckte er sich auf der Bettstatt aus und schloss die Augen. Nach wenigen Augenblicken kam er aber zu der Einsicht, dass es noch viel zu früh zum Schlafen sei. Daher kroch er zu seinem Ledersack und zog ein Buch heraus. Sein Buch! Das Buch, mit dem er sich einst selbst das Lesen beigebracht hatte. Ehrfurchtsvoll strichen seine Finger über das Pergament, während sich seine Lippen bewegten und er das Buch zum vielleicht hundertsten Mal las.
Harkwarts Buch war nicht irgendein Buch und schon gar nicht eines, das jeden erbaut hätte. Es war eine Abschrift des Aldermannex, in dem die Besitzungen und Ländereien eines jeden Adligen des Aldermannlandes genauestens aufgelistet waren. Kurz gesagt: des Reichsgrundbuches. Seite um Seite voller staubtrockener Worte, deren nüchterner Ton jedoch das friedliche Zusammenleben der Mächtigen garantierte. Worte wie diese waren darin zu lesen:
»Denen von Nösrenger gehört alles Land westlich des Baumes, den man Inkens Eichbaum nennt, was auch dann gilt, wenn er nicht mehr dort wächst oder ein neuer gepflanzt wurde. Es reicht bis zum Wald und von dort bis in die Mitte des Bachbetts, ganz gleich, wie sein Lauf im jeweiligen Jahr ist, solange ihn niemand in hundsföttischer Absicht umgeleitet hat. Von da aus erstreckt es sich nach Norden ...«
Das Buch verlor indes sofort seinen trockenen Charakter und erwachte zum Leben, wenn Harkwart darin las. Denn in seinem Geist wurde er zum Erbe der Nösrenger, der stolz über seine vielen Ländereien wachte. Den Jagdfalken auf dem linken Arm, die rechte Hand in die Hüfte gestützt, schlenderte er dann von Inkens Eichbaum, dessen Stamm zwanzig Mann nur mit Mühe umspannen konnten, zum Wäldchen. Ein ganzer Schwarm aus Mündeln, Dienern, Schreibern und Schmarotzern pflegte ihn zu begleiten. Auch eine Liebste, die es im wirklichen Leben nicht gab, war an seiner Seite.
An den meisten Tagen bestanden Harkwarts Ausflüge nur aus harmlosen kleinen Gedankenreisen und erholsamen Lustwandeleien, doch mitunter regte sich Unfrieden, manchmal mehr, manchmal weniger. Wie heute! Auch wenn Harkwart noch längst nicht den Grenzbach erreicht hatte, spürte er, dass dort etwas nicht stimmte. Schmal, wie der Bach war, wäre es ein Leichtes, einen Damm zu errichten, um ihn umzuleiten. Ganz gewiss war genau das jüngst getan worden! Doch wer mochte hinter dieser Schurkerei stecken?
Völlig überraschend erschien in Harkwarts Tagtraum ein Mensch, an den er schon lange nicht mehr gedacht hatte – jedenfalls nicht als einen wirklichen Menschen. Grinsend und seine Schuld kein bisschen verhehlend, stand am Waldrand: Sigbrent, der Sohn des Aldermanns von Jerkenland, der eitle Verführer, der hinterhältige Dieb, der ihm vor vielen Jahren das Herz der holden ... der holden ... der holden ...
Harkwart musste sich eingestehen, dass er sich nicht einmal ansatzweise an den Namen seiner längst verflossenen großen Liebe erinnern konnte. Einzig ihr duftendes Haar war ihm noch einigermaßen gegenwärtig. Möglicherweise war es von hellem Braun gewesen oder vielleicht auch schwarz. Aber das spielte eigentlich keine Rolle! Denn ...
... so dreist, als könne ihn niemand belangen, schlenderte Sigbrent vom Wäldchen her auf ihn zu. Er hatte sich in den bald dreißig Jahren kaum verändert: dasselbe dreieckige Rattengesicht, vorspringende Schneidezähne und Haarbüschel, die auf den Ohrspitzen wuchsen. Wie in seiner Jugend war er noch immer eine schmuddelige Erscheinung, die man eher in einer Jauchegrube anzutreffen erwartet hätte als im Herrenhaus eines Aldermanns. Und wie hochnäsig er lächelte!
Mit einer Stimme, die rund eine Oktave höher war, als es Harkwart selbst bei einer Frau ertrug, winselte Sigbrent: »Na, du faules Bürschchen, nichts zu tun? Dir will ich gleich Beine wachsen lassen!«
Harkwart atmete kräftig durch. Nichts da! Heute würde alles ganz anders verlaufen.
»Überschätze dich nicht, Zwitscherbubi«, erwiderte er grob.
Sigbrent starrte ihn einen Augenblick lang fassungslos an, dann brachte er Harkwarts Ohren erneut zum Klirren: »Was erdreistest du dich, Bengel? Soll ich meinem Vater von deiner Frechheit berichten?«
»Aber hoffentlich, Bubi, hoffentlich«, antwortete Harkwart mit so tiefer Stimme, wie er nur konnte. »Da ist er ja auch schon!« Er deutete zum Waldrand, wo urplötzlich der Gebieter von Jerkenland stand. Harkwart winkte ihn herbei. »Hurtig! Hurtig!«
Augenblicklich wechselte der alte Mann in einen schnellen Luftschritt. »Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit«, eröffnete Harkwart augenzwinkernd seinem Sohn.
»Vater!«, rief jener außer sich. »Du glaubst gar nicht, welche Frechheiten ich mir anhören muss.«
»Schweig stille«, herrschte ihn sein Vater an, als er heran war. »Siehst du denn nicht, mit wem du es zu tun hast?«
Sigbrent blickte Harkwart ins Gesicht und wurde aschfahl: »Hagen von Garonnje, der Erbe der Nösrenger!«
»Gut erkannt«, gab Harkwart zurück. »Der mächtige Erbe der Nösrenger! Rasch, legt euch auf den Boden!«
Der Aldermann gehorchte sofort und warf sich bäuchlings ins Gras. Sein Sohn war bereits auf den Knien, als ihm eine wichtige Frage einfiel: »Warum sollen wir das tun?«
»Ich will dich nicht dumm sterben lassen, Zwitscherbubi«, antwortete Harkwart huldvoll. »Mir ist gerade danach, auf euren Rücken zu tanzen. Spielt auf, Musikanten, spielt auf!«
»Ist jemand da?«, fragte plötzlich eine laute Stimme.
Harkwart stutzte, da weder Sigbrent noch sein Vater oder irgendeine andere Person in seinen literarischen Tagträumen genügend Eigenleben besaßen, um irgendetwas sagen zu können, was er ihnen nicht zuvor in den Mund gelegt hatte.
Ich werde eingeschlafen sein, dachte er. Doch mehr als ein leichtes Dösen konnte es nicht gewesen sein, da er ansonsten nicht zu so klaren Gedanken fähig gewesen wäre.
»Ist jemand unter uns?«, verlangte dieselbe Stimme beharrlich zu wissen.
Mit einem Mal war die ganze Stimmung aus Harkwarts Tagtraum vertrieben. Offenbar war es ihm heute nicht vergönnt, die Demütigung Sigbrents bis zur Neige auszukosten! Er gab sich geschlagen und öffnete die Augen. Doch statt der niedrigen Deckenschräge und der winzigen Lichtöffnung sah er nur bunte, flüchtige Formen, die sich ständig veränderten. Eine Art Nebel, über dem er zu schweben schien.
Anscheinend träume ich immer noch oder schon wieder, dachte er verwundert. Wahrscheinlich werde ich irgendwann lachend aufwachen und mich an überhaupt nichts erinnern können. Welch dummer und unnützer Traum!