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1. Die Amis kommen!

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„Na, da bin ich ja mal jespannt, wat se diesmal wohl wieder aushecken?“

Vadder Stern sitzt voller Spannung, mit den Fingern auf die Lehne eines einfachen Holzstuhles trommelnd, in seinem Wesermünder Kontor hinter einem sehr großen, dunkelfarbenen Schreibtisch und denkt an seine Söhne. Ein kurzer Blick auf den Klappkalender zeigt ihm, dass heute der 23. Juli 1936 ist. Er kramt seine Taschenuhr aus der Weste und klappt den Deckel auf, dann geht er zu einer großen Wanduhr und zieht sie mit einem großen goldenen Schlüssel auf. Er tickt kurz gegen die Zeiger und murmelt, mit den Fingerkuppen über den Schnurrbart streichend, vor sich hin: „Hmh, ist ja noch nicht mal Mittag nicht.“

Im Hamburger Hafen macht gerade der Ozeandampfer S. S. Manhattan fest und lässt nach und nach die fast vierhundert Mitglieder der amerikanischen Delegation für die Olympischen Spiele in Berlin frei, die nach über einwöchiger Fahrt, begleitet von den Klängen einer sehr laut Marschmusik spielenden Kapelle, über eine wackelige, knarrende und quietschende Gangway das Schiff verlassen. Einige der Funktionäre und Sportler klopfen sich erleichtert auf die Schultern und lachen, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Sie gehen den kurzen Weg über das feuchte Pflaster bis in die Empfangshalle des Hafengebäudes, wo die erforderlichen Einreise-Formalitäten erledigt werden, dann schlängeln sich die einheitlich gekleideten Amerikaner in ihren schicken dunklen Zweireihern mit gleichfarbiger Hose bzw. Rock, mit weißem Hemd oder Bluse, einer gestreiften Krawatte und ihren auch Kreissäge genannten Hüten durch eine Sperre deutscher Beamter und stellen sich den wartenden Journalisten und Fotografen.

Unter den Reportern sind auch David und Harro Stern, zwei Brüder aus Wesermünde. Die beiden arbeiten im Verlag ihres Vaters, der neben Kalendern und anderen Druckerzeugnissen auch das „Nordsee-Blatt“, die führende Tageszeitung der Stadt, herausgibt. Der mitunter etwas ruppig wirkende, aber geradlinige David ist Journalist und schreibt, während der von vielen Träumen und Ideen beseelte Harro fotografiert.

David hat seine früher mal sehr schlanken 176 Zentimeter in einen braunen Zweireiher gesteckt. Dazu trägt er ein blütenweißes Hemd mit passender, braun-blau-rot gestreifter Krawatte sowie einen braunen Hut mit einer etwas zu breit geratenen Krempe.

Harro, der etwas größer als sein zehn Jahre älterer Bruder ist, wirkt sehr sportlich in seinem dunkelblauen, geschlossenen Blouson mit dem hochgeklappten Kragen und dem dunkelblau gemusterten Käppi. Er schlägt David mit dem Handrücken vor den mittlerweile ganz leicht zu erkennenden Bauchansatz und frotzelt: „Schick siehste aus, da sieht man deine Plauze nicht so.“

David muss lachen, er klopft Harro mit der flachen Hand auf dessen Kappenschirm und zeigt mit dem Kopf in Richtung der amerikanischen Delegation: „Guck dir die Amis an, wie die aussehen. Anzug, Hut, Krawatte, die Damen im Kostüm, einfach perfekt. Da hab ich mich angepasst. Aber du siehst mal wieder aus wie einer von unseren Zeitungsjungs.“

Harro nickt und lächelt. Früher hatte er immer so seine Probleme mit den mitunter hart und beleidigend wirkenden Aussagen und Anspielungen des Bruders. Doch mittlerweile hat er sich an den etwas eigenwilligen Stil, der einer Mischung aus typisch norddeutschem Humor gepaart mit englischer Süffisanz entspricht, gewöhnt. Er schaut zwar maulig, das ist aber nur gespielt und so retourniert er sofort: „Na, ich bin ja auch noch in einem Alter, wo man so etwas tragen darf. Aber du bist ja fast vierzig. Da trägt man schon diese Seniorenkluft, hä?“

Harro blickt mit listigen Augen auf David, der schüttelt ganz kurz den Kopf und hat auch sicherlich einen Konter parat, aber er zieht es vor, plötzlich ernst zu schauen und seinem Bruder ein „An die Arbeit“ mit auf den Weg zu geben.

Er geht sofort mit forschen Schritten zu einem seriös aussehenden, aber skeptisch konzentriert schauenden Mitglied des US-Teams. Harro eilt dem Bruder hinterher und bleibt mit einem gewissen Abstand stehen, eine seiner Kameras schussbereit in beiden Händen. David ist nervös, in der linken Hand hält er eine schwarze Papp-Kladde, in die er immer seine Notizen macht, in der rechten, etwas wippenden Hand einen Bleistift: „Mr. Brundage?“

Der Angesprochene schaut auf David, der sich ganz leicht, aber doch spürbar vor dem amerikanischen Gast verneigt: „Excuse me, Sir. I am David Stern, I write for the Northsea-Magazine. Just three questions, please.“

Brundage guckt David direkt ins Gesicht, er mustert ihn geradezu und zeigt seine ganze angesammelte Skepsis, denn er, der Delegationsleiter des US-Teams, hat sehr harte Zeiten hinter sich, in denen er, gegen viele Widerstände ankämpfend, dafür sorgte, dass die amerikanischen Athleten doch zu den Spielen nach Berlin reisen durften. Brundage nickt zwar, wirkt dabei aber doch sehr reserviert: „Okay. What do you want to know?“

David spürt die in der Luft liegende Spannung. Auch ist er, was er von sich eigentlich gar nicht kennt, weiterhin nervös und formuliert dadurch leicht stotternd seine Frage: „Mr. Brundage, you are the leader of the US-Olympic-Team. Eh … what do you expect from the games in Berlin?”

Brundage überlegt kurz, nickt dann und sagt: „Well, Mister Stern. Funny, friendly games and a lot of medals for our team.“

David überlegt sich bereits die nächste Frage. Er wird jetzt sicherer und ringt sich nach einem kurzen Seufzer sogar ein Lächeln ab: „Who in your team is your favourite to win gold medals?“

Auch Brundage lächelt, denn er gewinnt langsam den Eindruck, dass es für ihn, zumindest in diesem Interview, keine Unannehmlichkeiten geben wird. Er erwidert Davids Blickkontakt: „Mister Stern. I am no clairvoyant.“ Er überlegt wieder, dann wird er diplomatisch: „You should know that we have a lot of good athletes in our team.“

David fühlt sich jetzt absolut sicher, ist aber mit der Antwort nicht zufrieden, denn eigentlich sind Harro und er nach Hamburg gefahren, um ein Interview mit Jesse Owens zu bekommen, also fragt er direkt nach: „What about Jesse Owens, Sir? What can he show us?“ Brundage stutzt kurz, er überlegt genau, nickt mehrmals und blinzelt souverän lächelnd mit den Augen: „Oh, yeah, I understand. Well, Mister Stern, he is the fastest man on earth since nearly one month. So I think he can show this again.“

David hat sein Ziel erreicht: ein Interview mit dem Chef. Denn seine Maxime im Geschäftsleben lautet: „Wenn du was willst, immer oben anfangen. Runter geht immer.“ Für’s Erste hat er jetzt erreicht, was möglich war. So verbeugt er sich wiederum kaum merklich vor seinem Gesprächspartner: „Thank you, Mr. Brundage. That was very kind of you. Thanks a lot.“ Dann zeigt er mit dem ausgestreckten Arm auf Harro: „Is he allowed to take some pictures?“ Brundage legt seinen Arm um Davids Schultern und lässt sich bereitwillig fotografieren. Harro ist voll in seinem Element und selbst als Brundage signalisiert ‚Jetzt ist es gut‘ und sich von David abwendet, knipst Harro immer weiter.

David geht zu Harro, der gut vier Meter entfernt steht und seine Kamera herunternimmt: „Das war schon mal große Klasse, mein Bruderherz.“

David nickt seinem Bruder voller Anerkennung zu, doch Harro wird plötzlich böse. Er mag es nicht, oder besser gesagt, nicht mehr, so angesprochen zu werden: „Nenn mich beim Arbeiten doch bitte einfach Harro. Dass wir Brüder sind, weiß ich auch so.“ David ist zwar leicht irritiert, schüttelt dann aber den Kopf und ist gedanklich schon wieder woanders. Er blickt suchend um sich, beruhigt aber gleichzeitig den Bruder: „Ja, Harro. Ist ja gut. Kommt nicht wieder vor. Entschuldige bitte.“ Er zeigt plötzlich in eine andere Richtung: „Da drüben ist übrigens Jesse Owens. Los jetzt!“

David, nur sein Ziel vor Augen, rennt sofort los. Harro braucht einen kurzen Moment, um sich wieder zu fangen und folgt dann mit schnellen Schritten dem Bruder zu einer größeren Menschenmenge, in deren Mitte Jesse Owens steht und sich bereitwillig bemüht, die teilweise von mehreren Leuten gleichzeit gestellten Fragen zu beantworten.

David versucht sich durch die Menge zu drängeln. Er wird aber von den anderen Journalisten abgeblockt, denn letztendlich wollen alle mit dem populären Sportler reden. Er blickt genervt auf Harro. Erneut versucht er zu Owens vorzudringen, erkennt aber die momentane Ausweglosigkeit seines Vorhabens und dreht sich zu Harro, der die ganze Zeit dicht hinter ihm steht und Davids Bemühungen in der Menschengruppe fotografisch festhält. „Momentan keine Chance, Harro.“ Aber David wäre nicht David, wenn er sein Ziel aufgeben würde. Er blickt in der Halle umher und zeigt auf einen großen schwarzen Mann, der im Gegensatz zu Jesse Owens völlig allein und etwas verloren wirkend in der großen Halle steht. David blickt auf Harro und zupft an dessen Jackenärmel: „Wetten, der rennt auch?“

Harro blickt skeptisch und schaut kurz auf Davids Finger an seinem Arm. Ihm wäre es lieber, wenn er genau wüsste, was sein Bruder vorhat. Er fühlt sich wie ein Korken, der bewegungslos auf dem Wasser dümpelt und sich nur bewegt, wenn an ihm gezogen wird. Dennoch folgt er seinem vorauseilenden Bruder, der bereits dabei ist, den vermeintlichen Läufer anzusprechen: „Hello, Sir. I am David Stern. Northsea-Magazine. I’d like to ask three questions, please.“

Der schwarze Mann zeigt seine strahlend weißen Zähne. Er ist froh, dass der hektische weiße Mann ihn in einer für ihn gut verständlichen Sprache anspricht und klopft ihm ermunternd mit dem Handrücken auf den Oberarm: „Okay! Go on, man.“

David lächelt, um seine jetzt plötzlich wieder auftretende Nervosität zu überspielen: „What is your discipline, Sir?“

Der Mann bemerkt Davids Unsicherheit, erwidert aber lächelnd: „Oh. I am a runner, man. Hundred yards, oh sorry, you call it metres, I am doing the hundred metres.“

David ist erfreut. Volltreffer, denkt er, ich hab es doch gewusst: „Are you running with Jesse Owens?“

Der Schwarze überlegt einen Moment, dann nickt er und lächelt amüsiert: „Yeah man, with him and against him.“

Harro steht wieder in der Nähe und fotografiert, allerdings ohne dass David irgendetwas gesagt bzw. signalisiert hat. Er ist zufrieden, dass er selbst entschieden hat, wann er seine Kamera bedient, und hebt den Daumen. David lächelt, räuspert sich zweimal und fragt weiter: „Oh, well, yeah. I understand. Who will be faster in Berlin?“

Der Schwarze beginnt jetzt zu lachen, erst leise kichernd, dann lauter. Er schaut auf den fotografierenden Harro und nickt mit dem Kopf Richtung David, dann antwortet er sehr entschlossen: „Me!“ Er schaut wieder auf David: „You must know I beat them all.“ Er macht eine Pause, schaut auf Harro, dann wieder auf David. Ganz plötzlich, kommt ihm eine Idee: „Why don´t you come to Berlin and have a look?“

David ist etwas überrumpelt und muss überlegen. Damit hat er nicht gerechnet. Schließlich nickt er, vorher einen kurzen Blick zu Harro werfend, dem Schwarzen zu: „We´ll see.“ Er denkt nach, fragt aber weiter: „Excuse me, please. What is your name?“

Der Schwarze schaut ihm in die Augen, legt David vertrauensvoll seinen Arm auf die Schulter und antwortet mit fester, klarer Stimme: „Call me Ralf, my friend. Just Ralf.“ Er geht einen Schritt zurück und bufft David mit der Faust freundschaftlich vor die Brust und reicht ihm die Hand: „See you in Berlin, okay?“ David ist völlig erstaunt über soviel Offenheit. Er erwidert den Händedruck und nickt verlegen. Ralf löst seine Hand, geht kurz zu Harro, klopft auch ihm mit einem „See you, man“ vor die Brust und begibt sich zu einer größerer Gruppe weiterer schwarzer Sportler, die dicht gedrängt zusammen stehen und sich angeregt unterhalten.

David schaut erstaunt auf Harro, dessen Augen vor lauter Aufregung blitzen: „Da hast du es, mein Alter. Auf nach Berlin. Du bist eingeladen.“

Davids Augen zeigen ebenfalls Begeisterung: „Mann, Harro. Das ist überhaupt die Idee. Wir beide fahren zu den Spielen nach Berlin.“

Harro lächelt zwar, allerdings hat sich seine vor Sekunden noch vorhandene Euphorie schlagartig in Skepsis verwandelt. Er schüttelt den Kopf, schaut den Bruder an und äußert seine Bedenken: „Na, ist ja super. Ich sehe unseren alten Herren allerdings schon im Achteck springen. Der lässt uns das doch nie machen.“

David, der ganz genau nachvollziehen kann, warum der Bruder jetzt nicht mehr so optimistisch ist, schaut sehr entschlossen auf Harro, legt ihm den Arm auf den Rücken und dirigiert ihn so in Richtung Hallenausgang: „Komm, Harro. Die Einzelheiten klären wir auf der Rückfahrt. Hier haben wir jetzt alles erreicht was ging.“

Die Brüder schauen sich noch einmal zu den aufbrechenden Amerikanern um, verlassen dann endgültig die Hafenhalle und fahren mit der Hochbahn zum Hamburger Hauptbahnhof. Dort steigen sie in den bereitstehenden D-Zug nach Bremen und setzen sich einander gegenüber auf die harten Holzbänke der 4. Zugklasse. Harro ist etwas niedergeschlagen, aber auch neugierig: „Wie stellst’n dir das vor mit Berlin, hä?“

David schaut sehr entschlossen. Der Mund wird schmal, die Augen allerdings blitzen vor Tatkraft und gleichzeitiger Spannung: „Na ja, Harro, du kennst doch unseren Alten. Wenn man begeistert genug von einer Sache ist, dann stimmt der schon zu. Du hast ihn sogar überzeugen können, bei uns im Verlag zu arbeiten. Obwohl er zu mir immer gesagt hat, das mit uns beiden in einem Laden geht niemals gut.“

Harro schüttelt den Kopf, dann nickt er plötzlich: „Na ja, David, es läuft ja auch gerade erst an. Aber unser Anfang heute war doch schon mal richtig gut. Das sind ganz dolle Bilder, sag ich dir. Du mit Brundage, du mit dem Ralf und du mit Owens.“ David winkt ab, schaut dann aber erstaunt und unterbricht den Redefluss: „Wieso Owens? Mit dem hab’ ich doch gar nicht geschnackt.“

Harro beugt sich begeistert nach vorne, legt seine Hände auf Davids Knie und schaut ihm frech und listig ins Gesicht: „Das sieht man auf dem Bild aber nicht. Da stehst du direkt vor ihm. So habe ich das fotografiert.“

„So langsam begreife ich die Macht der Fotografie“, sagt David nachdenklich.

Harro klopft euphorisch auf Davids Oberschenkel: „Das ist doch das, was ich dir immer sage. Text ist die eine Sache, aber Fotos sagen auch was aus. Was meinst du, was in der Stadt los sein wird? David Stern vom Nordsee-Blatt auf einem Foto mit dem schnellsten Mann der Welt. Mann, David, damit wirst du richtig berühmt. Zumindest in Wesermünde und im Landkreis.“

David hebt die Hand und beschwichtigt seinen Bruder: „Nun lass uns das mit Berlin mal angehen. Wenn wir Vadder überzeugen wollen, brauchen wir ’nen richtig guten Plan.“ Harro lehnt sich wieder zurück, schaut dabei kurz aus dem Fenster, schlägt lässig die Beine übereinander und verschränkt die Hände hinter seinem Kopf: „Jo, hast ja Recht. Wir dürfen bei aller Planung nur nicht vergessen, in Bremen umzusteigen. Sonst landen wir im Ossiland.“

Sie vergessen nicht umzusteigen, sondern verlassen in Bremen ihren Zug und besteigen den Personenzug in Richtung Cuxhaven. Ihre langsam müde werdenden Körper werfen sie auf die harten Holzbänke und strecken die Beine aus. Harro seufzt zwar, aber er fühlt sich gut, und immer wenn er sich so richtig wohl fühlt, verfällt er in seinen typischen Küstendialekt: „Dat sach ich dir, David. Nach Berlin gurk ich aber nicht auf diesen Böcken. Da muss unser Vadder mal richtige Karten rausrücken, mindestens zweite Klasse.“

David lacht: „Mein kleiner Bruder. Noch keine Dreißig und macht schon schlapp. Nix mehr los mit euch jungen Leuten, wa?“ David tickt Harro zum Spaß mit seiner Fußspitze vors Schienbein, doch der wird gleich wieder ernst: „Komm, Bruder. Wir sind seit vier Uhr auf den Füßen. Wir haben noch nicht mal was gegessen.“

David nickt verständnisvoll: „Ja, ich weiß. Hast ja Recht. Wenn wir da sind, gibt’s am Bahnhof erstmal ’ne Wurst. Und das mit Berlin klären wir morgen im Büro. Hab da schon was im Kopf, muss aber noch mal ’ne Nacht drüber schlafen. Einverstanden?“

Harro hebt den Arm und legt seine Hand an die in den Nacken geschobene Mütze: „Ey, ey, Käpt’n.“ Dann richtet er sich auf der harten Bank wieder auf: „Meinst du, die Amis sind schon in Berlin?“

David blickt auf seine Uhr: „Die brauchen von Hamburg aus auch nicht länger als wir nach Geestemünde.“ Harro nickt, dann legt er los: „Ich überlege gerade, wie die Parteigrößen in Berlin wohl reagieren, wenn die Schwatten unseren Jungs wegrennen. Ich glaube, das würden die gar nicht so gut finden.“

David blickt lange auf seinen Bruder: „Glaubst du denn, dass die schneller sind als unsere?“ Harro lacht und sprudelt los: „Na, liest du denn keine Zeitung? Da wird doch schon erklärt, warum der Neger schneller ist als der Weiße. Wegen seiner ursprünglichen Natürlichkeit, wie das da heißt. Du, David – und wenn ich so’n Ralf sehe, da müssen unsere sich aber strecken; und Jesse Owens auch. Ralf sagt ja selbst, dass er allen wegrennt.“

David lächelt, schüttelt dabei aber den Kopf: „Ja, ja, Harro, aber schnacken und denn auch machen, das sind zwei paar Schuhe. Aber sag mal, wer schreibt denn so was, mit der ursprünglichen Natürlichkeit? Was soll das überhaupt heißen?“

Harro regt sich auf, er fuchtelt mit den Armen, sein Gesicht wird rot: „Wer schreibt denn so was? Noch nie was vom Untermenschen gehört, David?“

Der winkt ab: „Das kann man aber doch nicht alles so ernst nehmen. Genauso wie sie auf den Juden rumhacken. Als wenn nur die Weißen was taugen.“

Harro legt nach, er wird dabei immer lauter: „Was meinst du, wie viele in unserem Reich so was glauben? Was meinst du, was in den Verbindungen bei den Studenten los ist? Was da für Meinungen herrschen? Das müssen die doch irgendwoher haben.“

Er wackelt mit dem ganzen Oberkörper und hebt drohend den Zeigefinger: „Und, mein lieber David, vergiß mal bitte das Reichsbürgergesetz nicht. Mein lieber Freund, wenn die erst mal anfangen das alles umzusetzen, dann Gnade uns aber Gott.“

„Nicht so laut Harro, wir sind ja nicht allein im Zug“, zischt David. „Du hast ja Recht, es gibt ganz viele, die das alles glauben. Aber das eine ist das Beschließen von Gesetzen und das andere ist deren aktive Umsetzung. Wer macht sich denn da schon die richtigen Gedanken? Wir berichten doch auch darüber, was aus Berlin kommt und was die da in Nürnberg immer wieder beschließen. Aber die meisten unserer Leser interessiert die Politik doch gar nicht. Die wollen einfach nur, dass es ihnen gut geht, die wollen Schiffe bauen und Fische fangen – und Landwirtschaft ist auch noch was, was die bei uns interessiert. Das siehst du doch schon daran, dass wir in unserer Zeitung mehr Seiten über diese Themen haben als über die große Politik. Aber ich weiß ja, was du meinst, es gibt mittlerweile auch bei uns schon einige Blätter, die richtig hetzen. Sind ja nicht alle so wie wir.“

David kramt sein Taschentuch hervor und schnaubt sich die Nase. Während er das Tuch wieder in der Hosentasche verschwinden lässt, fährt er fort: „Was glaubst du, was ich beim Fußball alles so höre?“ Harro schaut sehr nachdenklich auf den Bruder, der weiter ausführt: „Weißt du eigentlich, dass einige Länder überlegt haben, die Spiele zu boykottieren?“

Harro verdreht die Augen und winkt ab: „Aber doch nur die Länder, die sowieso keine Chancen haben, überhaupt Medaillen zu gewinnen.“

David schüttelt heftig den Kopf: „Nee, nee, nee. Nicht nur die. Auch die Amerikaner haben ernsthaft überlegt, nicht zu kommen.“

Harro ist erstaunt: „Das wusste ich gar nicht. Weswegen denn?“ David schüttelt den Kopf: „Weswegen denn? Na, wegen unserer Regierung. Oder glaubst du, die jubeln weltweit über die Beschlüsse und Gesetze aus Berlin? Überleg doch nur mal, wie viele Juden das in Amerika gibt. Und die haben Einfluss, Harro. Auch im Sport. Und wenn die Amis nicht gekommen wären, hätten viele andere auch abgesagt.“

Harro schaut skeptisch: „Woher weißt du denn, dass die Amis nicht kommen wollten? Ich hab nichts davon gehört und auch nichts gelesen.“

David lächelt gequält: „Na ja, der ‚Stürmer‘ wird schon nicht darüber berichten, das weiß ich von …“ Harro wird wütend, er unterbricht David: „Ich les’ den ‚Stürmer‘ nicht. Das ist Propaganda. Das ist für mich keine Zeitung. Das ist ein reines Hetzblatt.“

David versucht Harro zu beruhigen: „Das weiß ich doch, Harro. Sollte ’n Scherz sein.“

„Deine Scherze, David, lass stecken. Manchmal liegst du einfach daneben.“ Harro versucht sich wieder zu beruhigen und fügt nur noch kurz an: „Weniger ist manchmal mehr, David. Und jetzt lass einfach gut sein mit dem Thema. Da reden wir in aller Ruhe drüber. Aber allein, vielleicht auch mit Vadder, aber nicht hier im Zug.“

David nickt, er macht sich, so weit das auf der harten Bank überhaupt möglich ist, etwas lang und reckt sich. Er weiß, dass er überzogen hat und seufzt: „Ist auch schon spät, Harro. Ich bin müde.“ Harro lehnt sich ebenfalls entspannt zurück. Die Brüder schweigen und lauschen den Geräuschen des Zuges, der unterbrochen von vielen Stopps in kleinen Dörfern durch die norddeutsche Tiefebene in Richtung Nordseeküste rattert.

Olympia 1936

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