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2. Na wat denn jetze?

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Am nächsten Morgen betritt Harro in Wesermünde das Verlagsgebäude des Druckhauses Stern und geht mit forschen Schritten über den langen Korridor direkt ins Chefkontor. Dort sitzt David, der wieder einmal wesentlich früher als Harro aufgestanden ist, zusammen mit dem Vater. Hinrich Wilhelm Stern ist ein immer noch jugendlich wirkender Anfangsechziger, ein galanter, gut aussehender Mann, der seine blitzgescheiten, listigen Augen hinter einer sehr modernen Hornbrille versteckt. Der geborene Ostpreuße wollte als junger Mann eigentlich nach Amerika auswandern. Doch dann verliebte er sich in die Tochter des Besitzers des Rittergutes Lunbarg, auf dem er das Geld für seine Überfahrt in die Neue Welt verdienen wollte. Das erste Ergebnis dieser Liebe war David, zehn Jahre später wurde Harro geboren.

Vater Stern erhebt sich von seinem Stuhl, geht kurz in seinem großen, holzvertäfelten Kontor auf und ab, streicht sich über seinen grau-blonden Schnurrbart und begrüßt Harro mit Handschlag. Schließlich sagt er mit seinem immer noch vorhandenen ostpreußischen Dialekt: „Setz dich, Harro. Der David hat mich schon aufjeklärt. Berlin, na jut, sehe ich ja eyn. Eventuell. Aber beyde dahin, dat seh ich nicht so. Da reycht eyner. Aber wie habt ihr eych dat denn vorjestellt, Jungens?“

Harro, der heute seinen neuen zweireihigen Anzug trägt, den er zu seinem erst vor wenigen Wochen erfolgten Einstieg in den Verlag bekommen hat, zupft kurz an seiner Krawatte, setzt sich dann und schaut auf David. Der erklärt mit den Händen gestikulierend in seiner ihm eigenen Präsentations-Sprache, einer Mischung aus geschliffenem Hochdeutsch, etwas Plattdeutsch, lokalem Slang sowie hin und wieder einigen englischen Brocken: „Vadder! Wir haben lange und viel diskutiert und uns entschieden, dass Harro nach seinem Studium hier bei uns im Verlag arbeitet. Jetzt lass uns den neuen Weg auch konsequent gehen. Guck dir die Bilder aus Hamburg an. Die sind einfach Klasse.“ Er hebt die Stimme: „Harro viewt mit seiner Kamera Dinge, die für andere absolut unentdeckt bleiben.“

Der jetzt wieder hinter seinem Schreibtisch sitzende Vater blickt skeptisch. Er hebt ganz langsam den Arm und zeigt dem Sohn die geöffnete Innenfläche seiner rechten Hand, dann sagt er mit ganz ruhiger Stimme: „Na, na, na, Jung. Nu trag man nicht so auf nich. Mit diesen kleynen neymodischen Apparaten so eyn bisschen rumknipsen kann ja nun nicht de Welt seyn.“

Harro ist sauer über dieses Desinteresse seines Vaters. In ihm brodelt es, denn er merkt gerade jetzt ganz besonders, dass er sich seine angehende Position im Verlag hart erkämpfen muss und dass ihm nichts geschenkt werden wird. Er ergreift das Wort: „Doch, Vadder. David hat Recht. Ich sehe da wirklich mehr als andere. Das hat schon früher mein Lehrherr gesagt, und mein Professor in Kiel hat das auch bemerkt. Ich bin bei so was einfach besser als andere. Ich kann eben besser beobachten, ich …“

„Ich will dich ja jar nicht hindern zu arbeyten. Wird ja langsam auch mal Zeyt damit anzufangen. Hast ja auch lang jenug rumstudiert und jemacht de janzen Sachen da.“ Vater Stern unterbricht Harro, denn bei ihm hat sich wegen der seiner Meinung nach viel zu langen, von ihm finanziell unterstützten Studienzeit von Harro, eine Menge Zorn angesammelt. Außerdem möchte er, dass sein Jüngster, den er in den letzten Jahren viel zu selten gesehen hat, sich ihm gegenüber respektvoll verhält und jetzt erst einmal beweisen soll, was in ihm steckt, so dass sich die getätigten Investitionen auch gelohnt haben.

David, der genau spürt, dass es wieder zu einem der vielen, früher meistens zur Weihnachtszeit stattfindenden, heftigen Streitgespräche zwischen Vater und Sohn kommen kann, versucht mit lauter werdender Stimme den drohenden Zwist zu unterbinden: „Vadder! Bitte! Noch bin ich dran. Ich sagte vorhin, dass wir uns auf einen Weg geeinigt haben. Den sollten wir jetzt auch gehen.“

Vater Stern jedoch ist richtig wütend. Er möchte natürlich auch, dass seine Söhne eines Tages das von ihm aufgebaute Unternehmen fortführen. Besonders von David, mit dem zusammen er die Zeitung gegründet hat, erwartet er einiges. Aber Harro soll sich erst einmal einfügen. Und so kehrt Hinrich Wilhelm Stern den mächtigen Alleinchef heraus: „Eyn für alle Mal. Ich lass mir von eych nicht vorschreyben, wat ich zu tun und zu lassen habe. Noch nicht! Da müsst ihr noch warten drauf.“

Plötzlich knallt Harro voller Wut mit der flachen Hand auf den Tisch: „Da ham wir’s ja mal wieder. Mit dir kann man einfach nicht reden. Kaum ist mit ’m Kopp mal ’ne Entscheidung gefallen, haust du sie mit dem A…“ Er holt tief Luft, setzt dann neu an: „… haust du sie mit dem Achtersten wieder um.“ Sein Kopf ist hochrot, er steht am Schreibtisch vor seinem Vater und wedelt mit den Armen: „Ich glaube, ich bin hier im Raum der Einzige, der eine richtige Lehre gemacht hat und auch noch einen Hochschulabschluss einbringen kann, oder? Das ist sehr viel wert in der heutigen Zeit. Guck nach vorne, Vadder, du willst immer alles so geregelt haben, wie es früher einmal war. Aber wir haben keinen Kaiser mehr und keinen Bismarck. Heute herrschen andere und damit auch andere Regeln.“

David springt auf und hält seinen Arm zwischen den erregten Vater und den völlig aufgebrachten Harro: „Jetzt kleit mi doch an ’n Moors. Seid ihr denn beide bekloppt? Wir haben doch alles auf der Reihe.“ David wendet sich beschwichtigend zum Vater: „Vadder. Bitte. Bitte! Wir sind doch jetzt in einem Alter, hier langsam mal Stück für Stück das Ruder zu übernehmen. Du bist doch schon sechzig. Ruh’ dich doch mal aus. Du hast seit Mutters Tod nicht einmal richtig Urlaub gemacht und das ist jetzt über zehn Jahre her. Du glaubst immer, ohne dich geht nichts. Lass uns doch beweisen, dass wir das hinkriegen.“

Vater Stern winkt ab. Er schnauft, erhebt sich von seinem Stuhl und kehrt seinen Söhnen den Rücken zu. Er schaut vor sich hin schnaubend aus dem Fenster und sagt: „Ich brauche keynen Urlaub nicht!“

Harro geht unruhig auf und ab. Auch er schnaubt, wenn er wütend ist, genau wie der Vater: „Ich hau wieder ab. Das hat ja doch alles keinen Zweck hier.“

David, der eigentlich, weil sich Vadder und Harro in ihrer Wut genau gleich verhalten, lachen möchte, schaut eindringlich auf seinen Bruder: „Harro, halt die Luft an.“

Harro atmet tief durch und erwidert lange Davids Blick. Er nickt ihm ermutigend zu, als er merkt, dass der Bruder die Entscheidung zur Beendigung des Streites sucht. David wendet sich an seinen Vater. Er wirkt dabei sehr bedrohlich: „Und Vadder, du hörst jetzt auch zu! Sonst ist hier auch für mich Feierabend. Dann geh ich eben wieder nach England.“

Im Raum herrscht eisiges Schweigen. Der Vater scheint einzulenken. Er wendet sich jedenfalls zu David, blickt ihn an und lässt sich mit einem tiefen Seufzer in seinen dicken Ledersessel in der mit einem übergroßen Abraham-Lincoln-Gemälde sowie wesentlich kleineren Kaiser-Wilhelm- und Bismarck-Portraits geschmückten Sitzecke des Kontors fallen, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut auf seine Söhne: „Na, wat denn jetze?“

David baut sich auf, er ruckelt wieder kurz mit dem Oberkörper, überprüft, ob sein Vater und Harro ihn anschauen, dann legt er los: „Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass wir unseren Verlag ausbauen wollen. Das Nordsee-Blatt verbessern, neue Objekte rausbringen.“ David schaut fragend in die Runde: „Richtig?“

Harro schaut auf David und murmelt Kopf nickend: „Richtig!“

David nickt, schaut dann auf seinen Vater: „Richtig?“

Vater Stern reagiert nicht. David wird lauter: „Vadder! Richtig?“

Hinrich Wilhelm Stern reagiert immer noch nicht, er schaut seine Daumen rollend zur Zimmerdecke. David brüllt: „Vadder?“ Er macht eine Pause, wartet bis sein Vater ihn endlich anschaut, fragt dann ganz ruhig: „Richtig, Vadder?“

Der Vater zuckt zusammen, schließlich hebt er ohne etwas zu sagen die Hand und nickt. David nimmt das als Zustimmung. Er atmet tief durch, schaut auf Harro und fährt fort: „So! Und diesen Weg gehen wir jetzt. Und zwar folgendermaßen. Erstens …“ David wird unterbrochen. Die Sekretärin des Verlages klopft kurz an der Tür und betritt, ohne ein Signal bekommen zu haben, mit einem Tablett in der Hand den Raum: „Herr Stern, ich …“

David fühlt sich gestört und brüllt: „Raus!“ Die Sekretärin schaut völlig überrascht auf David, dann auf den Vater, zieht den Kopf ein und verschwindet sofort wieder hinter der Tür. David atmet tief durch, beginnt dann erneut: „So, und diesen Weg gehen wir jetzt. Und zwar folgendermaßen: Erstens. Vadder, du bleibst auf der Brücke. Zweitens. Harro und ich fahren nach Berlin und berichten jeden Tag von den Olympischen Spielen. Daraus macht ihr hier im Verlag eine Sonderbeilage. Drittens. Nach den Spielen werden wir aus unserem Material ein Buch machen.“ Er macht eine kurze Pause, atmet erneut tief durch und blickt mit ganz festen Augen auf den Bruder: „Danach werden Harro und ich peu à peu das Kommando im Verlag übernehmen. Harro kümmert sich um die neue Technik für die Druckerei, hilft mir bei der Gestaltung und ich kann mich dann endlich um die Inhalte der neuen Objekte kümmern. Und du, Vadder, machst mit Frau Lienau erstmal ’n richtig schönen Segelurlaub oder fährst mit ihr mal in die Berge.“

Vater Stern fällt fast aus dem Sessel: „Woher weyßt du von Frau Lienau?“ David hüstelt etwas, wischt sich mit dem Taschentuch über die Lippen und schaut mit dem Kopf signalisierend „Mach du mal weiter“ auf Harro: „Vadder! Glaubst du allen Ernstes, dass du deinen zwei ausgeschlafenen Burschen was vormachen kannst?“

Der Vater wiegelt den Kopf, er reibt sich die Hände an seinen Hosenbeinen und seine Lippen werden zum Strich: „Och, Mensch, Jungens. Nun hört doch mal zu. Eyre Mutter ist doch schon …“

Harro tritt an den Sessel zu seinem Vater, er beugt sich vor und legt seine Hände auf die dicken Lehnen: „Jo, Vadder. Alles in Ordnung. Keine Erklärungen bitte, das hast du gar nicht nötig. Du machst deine Dinger, wir unsere. Aber was den Verlag betrifft, den steuern wir in Zukunft gemeinsam.“ Er richtet sich wieder auf und schaut auf seinen Bruder. Lange schauen sie sich an, sie sind sich einig.

Vater Stern schält sich aus seinem Sessel und guckt mit einem gewissen Stolz auf seine Söhne: „Na jut, denn jeht ihr man erstmal nach Berlin und wenn ihr zurück seyd, dann sehen wir mal weyter hier.“ Er lächelt, denn er freut sich, weil er erreicht hat, was er für sich herausfinden wollte. Er will, dass sie gemeinsam den Verlag vorantreiben. Zuerst war er skeptisch, aber jetzt hat er die Bestätigung, dass die Söhne zusammenstehen, selbst wenn es gegen ihn geht. Dieser Zusammenhalt beruhigt ihn und macht ihn sogar ein bißchen stolz. Ironisch brabbelt er vor sich hin: „Und eines sag ich eych, de Zeyt wo ihr nicht da seyd hier, die werde ich richtig jenießen hier, ihr Lorbasse.“ Dann verlässt Vater Stern mit einem leichten Grinsen sein Kontor.

Die Brüder schauen sich an. Harro nickt mit dem Kopf Richtung Tür. David versteht, was Harro meint und geht zu der Sekretärin Frau Lienau, um sich für seine Ruppigkeit zu entschuldigen.

Olympia 1936

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