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3. Auf nach Berlin

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Die Sonne versucht sich durch die Wolkendecke zu kämpfen. Es ist noch sehr früh und auch etwas kühl an diesem 30. Juli 1936. Die Brüder stehen auf dem Geestemünder Bahnhof. Beide im Anzug, David wieder mit Hut, Harro mit seinem Käppi und beide mit einem großen Koffer. Harro hat eine große Tasche mit seiner Fotoausrüstung umgehängt. Der Zug rollt ein und die beiden besteigen den Waggon, wo sie es sich in ihrem Abteil bequem machen.

Diesmal reisen sie in der 2. Klasse. David sitzt seinem Bruder gegenüber und zeigt seine gute Laune: „Na, Kleiner, aufgeregt?“

„Wenn du weiterhin immer ‚Kleiner‘ zu mir sagst, werden wir in Berlin nie für voll genommen.“ Harro schüttelt den Kopf. Er ist mal wieder sauer. Schweigend schaut er aus dem Fenster und lauscht dem typischen intervallmäßigen Schnaufen der Dampflok, die sich langsam in Bewegung setzt, um den voll besetzten Zug in Fahrt zu bringen.

David hat den Unmut des Bruders für sich abgehakt, er ist begeistert: „Mensch Harro, jetzt lass uns mal ’ne Strategie abstecken. Diese Reise muss ein Riesenerfolg werden. Mann, wir werden die tollsten Leute kennen lernen. Andere Journalisten aus der ganzen Welt, Reporter, Sportler, vielleicht sogar Filmstars. Weißt du, im Hotel Adlon trifft sich die Welt. Da werden wir hingehen.“

Harro blickt kurz aus dem Augenwinkel auf David und winkt amüsiert ab: „Ja, ja, Bruderherz. Aber wir wohnen nicht im Adlon. Wir wohnen in einer Pension in Charlottenburg. Wer weiß, wie die Bude aussieht.“

David schmunzelt: „Ja, mein Kl…, eh Bruderherz.“ David bricht ab, denn er bemerkt Harros wieder aufkommenden Unmut. „Sag bitte Harro. Einfach Harro. So wie mich alle nennen. Vergiss nicht, wir sind auf dieser Mission als Journalisten unterwegs. Du schreibst, ich fotografiere. Das, Herr Kollege, ist unsere Aufgabe!“

David ist beeindruckt. Es ist nicht so, dass er den Bruder nicht ernst nimmt. Aber die langen Gespräche mit dem Vater, ob Harro denn, trotz zweier Ausbildungen und seinen weiteren Begabungen auch als Mensch schon so weit sei, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, haben auch bei David Spuren hinterlassen. David verzieht mit einem leichten Lächeln das Gesicht und murmelt sich selbst zu: „Er wird tatsächlich richtig erwachsen.“

Harro hat es gehört und erwidert: „Ja, Bruder. Ich bin erwachsen. Soweit wir Sterns das überhaupt können. Vadder ist ja heute teilweise noch ’n Kindskopp. Und du, na ja, weißt ja selbst, kennst dich ja besser als ich.“ Harro schnaubt tief durch, diesmal ist es aber keine Wut, die ihn animiert so zu handeln, es ist pure Entschlossenheit. Er fährt fort: „Weißt du David, ich habe mir etwas vorgenommen. Ich freue mich, dass wir die Möglichkeit haben, zu den Olympischen Spielen zu fahren. Aber das ist nicht das Ende meiner Fahnenstange. Fotografieren mache ich nur als Steckenpferd, obwohl ich besser bin als die meisten. Aber das weißt du ja, hast mich ja selbst mal da drauf gebracht. Weißt du noch, meine ersten Zeichnungen? Und weißt du noch, wie ich Erna dazu gebracht habe mir Modell zu sitzen? Auch später für die Fotos.“

Die Brüder schmunzeln, David tickt Harro vor die Brust: „Aber sie hat das gern gemacht, Harro. Auch weil sie dir damit ’n büschen den Kopf verdrehen konnte. Das hat ihr gefallen.“

Harro lacht, er ist in Redelaune: „Mann, war ich aufgeregt damals. Aber weißt du was, David? Weißt du, was mir gerade einfällt? Wir sind Brüder. Seit fast dreißig Jahren. Aber wir haben nie richtig zusammen gespielt. Oder? Ja mal so’n bisschen, ganz früher. Oder auch so Dinger in den Semesterferien wie mit den Zeichnungen und Fotos. Aber das ist schon viel zu lange her. Du warst früher im Krieg, dann in England. Ja, und ich bin nach Bremen, nach Göttingen und dann nach Kiel und hab da studiert. Und jetzt bin ich fertig mit allem und soll bei euch im Verlag arbeiten. Aber eines bedrückt mich, wir kennen uns gar nicht richtig, oder?“

David schluckt, er greift auf den freien Sitz neben seinem und holt aus seiner Aktentasche eine Kanne mit Kaffee und eine Blechbüchse, in der selbst geschmierte Brote liegen. Diese reicht er Harro und schaut ihn sehr ernst an: „Dann lass uns die Zeit in Berlin nutzen, um das zwischen uns aufzuarbeiten, was wir bisher nicht geschafft haben.“

Harro nickt nur, er nimmt eine Stulle und beißt herzhaft in sein Brot. Nach der Mahlzeit lehnt David sich bequem in seinen Sitz zurück. Harro beobachtet, selbst langsam wegschlummernd, wie David innerhalb kürzester Zeit eingeschlafen ist.

Nach kurzer Zeit schreckt Harro hoch und sieht, wie David heftig atmend mit schweißnasser Stirn in seiner rechten Hosentaschen nestelt. David zieht ein Taschentuch hervor und wischt sich die Stirn ab. Harro ist erschrocken: „Wat is’ los, David?“

David hüstelt, winkt dann aber ab: „Hab geträumt. Nix Schlimmes.“

„Nix Schlimmes?“, wiederholt Harro. „Das sah aber ganz anders aus. Was hast du geträumt?“

David atmet einige Male tief durch und schnaubt sich die Nase. „Ach, erzähl ich mal in Ruhe. Damals, in England. Mit dem Unfall.“

Harro lässt nicht locker: „Welcher Unfall? Wieso erzählst du nichts? Bist du krank?“

David schüttelt den Kopf: „In Ruhe mal, Harro. Dann erzähl ich dir alles. Aber keine Sorge, ich bin in Ordnung. Das kommt nur manchmal wieder hoch. Also, keine Sorgen machen, Okay?“ Harro schaut sehr skeptisch, aber er nickt.

In Hannover verlassen die Brüder ihren Zug und besteigen den Fernzug Köln – Berlin. Sie sind beeindruckt von dem komfortabel eingerichteten Abteil. Harro streicht sogar über die samtige Armlehne des Sitzes. Er schmunzelt und sagt in Erinnerung an frühere Bahnfahrten während seiner Studienzeit: „Ist man doch ’n ganz annern Schnack so ’n richtiger Zug.“

Auch Davids Blick schweift durchs Abteil und er nickt anerkennend. Harro möchte wissen, was es mit Davids Traum auf sich hat und spricht, wenn auch indirekt, das Thema noch mal an: „Ich träum’ ja auch viel, David. Aber meistens was Angenehmes. Letzte Nacht war ich noch mit Svenja in Kiel im Park unterwegs.“ Harro gerät ins Schwärmen, er beobachtet aus den Augenwinkeln seinen Bruder: „Mann, David, war das ein schöner Sommer letztes Jahr.“ David allerdings geht nicht auf Harros Ausführungen ein. Er schaut nachdenklich aus dem Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft und so verläuft die Weiterfahrt nach Berlin zumindest für Harro viel zu ruhig. Nach gut zweistündiger Fahrt erreicht der Zug in Berlin den Anhalter Bahnhof.

In aller Ruhe, die anderen Fahrgäste aus dem Zug hetzen lassend, hängen sie ihre Taschen um, setzen Hut und Mütze auf, nehmen ihre Koffer und verlassen langsam den Zug. Es herrscht ein dichtes Gedränge auf dem Bahnhof und so unterhalten sich David und Harro, die beide zum ersten Mal in Berlin sind und sich überhaupt nicht auskennen, lautstark über mehrere Passanten hinweg. Harro schaut umher: „Wo müssen wir denn hin?“

David zeigt mit dem Kopf: „Na, zur U-Bahn.“ Harro schüttelt genervt den Kopf: „Schlaumeier, dat weiß ich auch. Und welche?“

David ist ebenfalls ziemlich genervt und wird etwas laut: „Mensch, Harro, zum Adolf-Hitler-Platz. Ich denk, du hast dich vorbereitet. Ist die Linie 2, glaube ich.“

Ein Passant mischt sich ein und sagt mit unverkennbarem Berliner Dialekt: „Stimmt, Meester. Det is de zweie.“ David nickt ihm zu: „Danke.“

Die Brüder wühlen sich durch die Menge, finden den Bahnsteig und betreten die U-Bahn, in der ebenfalls dichtes Gedränge herrscht. Sie halten ihre Koffer zwischen den Beinen. Harro hat seine Tasche mit der Fotoausrüstung quer vor dem Bauch hängen und stupst damit einen anderen Fahrgast an. Dieser ist darüber sehr ungehalten und fährt Harro an: „Hey, pass doch uff, Mann. Bis doch nicht alleene unterwegs, wa.“

Harro schaut ihn an: „Entschuldigung.“ Doch der Fahrgast legt nach: „Ja, ja. Entschuldigung. Mann, hör doch uff. Mach doch dein Umzuch mit’n LKW und nicht mit de U-Bahn.“

Endlich erreicht die U-Bahn den Adolf-Hitler-Platz, und die Brüder können die Bahn verlassen. Auf dem Bürgersteig angekommen, gönnen sie sich erstmal einen Blick über den mit einem riesigen Flaggenmeer schon ganz für Olympia geschmückten Platz. Sie stellen ihre Koffer ab und wischen sich synchron mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Harro ist erstaunt: „Ist wärmer hier als bei uns, oder?“

David wedelt sich mit seinem Hut etwas Luft zu, er nickt: „Hast Recht, aber ist ja auch eine andere Klimazone hier. Kontinentalklima. Für Seeluft-Verwöhnte wie uns ganz schön stinkig.“

Harro schnuppert und blickt umher: „Stimmt. Stinkt wirklich. Na ja, guck mal, bei den vielen Autos hier auch kein Wunder.“ David blickt sich noch einige Male um, setzt seinen Hut wieder auf und kramt einen Stadtplan aus seiner Aktentasche, während Harro eine vorbeikommende Passantin anspricht: „Entschuldigung, zur Reichsstraße, Pension Charlotte?“

Die Passantin bleibt stehen und lächelt Harro an: „Na, da kommen Se mal mit, junger Mann, da muss ich auch hin. Sind nur gut dreihundert Meter. Det schaffen Se doch, oder?“

Harro geht sofort mit und antwortet: „Na, klar. Mit Ihnen würde ich sogar noch viel weiter laufen.“ Er hat momentan nur Augen für die junge Dame und bemerkt gar nicht, dass David immer noch auf dem Bürgersteig steht und in seinem Stadtplan blättert. Nach einem kurzem Stück bleibt er allerdings stehen und brüllt etwas singsangmäßig in Richtung David: „Halloooo, Herr Kollege Steeern. Auf geht es. Das Hotel ruft.“

David schaut Richtung Harro. Dabei fühlt er plötzlich, wie er nach Harros Rufen von einigen Passanten geradezu angegafft wird. Manche bleiben sogar stehen und schauen ihn an. Er ist verwundert und blickt zurück, folgt dann aber Harro. Dabei schaut er sich noch einmal um und sieht, dass immer noch einige Leute hinter ihm herschauen und tuscheln.

Die Gruppe erreicht die Reichsstraße und steht dann endlich vor der Pension Charlotte. „So, da sind wir. Ich arbeite übrigens hier in der Pension. Sie gehört meiner Tante. Die heißt Lucie. Und ich bin Ingrid. Ingrid Heinemann.“

Harro nickt und lacht: „Oh, freut mich. Ich bin Harro Stern. Fotoreporter aus Wesermünde. Das ist mein Kollege David. Heißt auch Stern.“ Dann erklärt er: „Wir sind Brüder! Ja, eh …, wir sollen für unsere Zeitung von den Olympischen Spielen berichten.“

Ingrid blickt leicht verwirrt zwischen den Brüdern hin und her: „Ja, eh, das freut mich.“ Sie begrüßt David und gibt ihm die Hand. Sie schaut ihn sehr lange an und streicht dabei immer wieder mit ihrer flachen Hand über ihren Mantel: „Ja, dann lassen Sie uns mal reingehen. Die Rezeption ist im ersten Stock. Aber es gibt einen Fahrstuhl. Warten Sie, ich gehe mal vor und hole ihn.“

Ingrid eilt sehr forsch die Eingangstreppe empor und hält die Tür auf. Die Brüder folgen ihr. Während Harro jetzt die hölzerne, mit schweren Messingbeschlägen versehene Eingangstür offen hält, bedient Ingrid per Schlüssel den Fahrstuhl und dessen Tür, damit die Brüder mit ihrem Gepäck einsteigen können. Dann betritt auch sie den Fahrstuhl und berührt dabei ganz leicht Davids Hand. Sie lächelt zwar, aber irgendwie ist sie auch leicht verunsichert und heilfroh, als der Fahrstuhl endlich den ersten Stock erreicht.

Sie stellt sich hinter den Tresen und fragt: „Haben Sie Durst, meine Herren? Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?“ Harro und David schauen sich an und antworten gleichzeitig: „Oh ja.“ Harro fügt noch schnell ein: „Gerne!“ hinterher. Harro unterbricht die entstehende Pause: „Haben Sie eine Limonade für mich?“

Ingrid nickt: „Aber klar.“ Dann schaut sie auf David: „Und Sie, Herr Stern?“ David schaut zwischen Harro und Ingrid hin und her: „Ja, hmh, haben Sie für mich ein Bier?“

Ingrid geht in den hinteren Raum und ruft: „Aber ja, gern, natürlich!“

Harro verzieht anerkennend den Mund: „Ganz nett bis jetzt, wa?“ David allerdings ist nachdenklich: „Hmmmhhh.“

Ingrid kommt zurück, in den Händen die Getränke: „Gläser, meine Herren?“ Harro winkt ab: „Nein danke, vielen Dank, das geht auch so!“

Die Brüder nehmen die von Ingrid gereichten Flaschen und trinken durstig. David setzt die Flasche ab und seufzt: „Das tat richtig gut jetzt.“ Er setzt noch mal an, trinkt die Flasche aus und stellt sie auf den Tresen, woraufhin Ingrid amüsiert lächelt: „Möchten Sie noch eines, Herr Stern?“ David schüttelt den Kopf: „Nein danke. Das reicht erstmal, vielen Dank. Dürfen wir jetzt bitte unsere Zimmer sehen?“

„Aber klar.“ Ingrid nickt David zu, dreht sich um und greift zum Bord mit den Zimmerschlüsseln.

Plötzlich betritt eine etwas ältere, überaus gepflegt und elegant wirkende Dame den Raum. In sehr gewähltem Deutsch begrüßt sie ihre Gäste, wobei ein leichter pommersch gefärbter Dialekt zum Vorschein kommt: „Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen. Wie ich sehe, hat sich meine Nichte Ihrer ja schon angenommen. Nun ja, meine Herren. Willkommen in Berlin. Ich hoffe, Sie werden sich wohl fühlen.“

David verbeugt sich und stellt sich vor: „Stern, David Stern. Das ist mein Kollege und Bruder Harro. Wir sind Reporter aus Wesermünde.“

Die Dame nickt, reicht David die Hand: „Angenehm. Lucie von Miltzow. David und Harro. Das sind ja interessante Namen in der Konstellation.“ Sie reicht auch Harro die Hand. Der schaut Frau von Miltzow in die Augen und erklärt lächelnd: „Ja, da haben Sie Recht. Das haben wir aber schon öfter gehört. Mein Bruder war sehr klein und schwach bei seiner Geburt. Da hat unsere Großmutter entschieden, wenn er die Nacht überlebt, dann soll er David heißen. Ja, gnädige Frau, er hat, wie man sieht, überlebt und nun heißt er so.“ Harro senkt etwas den Kopf und schaut, weil er meint, wieder einmal zu privat geplaudert zu haben, entschuldigend auf David.

Frau von Miltzow ist neugierig: „Aha. Und woher kommt Harro?“ Harro schaut wieder entschuldigend auf David, bleibt aber sehr offen: „Ich heiße eigentlich Harold, aber das sagt keiner zu mir. Bei uns sagen alle Harro. Sogar mein Vater.“

Frau von Miltzow legt leicht lächelnd den Kopf zur Seite: „Nun ja, meine Herren. Dann haben wir das ja jetzt geklärt. Dann wollen wir Ihnen mal Ihre Zimmer zeigen. Ich gehe vor.“ Sie geht, man könnte auch sagen sie rennt, mit schnellen Schritten los und sagt dabei sehr resolut: „Bitte folgen Sie mir!“

Sie schreitet die Treppe herab und parliert immer weiter: „Ich nehme immer die Treppe. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Aber Sie sind ja noch jung. Ich habe Ihnen die Zimmer im Erdgeschoß zugeteilt. Sie werden ja sicherlich auch mal später nach Hause kommen. Da müssen Sie dann nicht durchs ganze Haus laufen. So, hier ist das etwas größere Zimmer.“

Frau von Miltzow schließt die Tür auf, geht auf die gegenüber liegende Flurseite und öffnet das andere Zimmer. Sie selbst bleibt auf dem Flur stehen und zeigt mit den Händen, aber eigentlich ist ihr ganzer Körper in Bewegung und es sieht ein wenig aus, als würde sie beim Erklären tanzen: „Dieses ist etwas kleiner, dafür aber zum Hinterhof, also ruhiger, meine Herren. In beiden Zimmern haben Sie ein Waschbecken. Die Toilette und das Bad sind am Ende des Ganges.“

Frau von Miltzow wirkt in ihrer sehr bestimmten, aber großzügigen Art etwas belustigend auf die Brüder. Sie scheint das zu merken und fügt mit einem lächelnden Unterton hinzu: „Ja, aber wer wo schläft, das dürfen Sie entscheiden.“ Harro verbeugt sich: „Vielen Dank auch, gnädige Frau. Sehr zuvorkommend.“

Er schaut mit listigen Augen auf David. „Also, Bruder, ich denke mal, du lieber ruhig. Dann habe ich hier mehr Platz für meine ganzen Fotosachen.“ Harro zeigt auf das größere Zimmer. David nickt und fügt hinzu: „Einverstanden. Breite dich mal richtig aus.“

Lucie von Miltzow übernimmt wieder das Kommando: „Meine Herren, hier sind Ihre Schlüssel. Der größere von beiden passt vorn in die Haustür. Diese hier sind für Ihre Zimmer. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ Dann entschwindet Lucie von Miltzow mit wiederum forschen Schritten auf der Treppe. Die Brüder schauen ihr nach, lachen kurz laut auf und atmen voller Erleichterung tief durch.

Harro betritt sein Zimmer, lässt sich auf das breite Doppelbett fallen und ruft: „Mann, Bruder, hier könnte ich mir ja jeden Abend jemanden einladen, dann muss ich nicht alleine schlafen. Juhu!“ David lächelt wohlwollend und macht sich auf den Weg in sein Zimmer: „Ich geh dann mal auspacken.“

Die beiden packen ihre Koffer aus und richten ihre Zimmer ein. Anschließend nimmt David seinen Kulturbeutel, klemmt sich ein Handtuch und saubere Unterwäsche unter den Arm und schaut kurz zu Harro ins Zimmer: „Ich geh mal ins Bad.“

Er geht über den mit einem dicken, dunkelroten Läufer ausgelegten Flur ins Bad und ist sofort begeistert über die sehr moderne Ausstattung mit Dusche, Badewanne und den zwei unterschiedlich großen Waschbecken. Er wäscht und rasiert sich, inspiziert dabei weiter das Bad und fasst voller Neugierde an einen großen, hell lackierten, mehr als mannshohen Behälter. Dabei verbrennt er sich fast die Finger. „Lass doch die Griffel weg“, sagt er zu sich selbst und pustet auf die heiß gewordenen Finger. Er verlässt gut gelaunt das Bad und klopft bei Harro.

„Yes Sir, come in“, dröhnt es von innen. David lächelt und betritt das Zimmer. Harro liegt auf dem Bett, die Hände hinterm Kopf verschränkt. David blickt sich in Harros Zimmer um, das jetzt, wo er im Raum steht, noch größer wirkt als vorhin, als er nur einen kurzen Blick durch die Tür geworfen hat. „Machst schon einen auf international, oder was? Also, ehrlich, ich sage dir was. Besser können die hohen Herren im Adlon auch nicht wohnen. Musst dir mal das Bad angucken. So was gibt das bei uns noch gar nicht. Ist man doch ’n ganz annern Schnack, so ’ne richtige Großstadt.“

Harro erhebt sich von seinem Lager: „Also, ich bin echt zufrieden hier. Aber mal ehrlich jetzt, David, ich habe Hunger. Riesenhunger.“

David stimmt Harro zu: „Gut. Denn mach dich frisch und dann gehen wir essen.“ Er verlässt den Raum und geht in sein Zimmer. Harro springt förmlich vom Bett herunter in seine bereitstehenden Hausschuhe, schnappt seine Utensilien und verschwindet im Bad.

David holt aus dem Schrank einen seiner drei mitgebrachten Anzüge heraus und macht sich richtig schick. Er wählt zu dem dunkelgrauen, nadelgestreiften Zweireiher ein weißes Hemd und eine knallrote Krawatte. Harro klopft an und betritt Davids Zimmer. Er hat sich mal wieder freizeitmäßig gekleidet, mit seinem Blouson und seinem geliebten Käppi. David mustert Harro und schüttelt den Kopf: „Nee, nee, der Herr. So mal gar nicht. Wir sind hier in einer Weltstadt bei einem historischen Ereignis. Da zieht man sich vernünftig an. Wer weiß, wem wir alles begegnen.“

Harro schaut an sich herunter, dann auf David: „Ist ja gut. Wusste ja nicht, dass wir heute schon gleich richtig loslegen. Bis gleich.“ Er verschwindet blitzschnell aus dem Zimmer und geht sich umziehen. Kurz darauf steht Harro im dunkelblauen Anzug, mit hellblauem Hemd und weinroter Krawatte sowie einem dunkelblauen Hut wieder in der Tür.

David mustert Harro und nickt zustimmend: „Jawoll. So bist du ja von einem richtig feinen Herrn gar nicht mehr zu unterscheiden.“ Sein kritischer Blick bleibt jetzt allerdings an Harros Schuhen haften, er schüttelt den Kopf: „Und welche Schuhe willst du anziehen?“

Harro schaut auf seine Schuhe und zuckt mit den Schultern: „Na, diese hier.“ David verdreht amüsiert die Augen: „Ja, ja. Ich merke schon. Das musst du noch lernen, mein Kl…“ Er beißt sich auf die Zunge und fährt, etwas spaßig ironisch förmlich werdend, fort: „Herr Kollege. Es ist jetzt siebzehn Uhr dreißig, dass heißt, bis wir in einem Restaurant sitzen, ist es nach achtzehn Uhr. Aber ein Gentleman trägt nach sechs Uhr abends keine braunen Schuhe mehr. No brown after six, Sir. Das solltest du wissen.“

Harro spielt jetzt den genervten Befehlsempfänger: „Klar.“ Und ruft laut, fast militärisch: „Sir!“ David schaut gespielt verächtlich, aber immer noch lächelnd über die eigene Schulter auf seinen Bruder: „Na geht doch!“

Zurück in Davids Zimmer zeigt er seine blitzblanken, schwarzen Stiefel. „Jo, dafür, dass du nie beim Barras warst, ist das ja ganz gut geworden.“ David streckt seine Arme aus: „Komm, Bruder, lass dich drücken. Auf dass all unsere Pläne hinhauen.“

Die Brüder drücken sich, doch Harro löst sich sehr schnell aus Davids Umarmung und wird sehr ernst und nachdenklich: „Weißt du, David. Das eine sind unsere Pläne. Aber es gibt auch noch meine eigenen Pläne. Deswegen fotografiere ich. Fotografie ist für mich Freiheit. Und wenn wir hier gute Arbeit machen und gute Kontakte knüpfen … Mann, David, dann steht uns die Welt offen. Weißt du, jede Woche fahren vom Kaiserhafen die Schiffe nach Amerika. Irgendwann will ich da auch mal hin. So wie Vadder das ja auch vorhatte. Deswegen habe ich auch immer so fleißig englisch gelernt. Gut, du warst ja schon mal über drei Jahre in England. Aber du bist auch zehn Jahre älter als ich.“

Plötzlich schlägt Harros Euphorie um und er wird melancholisch: „Weißt du übrigens, wie das damals für mich war, als du nicht da warst? Ich war noch nicht mal sechzehn als du abgehauen bist, David. Ich hätte dich da gebraucht. Weißt du das? Aber ich war ja nur der kleine Bruder.“

„Harro, vergiss bitte nicht, auch ich habe noch Pläne für mein Leben.“ Er muss lächeln, als wenn er selbst nicht mehr so richtig daran glauben würde. „Und ich habe Träume. Weißt du, die Jahre in England waren sehr hart für mich. Aber ich habe wahnsinnig viel gelernt bei der Daily Times. Alles, was wir später gebraucht haben, um die Zeitung zu gründen. Aber das konnte ich damals noch nicht absehen, dass alles mal so kommen würde.“

David holt tief Luft und geht einige Schritte durch den Raum: „Wenn ich nicht im Dienst war, Harro, dann habe ich gelitten. Ich habe gelitten wie ein Hund. Alles fremd, keine Freunde, kaum Geld. Trotzdem, das sage ich dir, geht man normalerweise nach einer solchen Station nicht zurück in die Provinz. Aber ich habe es getan. Und weißt du warum? Ich sage es dir. Für euch! Für dich! Und für Vadder, der nach Mutters Tod ja nun richtig durchhing. Und ich sage dir noch etwas. Es hat sich gelohnt. Weil Vater sich wieder aufgerichtet hat, weil du dann endlich dein Abitur gepackt hast. Weißt du, Harro, ich hing damals auch durch, mir ging es richtig, entschuldige bitte, mir ging es richtig beschissen. Aber ich hatte Aufgaben zu erledigen. Eigentlich auch in England.“

Harro ist überrascht: „Aber ich habe dich nicht darum gebeten. Und Vadder auch nicht!“

David nickt, seine Lippen sind nur noch ein schmaler Strich: „Weißt du, Harro. Es gibt Aufgaben, die stellt dir kein anderer, die stellst du dir selbst. Und es gibt Aufgaben, die stellt dir das Leben. Was wäre denn gewesen, wenn ich euch gefragt hätte? Häh? Vadder hätte gesagt, ach, das geht schon. Und du hättest doch auch keinen Mucks von dir gegeben. Ja nicht zeigen, dass es einem mies geht.“ David kommt in Rage: „Das ist doch Scheiße, Mann. Aber glaub mir, ich habe das gespürt. Und deswegen bin ich zurückgekommen. Und ich sage dir, ich werde aus unserem Laden einen richtig großen Verlag machen, so wie Burton in England, und du wirst mir dabei helfen.“

Harro hat genau zugehört, doch jetzt ergreift er das Wort und unterbricht Davids Ausführungen: „Das will ich gerne tun. Aber darüber sind wir uns ja schon einig, oder hast du unser Gespräch mit Vadder schon vergessen? Aber, denk dran, ich habe auch meinen Kopp. Ich bin fast dreißig. Andere haben da schon lange eine Familie!“

Als David antwortet, klingt er richtig traurig: „Ja, ja. Familie. Das ist nicht so einfach, Harro. Hätte ich auch gern. Aber es geht nicht immer nur danach, was man will. Kennst du das Wort Schicksal?“

Er wird plötzlich nachdenklich, aber seine Stimme überschlägt sich fast. Er kommt mit dem Atmen kaum nach: „Kennst du das Wort Verantwortung? Weißt du eigentlich, was das heißt?“ Er wendet sich appellierend an den Bruder: „Mach nicht die Augen zu vor dem, was in unserem Deutschen Reich so passiert. Bleib bei mir, Bruder! Mach deine Fotos, mach gute Fotos. Lass uns festhalten, was passiert. Eine Zeitung ist ohne Bilder gar nichts. Das waren doch deine Worte, oder?“

„Ja, David, jetzt bleib mal auf dem Teppich.“ Harro spricht mit ganz ruhiger Stimme: „Ich kenne Verantwortung, keine Sorge. Ich mach’ auch nicht die Augen zu vor dem, was passiert. Ich finde zwar auch nicht alles in Ordnung, aber man muss auch die Chancen sehen, die sich auftun. Da passiert viel Neues, mein Freund, das will ich auf keinen Fall verpassen. Also, wir werden uns jetzt erstmal nur auf unsere Aufgaben hier in Berlin konzentrieren. Und dann sehen wir weiter. Einverstanden?“

David atmet aus, er fühlt sich erleichtert: „Einverstanden.“

Die Brüder geben sich die Hand. Harro ist jedoch nachdenklich. Er schaut auf David, der Harros Zustand bemerkt: „Was ist, Harro?“

Harro braucht eine Zeit, denn seine Nachdenklichkeit hat nichts mit dem gerade beendeten Gespräch zu tun. „Warum vertraust du mir eigentlich nicht?“

David blickt erstaunt auf Harro, der im Zimmer auf und ab geht und dann loslegt: „Ich habe dich heute früh im Zug, als du so schlecht geträumt hattest, etwas gefragt. Aber ich habe immer noch keine Antwort. Jetzt raus mit der Sprache!“

David holt tief Luft: „Harro, entschuldige, ich habe kein Misstrauen gegen dich. Ich muss die Geschichte nur selbst erstmal verarbeiten. Es fällt mir immer noch schwer darüber zu reden.“ Harro sagt kein Wort, er schaut seinen Bruder nur an. Aber so wie Harro guckt, bemerkt David, dass er sich jetzt erklären muss. Er atmet erneut tief durch, spricht sehr stockend: „Da … da war ein Unfall, Harro. Wir haben uns mit einem Auto überschlagen. Ich … ich … ich bin gefahren.“ Harro schaut weiter auf David, er wedelt mit der Hand: „Und?“ David fummelt nervös an seinen Fingern: „Na ja, mir ist nichts passiert, aber … Sharon, eh … das ist die Tochter meines Chefs von damals, die hat … die hat sich … die hat sich verletzt.“

Harro atmet tief durch, aber er bleibt dran, er will genau wissen was los war: „Schlimm?“ David nickt. Es dauert eine Weile bis es heraus kommt: „Sie kann seitdem nicht mehr laufen.“ Er dreht sich weg. Harro bläst hörbar Luft aus, geht zu David und legt seine Hand auf dessen Schulter: „Tut mir leid, David. Das wusste ich nicht.“ David nickt, dreht sich zu Harro und schaut ihn lange an: „Vielleicht hätte ich es euch sagen sollen. Aber ich wollte Vadder nicht damit belasten. Das war doch alles im gleichen Jahr. Weißt du, Mutters Tod, wenn ich ihm das dann auch noch erzählt hätte …, ich weiß nicht …“ Harro schüttelt den Kopf, er schaut David direkt ins Gesicht: „Und? Wie steckst du das alles weg?“

David zuckt mit den Schultern und quält mit einem dicken Kloß im Hals seine Antwort heraus: „Geht schon Harro, es geht. Ist ja auch schon lange her jetzt. Es wird schon, wird immer besser.“ Dass er fast täglich an dieses Ereignis denken muss, dass er sich mitunter bittere Vorwürfe macht, warum das alles so gekommen ist, und dass Schuldgefühle in ihm hoch kommen, davon sagt er nichts. Harro schüttelt den Kopf: „Manchmal versteh ich dich nicht.“ Zur eigenen Erklärung fügt er hinzu: „Aber jeder ist anders. Na gut.“

„Du hast Recht, Harro“, entgegnet David: „Jeder ist anders. Aber jeder hat die Chance zu lernen.“ Harro schaut auf den Bruder, überrascht dass der seine eigentlich nur für ihn selbst gemachte Äußerung überhaupt gehört hat. Er überlegt, dann fragt er: „Und, was hat du so Wichtiges gelernt?“

„So einiges, Harro.“ David setzt sich aufs Bett: „Eigentlich wollte ich ja immer frisch, fromm, fröhlich und frei durch mein Leben gehen. Tun und lassen was einem Spass macht.“

„Das will doch jeder“, wirft Harro ein, doch David spricht weiter: „Ich musste lernen, dass es die totale Freiheit gar nicht gibt. Immer musst du dich irgendwo anpassen. Das geht in der Familie los, dann auf der Arbeit oder wo auch immer du bist. Du hängst immer irgendwo drin, ob Verwandschaft, Schule, Gesellschaft, Verein, dein Dorf, deine Stadt, dein Land. Immer bist du eingebunden, das hat doch nichts mit Freiheit zu tun.“

Harro lauscht gespannt auf den Bruder, dann unterbricht er ihn: „Wenn du das so siehst, gibt es das nicht. Dann musst du vielleicht ganz allein durch die Welt ziehen und da hingehen, wo außer dir niemand ist. Aber das wäre ganz schön langweilig, glaube ich.“

„Selbst da, Harro, selbst da musst du dich anpassen“, entgegnet David dem nun verdutzt guckenden Harro, der ein „Erklär mal“, hinzufügt. „Na, selbst wenn du ganz allein durch, ich sage mal durch Sibirien läufst, wo weit und breit kein Mensch ist, dann musst du dich den dort herrschenden Gegebenheiten anpassen oder glaubst du, dass sich die Verhältnisse, die da herrschen, auf dich einstellen?“

Harro verdreht die Augen: „David, bei aller Liebe für deine Philosophien, jetzt ist’s gut. Ich weiß ja, was du meinst, schiebst ja öfter mal sowelche raus. Wie war das noch mal auf eurer Radtour durch Bayern, mit dem Alten da in der Kneipe, der euch angesprochen hat, weil ihr so norddeutsch gesabbelt habt?“ David lacht laut auf: „Genau, Harro, das ist ein gutes Beispiel. Von Anpassung, aber auch von nichts verändern wollen, oder können, oder einfach nicht tun.“

„Mach hin“, drängt Harro und David fährt fort: „Der fand unser Gesabbel so angenehm und fragte, ob wir aus dem Norden sind. Als wir das bejahten, sagte er, dass er eigentlich immer gern zur See gefahren wäre. Ich habe ihn dann gefragt, wie alt er ist. 78 kam heraus. Ja, und da habe ich ihm so ganz spontan gesagt: ‚Weißt du, wenn du Seemann werden willst, musst du dahin gehen, wo die großen Schiffe fahren und nicht in Bayern warten, bis die Nordsee kommt‘. Werner hat sich damals vor Lachen gar nicht wieder eingekriegt.“

Harro geht zu David und legt ihm die Hand auf die Schulter: „Genau, hör ich immer wieder gern, die Geschichte. Aber, noch was, wenn ich in Sibirien durch ’nen Wald taper und Hunger habe, dann finde ich bestimmt ein paar Beeren, die ich essen kann. Guck dich mal um, hier im Zimmer ist gar nichts. Und deswegen gehen wir jetzt was essen, ich habe nämlich Hunger. Und weißt du, was ganz toll ist? Ich habe Geld, um richtig essen zu können. Das ist ein wahnsinnig gutes Gefühl.“ Harro versucht, das Thema zu wechseln. Es gelingt ihm, denn Davids Laune bessert sich: „Denk dran, das sind Spesen. Du hast ein Limit!“ Harro winkt ab und lacht weiter: „Ja, ja.“

Sie werfen ihre Mäntel über die Schultern, verlassen den Raum und gehen die Treppe hinauf an die Rezeption. Hinter dem Tresen steht Ingrid. Harro lehnt lässig seine Ellenbogen auf den Rezeptionstisch und schaut Ingrid von unten herauf an: „Wir brauchen mal Ihren ehrlichen Rat. Wo sollen wir hingehen? Wir haben nämlich einen Riesenhunger.“

Ingrid lächelt beide an: „Ja, meine Herren, worauf haben Sie denn Appetit?“ David mischt sich ein: „Die Hauptsache ist, ordentlich was auf dem Teller. Und schmecken soll es auch.“ Ingrid ist noch etwas ratlos: „Fisch?“ Harro lacht auf: „Ne, lass man, äh, pardon, Entschuldigung. Ich meine, Fisch kriegen wir zu Hause genug. Was isst man denn so in Berlin?“ Ingrid beginnt jetzt wieder leicht zu berlinern: „Na, schmackhaft, berlinerisch, so richtig was zwischen die Zähne wa, wie man so sagt. Dazu ’ne gepflegte Molle, da jehn Se man ins Engelhardt. Ist nur ’n kleenet Stück. Aus dem Haus heraus wieder zu dem Platz wo Se aus der U-Bahn gekommen sind und dann gleich rechts. Sehen Se dann schon.“

Harro und David verneigen sich. David schaut auf Ingrid: „Vielen Dank. Einen schönen Abend für Sie. Sehen wir uns nachher noch?“ Ingrid zuckt mit den Schultern: „Nun ja, bis neun bin ich hier. Also wenn Sie bis dahin zurück sind, ja. Ansonsten will ich früh ins Bett. Morgen ist Großkampftag. Da wird das Haus proppevoll.“ Davids Blick haftet weiter an Ingrid: „Na, dann, vielleicht. Ansonsten bis morgen. Gute Nacht!“

Die Brüder gehen den von Ingrid beschriebenen Weg zum Adolf-Hitler-Platz. Dort sehen sie das Engelhardt. Sie bleiben vor dem Lokal stehen und begutachten die Speisekarte. Harro kratzt sich am Kopf und verfällt in sein Küstendeutsch: „Mensch, David, Alter, du. Die Preise. Das ist ja alles viel teurer als bei uns.“ David nickt zustimmend: „Ja, mein Guter, hast Recht. Aber das kriegen wir schon hin. Musst ja nicht jeden Abend über den Durst trinken. Deine Studentenzeit ist vorbei. Vergiss nicht, wir sind zum Arbeiten hier.“

Harro nimmt eine militärische Grundstellung ein, grüßt David durch das Anlegen seiner Hand an seine Hutkrempe und sagt sehr forsch: „Jawohl Herr Direktor!“ Ein vorbei kommender Passant beobachtet die Szene und murmelt mit etwas verzogenem Mund: „Det mit de Hand an’n Hut kannste knicken, Meesta. De Kralle wird steif in de Luft jehalten, vastehste!“ David und Harro schauen sich an und lächeln dem unbeirrt weitergehenden Passanten hinterher. David klopft Harro auf die Schulter und versucht ebenfalls zu berlinern: „Na, denn komm Se man mal, junger Mann. Essen fassen, wa.“

„Noch nicht viel los hier“, stellt Harro fest und blickt durch das Lokal. Über dem Tresen des Gastraumes hängt die typische, große Lampe mit der Bierreklame. Im Raum befinden sich sehr viele Tische und Stühle, von denen jedoch die wenigsten besetzt sind. An der Theke allerdings stehen etliche Männer und zischen ihr Feierabendbier. Eine Kellnerin kommt auf die Brüder zu und fragt in dieser typischen Kellnersprache, in einer Mischung aus Bestimmung und rhetorischer Frage: „Essen, die Herren?“

David und Harro schauen sich an. Harro mustert die Kellnerin ganz genau und fragt: „Was haben Sie denn Leckeres zu bieten?“ Die Kellnerin baut sich auf und nimmt ihn ganz genau in Augenschein: „So einiges, junger Mann. So einiges! Aber allet der Reihe nach. Jetzt setzen Sie sich da erstmal hin!“ Sie zeigt auf einen der Tische mit einer weißen Decke direkt an der Fensterreihe. David und Harro nehmen Platz, während die Kellnerin mit durchgedrücktem Rücken, erhobenem Haupt und auffällig wackelndem Hinterteil abzieht.

Die Brüder setzen sich. Harro schlägt David auf den Handrücken und sagt freudestrahlend: „Das wird ’ne richtig tolle Zeit hier in Berlin. Das spür’ ich.“ David schaut in die Runde, sein Blick bleibt in Richtung der Theke haften, wo es sehr laut zugeht. Es klingt irgendwie nachdenklich, als er auf Harros Aussage eingeht: „Ja, Harro. Das glaube ich auch.“ Dann schwenkt er stimmungsmäßig allerdings blitzschnell um und wird pragmatisch: „Es gibt ja auch noch andere Lokale. Wir müssen ja nicht nur hierher kommen.“ Die Kellnerin kommt zurück an den Tisch: „So, die Herren, hier zum Studieren die Speisekarten. Und zum Trinken zwei große Bier, oder?“

Die Brüder sind überrumpelt und nicken. Die Kellnerin geht, Harro zieht den Kopf zwischen die Schultern und beugt sich zu David über den Tisch: „Ist ’ne tolle Frau, oder?“ David blickt in Richtung der Kellnerin und nickt anerkennend: „Und geschäftstüchtig ist sie auch.“ Harro lehnt sich wieder zurück, verzieht staunend anerkennend den Mund: „Also, Bruder, nur wegen der werde ich öfter hierher kommen.“ David beugt sich vor und schaut Harro lächelnd an: „Bist auf der Balz oder wie?“ Harro zuckt mit den Schultern: „Jo, eigentlich immer. Obwohl, wenn damals die Svenja länger geblieben wäre, da in Kiel, weißt du, dann wäre ich, glaube ich, schon unter der Haube.“

David nickt, ist aber gedanklich in seiner eigenen Welt, aus der Harro ihn jedoch wieder herausholt: „Du, weißt du eigentlich, dass ich dreißig werde? Du weißt, was das heißt, oder?“ David versucht, den jetzt in Stimmung kommenden Harro zu beschwichtigen, doch Harro ist in seiner Begeisterung nicht zu stoppen: „Du, am 18. ist es soweit.“ Dann wird er überschwänglich: „Mensch, David. Da sind wir ja noch hier in Berlin. Oh, ist das klasse. Ich feiere meinen Dreißigsten in der Hauptstadt. Ich, Harro Stern aus Wesermünde. Genau, ich feiere in Berlin.“

„Nun bleib mal auf ’m Teppich. Die Spiele sind am 16. vorbei. Das heißt, wir sind an deinem Geburtstag schon wieder zu Hause. Dann kannst du da die Treppen fegen.“ David versucht, Harro von seinem Vorhaben abzubringen, doch der protestiert, hüpft auf seinem Stuhl auf und ab und wedelt mit den Armen: „Nee, nee, nee! Wo wir schon mal hier sind. Also, ich werde ganz sparsam leben hier. Aber den Geburtstag will ich in Berlin feiern.“ Dann startet er mit listigen Augen ein Trommelfeuer von Argumenten: „David, wir müssen doch nach den Spielen noch unseren Abschlußbericht machen. Denn es ist doch auch wichtig, dass unsere Leser erfahren, wie es denn so zwei, drei Tage nach den Spielen in Berlin aussieht, wenn der Alltag wiederkehrt. Die Veränderungen im Stadtbild werden zu sehen sein. Das muss ich fotografieren. Das gehört einfach dazu.“

Die Kellnerin kommt an den Tisch und serviert die Biere. „Zum Wohl die Herren! Und was möchten Sie essen?“ David trinkt erstmal. Dann schaut er mit einem Dackelblick zur Kellnerin: „Entschuldigung. Wir haben noch gar nicht geguckt, ’nen kleinen Moment noch, bitte.“ Die Brüder schauen in die Speisekarte und David murmelt: „Kotelett ist immer gut. Mit Gemüse und Kartoffeln.“ Harro nickt, guckt aber weiter in die Karte und winkt dann der Kellnerin zu, die auch sofort angesaust kommt: „Na, die Herren, entschieden?“ Harro bestellt: „Ja! Für meinen Bruder ein Kotelett und für mich das Eisbein bitte!“ Er strahlt die Kellnerin an, die seinen Blick außergewöhnlich lange erwidert und ein: „Gute Wahl!“ hinzufügt.

Die Tür des Lokals fliegt auf und vier Männer in brauner, uniformähnlicher Kleidung, die ein bisschen wie selbst zusammengestellt aussieht, kommen grölend herein. Einer der Vier bestellt ohne zu grüßen laut durchs Lokal rufend: „Vier Mollen, vier Körner, aber zack, zack!“ David zieht seinen Kopf zwischen die Schultern, beugt sich über den Tisch und zischt leise: „SA!“

Die SA-Leute sind mittlerweile an der Theke angelangt und reden sehr laut, aber für die Brüder unverständlich durcheinander. Harro, der während seiner Studentenzeiten zwar mit Leuten aus studentischen Verbindungen zu tun hatte, sich aber ansonsten wenig um irgendwelche anderen Institutionen oder Vereine gekümmert hat, zuckt ziemlich gelangweilt mit den Schultern: „Na und. Das ist doch ein anständiges Lokal hier. Mach dir man keinen Kopp, David.“ Der grübelt, sitzt noch immer mit hochgezogenen Schultern vornübergebeugt am Tisch: „Das gefällt mir nicht, dass solche Leute hier verkehren. Kennst die Typen doch.“ Harro schaut pikiert auf David und entrüstet sich: „Du bist vielleicht witzig. Woher soll ich die Typen wohl kennen?“ David lehnt sich noch weiter über den Tisch, legt dazu die Ellenbogen bis über die Tischmitte und zischt: „Ach Mann, Harro, doch nicht die hier. Aber du weißt doch von zu Hause, was für Vögel da mitmachen. Denk nur mal an Kurt.“ Harro verzieht das Gesicht: „Ja, Onkel Kurt, ja, ja, hast ja Recht. Aber das ist doch ’ne Pfeife, der kann doch nichts ausrichten. Der rennt doch nur mit und ist froh dass er ’n paar Typen gefunden hat mit denen er saufen kann.“

Sein Blick geht zur Theke, denn dort geht die Kellnerin jetzt sehr resolut auf die SA-Gruppe zu und dirigiert diese in eine kleine holzvertäfelte Ecke neben der Theke hinter einen Garderobenständer. Dabei brüllt sie in einem sehr harschen Befehlston: „So, Leute. Jetzt ist hier Ruhe. Verstanden? Ihr seid doch nicht alleine hier!“ Ein junger SA-Mann baut sich vor der Kellnerin auf und will etwas sagen, doch sie fährt ihm sofort über den Mund: „Halt bloß deine Klappe, du Wurm. Es gibt noch viele Leute, die haben mehr zu sagen als du. Und die kommen auch hierher.“ Dann bäumt sie sich auf und fügt mit sichtlichem Stolz hinzu: „Und die kommen meinetwegen hierher. Kapiert?“ Die SA-Leute schauen sich an und schweigen.

Harro und David beobachten stumm die Szene. Die Kellnerin kommt nach der „Einjustierung“ der Gäste bei Harro und David am Tisch vorbei und wirft dabei den Kopf etwas nach hinten, um eine imaginäre Locke aus dem Gesicht zu entfernen: „’Tschuldigung. Geht mitunter nicht anders. Das Essen kommt gleich. Noch zwei Biere die Herren?“ Ohne eine Antwort abzuwarten dreht sie weiter ihre Runde und geht in Richtung Theke. Harro nimmt einen tiefen Schluck, spricht voller Anerkennung: „Die hat’s aber drauf, mein lieber Mann!“ David trinkt sein Glas aus, blickt kurz in Richtung der SA-Leute, dann abwechselnd auf Harro und sein Glas: „Leere Gläser braucht das Land, Harro. Volle Flaschen haben wir genug.“

Die Kellnerin unterbricht die Unterhaltung und serviert jetzt das bestellte Essen: „So, die Herren. Einmal das Eisbein und einmal das Kotelett. Ist alles ein bisschen größer heute. Ich wünsche einen guten Appetit!“ Wieder geht sie sehr forsch in Richtung Theke. Bei den Brüdern hinterlässt es den Eindruck, als sei ihr Heck noch beweglicher geworden. David schaut amüsiert auf Harros Teller: „Na, dann hau mal rein. Wenn du jeden Tag so ’n halbes Schwein isst, passt du auf der Rückfahrt nicht mehr durch die Tür.“ Harro lächelt und antwortet, da er den ersten Bissen bereits im Mund hat, etwas unverständlich: „Dir auch ’nen Guten, Bruder.“ Er hebt sein Glas und prostet David zu. Dessen Glas ist leer. Doch schon kommt die Kellnerin und bringt zwei neue Biere. Harro nimmt das volle Glas und stößt mit David an. Beide schauen sich tief in die Augen. Dann trinken sie, stellen ihre Gläser ab und essen.

So nach und nach beginnt das Lokal sich zu füllen. Auch die Tische neben Harro und David werden besetzt, während die beiden mit großem Appetit weiteressen.

Irgendwann legt Harro sein Besteck quer auf seinen Teller: „Ich kann nicht mehr.“ Die Kellnerin hat Harros Geste gesehen und kommt sofort wieder an den Tisch: „Hat’s geschmeckt, die Herren?“ Harro blickt entschuldigend zur Kellnerin: „War nicht ganz zu schaffen.“ Die nickt ihm verständnisvoll zu: „Na ja, war ja auch ’ne Menge.“ Dann nimmt sie die Teller vom Tisch und geht. David ist neugierig: „Und Bruder, noch ’nen Nachtisch?“ Harro fährt mit seiner Hand über seinen Bauch und bläst mit geblähten Lippen die überschüssige Luft aus dem Körper: „Nee, nee. Lass mal gut sein. Das reicht jetzt erstmal. Aber ’n Magenbitter nehme ich noch.“ David nickt und zeigt mit dem Zeigefinger auf Harro: „Gute Idee. Ich auch. Aber ich merke auch, dass ich müde werde. Sind ja auch schon den ganzen Tag auf den Füßen.“ Harro lächelt amüsiert: „Hey, willst du schlapp machen, oder was?“ David schüttelt den Kopf: „Nee, das nicht, mein Lieber. Aber ich denke schon an morgen. Wird ein harter Tag werden. Ausweise holen, schon mal gucken, wo die Sportplätze und Hallen sind, und so weiter. Vergiss nicht, wir sind zum Arbeiten hier.“ Harro zieht leicht genervt die Augenbrauen hoch und verfällt mal wieder in seinen Singsang: „Ja! Das weiß ich!“

Die Kellnerin kommt erneut an den Tisch: „Sie haben bestimmt noch ’nen Wunsch, die Herren?“ Harro guckt sie wieder von oben bis unten an: „Ja, immer noch viele. Aber erstmal zwei Magenbitter. Bitte!“ Die Kellnerin lächelt Harro an, verdreht geschmeichelt die Augen und wiederholt Harros Bestellung: „Zweimal Mampe. Geht klar.“ Diesmal schreitet sie langsam und sehr bedächtig durch das Lokal und blickt, kurz bevor sie die Theke erreicht, noch einmal zurück, geht dann selbst hinter den Tresen und gießt die Schnäpse ein, um sie sofort an den Tisch zu bringen: „Zum Wohl, die Herren. Geht auf´s Haus!“

Harro schnappt sofort zu, nickt David und der Kellnerin kurz zu und hebt sein Glas: „Putz weg die Gülle!“ David lächelt: „Wo hast du denn den Schnack her?“ Harro lacht auf: „Na, von Onkel Karl in Wremen. Der hat doch immer so ’nen Selbstgemachten getrunken. Der sagt das doch immer.“ David schüttelt nachdenklich den Kopf: „Oh man, Karl. Da war ich auch schon lange nicht mehr. Den sehe ich immer nur beim Fußball.“ Harro blüht jetzt richtig auf: „Vielleicht können wir ja wieder mal mit ihm mit dem Kutter raus fahren.“ David nickt Harro zu: „Hmmh, ist ’ne gute Idee, können wir mal wieder machen. Stimmt.“ Er schaut noch einmal in Richtung der SA-Leute, dann auf Harro: „Aber jetzt zahlen wir und dann ab ins Bett. Ist schon nach neun Uhr. Ich bin langsam platt.“ Harro nickt und winkt der Kellnerin: „Zahlen, bitte!“

Olympia 1936

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