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4. Henri
ОглавлениеAm nächsten Tag, dem 31. Juli 1936, machen sie sich nach einem ausgiebigen Frühstück auf den Weg, um ihre Journalisten-Ausweise und Unterlagen abzuholen. Auf ihrem Weg durch die Reichsstraße, über den Adolf-Hitler-Platz, am Rundfunkhaus und an der Messe vorbei zur Deutschlandhalle, den sie zu Fuß zurücklegen, begegnen sie vielen gutgelaunten Menschen, die sich sehr zu ihrem Vergnügen in allen möglichen Sprachen unterhalten. Die Brüder genießen die sich auf sie übertragende, durchweg positive Stimmung in der Stadt. Dazu tragen sicherlich auch die festlich geschmückten und für dieses Ereignis noch einmal renovierten und teilweise frisch gestrichenen Gebäude bei. Auch die überall an den Straßen hängenden rot-weiß-schwarzen Reichsflaggen und die weißen Olympischen Flaggen mit den fünf Ringen sorgen für ein ganz besonderes Bild.
So etwas Gigantisches und Beeindruckendes haben die Brüder bisher noch nie gesehen. Sie besichtigen die Deutschlandhalle, wo die Ringer, die Boxer und die Gewichtheber ihre Wettkämpfe austragen werden. Dann fahren sie mit einem nur für Journalisten zugelassenen, speziell eingesetzten Bus zum Olympiastadion und begutachten den auch wiederum nur für akkreditierte Journalisten zugelassenen Bereich auf den Tribünen. Harro, der nur einige Meter von David entfernt steht, brüllt nahezu: „David, ich geh mal runter. Auf ’n Rasen. Mal gucken, wegen der Fotos.“ Ohne Davids Reaktion abzuwarten, rennt er die Stufen in Richtung Stadioninnenraum hinab. David schüttelt den Kopf, er lächelt und ruft Harro in plattdeutscher Sprache hinterher: „Nicht so flink, Jung, sonst falls du noch op de Schnuut.“
Ein junger Mann kommt auf David zu und spricht ihn an: „Wat hör ick denn dor, plattdütsch?“ David mustert den groß gewachsenen, schlanken Mann mit dem exakt gescheitelten blonden Haar und schaut sehr selbstbewusst zu ihm hoch: „Jo, so snackt man bi uns.“ Der Mann lächelt, verschränkt die Arme vor seiner Brust und neigt seinen Kopf ganz leicht in Richtung linke Schulter: „Und wo ist dat, bi uns?“ David schaut weiterhin fest in das Gesicht des Mannes, der ihn um Haupteslänge überragt: „Wesermünde. Kennst du dat?“ Der Mann lächelt, er ist amüsiert: „Jo, und ob ick dat kenn. Pass bloß op, du, ick bün een Ossi. Von Emden. Und mien Kumpel ist in Bremerhoben bi de Marine ween. In Kaiserhoben irgendwo.“ Er reicht David die Hand. „Dag ook. Henri Nannen. Ick bün hier de Stadion-Snacker.“
Harro kommt zurückgerannt, er ist völlig außer Atem: „Die lassen mich da nicht hin. Da fehlt mir ’n Ausweis für.“ Henri Nannen schaut amüsiert auf Harro und reicht ihm die Hand: „Hallo. Ick bün Henri.“ Harro wischt blitzschnell seine Hand an seinem Hosenbein ab und reicht sie Henri Nannen: „Harro. Harro Stern. Vom Nordsee-Blatt aus Wesermünde.“
„Harro. Henri ist hier der Stadion-Snacker. Hey snackt platt, kümmt von Ostfreesland, ut Emden”, erklärt David, während Harro verstehend nickt, um sich dann mit Blick auf Nannen zu entschuldigen: „Kiek mol an. Fein. Dag ook. Aber so richtig platt kann ich eigentlich gar nicht, tut mir leid.”
Die drei lachen, Henri Nannen winkt ab: „Mokt nix. Ich auch nicht so richtig. Aber wir können ja auch hochdütsch schnacken.“ Dann wendet er sich Harro zu: „Wat fehlt dir denn? Für da unten?“ Harro erklärt und gestikuliert: „Ich will hier fotografieren. Hab aber wohl nicht den richtigen Ausweis für den Innenraum. Die lassen mich da jedenfalls nicht rein.“ Henri greift nach Harros Ausweis und wirft einen Blick darauf: „Stimmt. Der ist nur für die Tribüne. Aber kommt mal mit.“ Henri dreht sich um und geht los, David und Harro folgen ihm.
„Müsst ihr denn beide in’n Innenraum?“ fragt Henri. „Nee, eigentlich nur ich. Wegen der Fotos“ antwortet Harro und schaut ein wenig entschuldigend auf David. Henri wird jetzt etwas förmlicher und wendet sich David zu: „Und was machen Sie?“ David antwortet auch auf Hochdeutsch: „Ich schreibe. Aber das wäre ganz toll. So für Interviews eventuell. Wenn das gehen würde, man weiß ja nie.“ Henri lächelt die Brüder an: „Na, mal sehen was geht.“
Dann betreten die drei durch eine Tür einen Raum im Stadion, in welchem sich auf einem Schreibtisch Ständer mit der Olympia- und der Reichsflagge befinden. An der Wand stehen eine Stuhlreihe und hinter einem Tisch weitere Stühle. „Setzt euch da mal hin und gebt mir eure Ausweise.“, sagt Henri. Beide reichen Henri ihre gesamten Unterlagen. Der nimmt die Papiere und entschwindet: „Bis gleich.“ Harro hat durch seine Treppenläufe, aber auch vor lauter Anspannung einen hochroten Kopf bekommen. Er fragt David, der sich jetzt auf einen der Stühle setzt: „Woher kennst du den denn?“ David zuckt mit den Schultern und erklärt: „Du, bisher gar nicht. Aber der kam vorhin an, als ich dir auf Platt nachgerufen hab. Da hat er mich gleich angequatscht. Sein Kumpel war im Kaiserhafen bei der Marine.“
Kurze Zeit später kommt Henri zurück. „So, die Herren, Ihre Ausweise. Mit Innenraumberechtigung und dazugehörigen Armbinden, falls ihr die überhaupt braucht. Bitte schön.“ David und Harro schauen auf ihre Ausweise, stecken die gereichten Armbinden in ihre Jackentasche und schauen dankbar auf Nannen. „Mensch, Klasse, Herr Nannen. Vielen Dank. Das ist wirklich nett von Ihnen.“ Harro neigt sogar ein paar Mal den Kopf vor Nannen, der lächelt ihn an: „Na, wir Fischköppe müssen doch zusammenhalten, oder?“ David nickt und schaut zu Nannen hoch. Dann steht er auf: „Ich würde Sie gern mal einladen, Herr Nannen. Zum Essen, oder einfach mal auf ’n Bier, oder so.“ Henri Nannen nickt: „Jo! Nehme ich gern an. Am besten mal im Engelhardt, vorn am Führer-Platz. Dat machen wir mal.“
Dann ruft wieder die Pflicht: „So. Ick mutt nu. Dat mit dem Bier machen wir, dat ist abgemacht. Ich melde mich. Viel Spaß bis dahin.“
Nannen reicht den Brüdern die Hand und geleitet sie aus der Tür. Harro ist total begeistert: „Mann, David. Der ist ja noch jünger als ich und hier schon Stadionsprecher.“ David ist gedanklich schon beim nächsten Arbeitsschritt: „Ja, Harro. So ist das. So, jetzt gehen wir noch mal zum Schwimm- und zum Reiterstadion und dann ins Hotel.“ Er klopft Harro auffordernd auf den Rücken: „Auf geht’s!“ Harro macht zwei tanzmäßige Zwischenschritte, tippt beim Gehen mit zwei Fingern an seine Stirn und sagt zu David: “Ey, ey, Käptn!“
Nachdem sie die weiteren, ebenfalls beeindruckend geschmückten Wettkampfstätten besichtigt haben, gehen sie wie abgesprochen in ihre Pension und begeben sich in das Zimmer von Harro. Der lockert seine Krawatte und wirft sich auf das Bett: „Mann, David. Das war irgendwie ein echt starker Tag heute.“ David hängt sein Jackett über einen Stuhl, setzt sich darauf und schaut auf den auf seinem Bett liegenden Harro: „He! Willst du schon pennen?“ Harro geht auf Davids Frage überhaupt nicht ein, er richtet sich auf und fragt gespannt: „Meinst du, der Nannen wird sich melden?“ David streckt sich auf dem Stuhl aus: „Na, warum denn nicht? Der scheint ja ganz patent zu sein.“
Das Klingeln des Zimmertelefons unterbricht die Unterhaltung. Harro zeigt mit dem Kopf in Richtung des klingelnden Apparates: „Telefon.“ David lächelt: „Ja, ja, das hör ich auch, Harro. Ist aber dein Apparat. Wir sind in deinem Zimmer. Also gehst du ran.“ Harro steht auf und geht zum auf dem Nachttisch stehenden Telefon: „Harro Stern.“ David lauscht gespannt: „Jo, Vadder, alles im Lot. Sitzen gerade im Zimmer.“ – „Nu, Vadder, morgen ist Eröffnung.“ – „Och, ganz doll so. Haben heute schon den Stadionsprecher kennen gelernt. Der kommt aus Ostfriesland. Scheint ein ganz patenter Mann zu sein, obwohl der noch sehr jung ist.“ – „Der sitzt hier.“ Harro wirkt jetzt genervt: „Jo, Vadder, mache ich. Dir auch schöne Grüße. Auch an die Leute. Morgen Nacht kommen die ersten Fotos und Davids Bericht. Das könnt ihr dann übermorgen schon alles rein nehmen.“ Plötzlich hebt Harro die Stimme: „Wie? Wie das gehen soll? Das ist doch alles abgesprochen.“ – „Vadder. Das haben wir doch alles organisiert. Um halb Acht fährt unser Bote von hier mit dem Zug nach Hamburg und übergibt Filme und Berichte an den Neffen von Hein Knopp. Der ist bei der Bahn. Der fährt denn mit dem Zug weiter nach Geestemünde und bringt euch die Sachen.“
„Da fährt um die Zeit gar keyn Zug mehr Jungens, wovon träumt ihr eyjentlich“, entgegnet der Vater. Die Brüder schauen sich an: „… doch Vadder. Da fährt noch ’n Güterzug, das haben wir alles ausbaldowert. Mit dem fährt Heins Neffe denn mit. Ohne dessen Hilfe wäre das gar nicht möglich. Der Zug ist immer gegen halb eins im Fischhafen. Von da bringt der euch den ganzen Kram rüber. Dann müsst ihr die Bilder entwickeln, den Bericht setzen und fertig. Aber die Leute wissen doch Bescheid, frag doch Heinz Hagen.“ Doch Vater Stern bleibt skeptisch: „Ob dat allet so klappt, ich weyß nicht. Wat ist, wenn mal wat dazwischenkommt?“ Harro wird jetzt richtig laut: „Vadder, bitte, geh zu Heinz Hagen. Der erklärt dir das alles noch mal. Und jetzt ist Schluss hier. Ich hab Feierabend für heute. Ich ruf dich morgen wieder an, wenn überhaupt Zeit dafür ist. Tschüss.“ Harro knallt den Hörer auf die Gabel. Er ist feuerrot im Gesicht: „Mann, oh Mann. Mitunter reicht dat aber wirklich. Der muss doch gar nicht alles wissen. Der regt sich doch nur auf.“
Die Brüder schauen aneinander vorbei. Harro unterbricht seine Nachdenklichkeit: „Sag mal, David. Warum ist Vadder so misstrauisch?“ David schaut Harro an und denkt weiter nach. Dann spricht er seine Gedanken aus: „Ja, gute Frage. Ist das, was du meinst, Misstrauen?“ Harro zuckt mit den Schultern: „Was denn sonst?“ David verzieht den Mund: „Ich weiß nicht. Ich glaub, das ist auch Unsicherheit.“ Harro ist erstaunt: „Wie? Unser Vadder, unsicher? Nie.“ David nimmt sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger: „Doch Harro. Vadder will immer alles richtig machen. Aber was ist richtig und was ist falsch? Das weißt du doch mitunter nicht. Du triffst eine Entscheidung und du hältst sie für richtig. Dann ändert sich etwas. Und schon war deine Entscheidung falsch.“ Harro nickt: „Aber das ist doch normal.“ David nickt auch: „Ja, Harro, für dich. Aber Vadder ist ein sehr gewissenhafter Mensch. Der hat Angst, Fehler zu machen.“
Harro verschränkt seine Arme, schaut kurz nachdenklich zur Zimmerdecke, dann wieder auf den Bruder: „Warst du eigentlich mal in seiner Heimat?“ David schüttelt den Kopf: „In Tilsit? Nee.“ Harro bohrt: „Warum ist er da weg? Weißt du das?“ David lehnt sich auf seinem Stuhl zurück: „Vadder wollte eigentlich nach Amerika. Auf dem Weg dahin kam er nach Geestemünde und da musste er erstmal das Geld für die Überfahrt verdienen.“ Harro wippt interessiert auf seinem Stuhl: „Aha. Und wo?“ David fährt fort: „Na ja, erst im Fischhafen. Dann, als der Sommer kam, in der Landwirtschaft. Auf dem Gut in Lunbarg. Jo, da hat er denn Mama kennen gelernt. Mann, das war wohl ein richtiger Skandal für Opa. Seine Tochter mit ’nem Zugereisten.“ Harro nickt: „Ja, das weiß ich ja. Und schwupp kamst du.“
David breitet seine Arme aus: „Ja. Und damit waren für Vadder seine Träume von Amerika erledigt, weil Mama wohl nicht weg wollte.“ Harro beendet sein Wippen, beugt sich vor: „Siehst du, das weiß ich gar nicht. Wann hat Mama das denn erzählt? War ich dabei?“ Davids Schultern zucken, er kramt in seinen Erinnerungen: „Ja, immer mal wieder. Und die anderen haben ja auch immer erzählt. Vadder, Onkel Heinz, Onkel Heini, Onkel Hermann, Onkel Horst, Walter, Mika, Tante Erna, Karl, Tante Käte, Marianne. Sogar Onkel Kurt, der Nazi-Arsch. Kinder hatten Oma und Opa ja genug.“ Harro lächelt David an: „Oh, Mann, jetzt schwelgst du aber.“ David zuckt mit den Schultern: „Wie, ich schwelge? Du hast mich doch gefragt.“
Harro beschwichtigt David: „Ja, ist ja schon gut. Vieles weiß ich ja auch.“ Er erhebt sich: „Was ist mit Essen, David?“ Der überlegt: „Hab gar keine große Lust. Komm, am …, wie hat der Nannen gesagt, am Führer-Platz ist ’ne Wurstbude. Mir reicht das. Und vielleicht ’n Bier dazu.“ Harro klopft David auf die Schulter: „Na dann, ’ne Wurst, ’n Bier und dann in die Falle.“
„Einverstanden, Harro. Genau in der Reihenfolge. Ohne größere Umstände.“ David legt seine Krawatte ab, schnappt seine Jacke und bringt die Sachen in sein Zimmer. Harro zieht seinen Blouson an und setzt sein geliebtes Käppi auf. Dann treffen sich die Brüder auf dem Flur und gehen zum Essen.