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Die Mitwelt-bezogenen Sinne

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Als ebenso interessant wie denkanstoßend erweist sich der Umstand, dass Rudolf Steiner den Hörsinn ausdrücklich nicht als umweltbezogenen Sinn auffasst, sondern einer Gruppe von Sinnen zuordnet, die er als die «oberen» «höheren» bzw. «geistigen» Sinne bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zwar die Kriterien erfüllen, Sinne zu sein, eine spezifische Wahrnehmungsqualität vermitteln, die gerade nicht das Ergebnis einer gedanklichen Schlussfolgerung, also eines Urteils ist – uns aber ein Erfassen der seelisch-geistigen Wirklichkeit des anderen ermöglicht. Im Hinblick auf die Frage, wie sehr wir mittels der (umweltbezogenen) Sinne ins Innere der Dinge vorzudringen vermögen, charakterisiert Steiner den Hörsinn wie folgt: «Kann der Mensch vermittels seiner Sinne noch tiefer in die Untergründe der Dinge gelangen? Kann er das intime Innere der Dinge noch genauer kennenlernen als durch den Wärmesinn? Ja, das kann er, indem die Dinge ihm zeigen, wie sie in ihrer Innerlichkeit sind, wenn sie zu tönen anfangen. Die Wärme ist in den Dingen ganz gleichmäßig verteilt. Was Ton in den Dingen ist, ist nicht gleichmäßig verteilt. Der Ton bringt die Innerlichkeit der Dinge zum Erzittern. Dadurch zeigt sich eine gewisse innere Beschaffenheit. Wie das Ding im Innern beweglich ist, nehmen Sie wahr durch den intimen Gehörsinn. Er liefert uns eine intimere Kenntnis der Außenwelt als der Wärmesinn. Das ist der achte Sinn, der Gehörsinn. Im Ton offenbart uns ein Ding, wie es innerlich ist, wenn wir dieses Ding anschlagen. Wir unterscheiden die Dinge nach ihrer inneren Natur, nach der Art, wie sie innerlich erzittern und erbeben können, wenn wir sie zum Tönen bringen. Die Seele der Dinge spricht in gewisser Weise da zu uns.»

An den Hörsinn anschließend weist Steiner im gleichen Vortrag noch zwei weitere Sinne auf: «Gibt es nun noch höhere Sinne als den Gehörsinn? Hier müssen wir noch viel behutsamer zu Werke gehen, um die höheren Sinne zu erforschen; denn wir dürfen die Sinne nicht mit etwas anderem verwechseln. Im gewöhnlichen Leben, da wo man unten stehen bleibt, wo man alles durcheinanderwirft, spricht man noch von anderen Sinnen, zum Beispiel vom Nachahmungssinn, vom Verheimlichungssinn und so weiter. Da ist das Wort Sinn aber falsch angewendet. Sinn ist das, wodurch wir uns eine Erkenntnis verschaffen ohne Mitwirken des Verstandes. Wo wir uns durch das Urteil eine Erkenntnis verschaffen, da sprechen wir nicht von Sinn, sondern nur da, wo unsere Urteilsfähigkeit noch nicht in Kraft getreten ist. Nehmen Sie eine Farbe wahr, so gebrauchen Sie einen Sinn. Wollen Sie urteilen zwischen zwei Farben, so gebrauchen Sie keinen Sinn.

Gibt es in diesem Sinn […] noch andere Sinne? Ja, es gibt noch einen neunten Sinn. Wir finden ihn, wenn wir uns überlegen, dass es allerdings im Menschen noch eine gewisse Wahrnehmungsfähigkeit gibt. Das ist ganz besonders wichtig für die Fundamentierung der Anthroposophie. Es gibt eine Wahrnehmungsfähigkeit, die nicht auf dem Urteil beruht, aber doch in ihm vorhanden ist. Es ist dasjenige, was wir wahrnehmen, wenn wir durch die Sprache uns mit unseren Mitmenschen verständigen. In dem Wahrnehmen dessen, was uns durch die Sprache gegeben ist, liegt nicht nur ein Ausdruck des Urteilens, sondern es liegt ein wirklicher Sprachsinn da zugrunde. Dieser Sprachsinn ist der neunte Sinn. Von ihm muss man sprechen, wie man von einem Gesichts- oder Geruchssinn spricht. Das Kind lernt sprechen, bevor es urteilen lernt. Das ganze Volk hat eine Sprache; das Urteilen obliegt dem einzelnen Menschen. Was zum Sinne spricht, unterliegt nicht der Seelentätigkeit des einzelnen Menschen. Das Hören kündet einem das innere Erzittern an. Die Wahrnehmung, dass ein Laut dieses oder jenes bedeutet, ist nicht bloßes Hören. Der Sinn, der sich darin als Sinn der Sprache ausdrückt, gibt sich eben einem anderen Sinne kund, dem Sprachsinn. Daher kann das Kind lange, bevor es urteilen lernt, sprechen oder Gesprochenes verstehen. Erst an der Sprache lernt es urteilen. Welcher Erzieher ist der Sprachsinn, geradeso wie der Gesichtssinn und der Gehörsinn solche Erzieher sind, während der ersten Lebensjahre!»

Dass es sich bei dem von Steiner erstmals beschriebenen Sprach-oder Lautsinn um ein Modalbezirk handelt, der alle Kriterien erfüllt, also als ein Sinn aufgefasst und akzeptiert zu werden hat, ist im Rahmen einer an der Universität Witten/Herdecke durchgeführten medizinischen Inauguraldissertation aufgezeigt worden.21

Als einen noch subtileren Sinn hat Steiner einen Begriffssinn herausgearbeitet und charakterisiert. «Dann kommen wir zum zehnten der Sinne. Das ist derjenige, der für das gewöhnliche Menschenleben der höchste ist. Durch ihn wird der Mensch fähig, den Begriff, der sich in Sprachlaute kleidet, zu verstehen. Das ist geradeso ein Sinn wie jeder andere. Damit wir urteilen können, müssen wir Begriffe haben. Soll die Seele sich regen, so muss sie Begriffe wahrnehmen können. Dies vermag sie durch den Begriffssinn. So haben wir in ihm einen zehnten Sinn aufgezählt.» (Steiner 1909, Vortrag vom 23.10.1909)

Im Rahmen der in der Vortragsreihe 1909 dargestellten Konzeption zu einer geisteswissenschaftlich erweiterten Sinneslehre hat Rudolf Steiner den Tastsinn und den Ichsinn bewusst nicht als Sinn behandelt. Beide Sinne erfahren bei Rudolf Steiner erst ab 1916 eine Würdigung. In dem Vortrag «Die zwölf Sinnesbezirke und die sieben Lebensprozesse» (im Vortrag vom 12.08.1916) und in allen späteren Darstellungen werden nun zwölf Sinne beschrieben. Als erster wird hier der Tastsinn genannt und folgendermaßen charakterisiert. «Tastsinn ist gewissermaßen derjenige Sinn, durch den der Mensch in ein Verhältnis zur materiellsten Art der Außenwelt tritt. Durch den Tastsinn stößt gewissermaßen der Mensch an die Außenwelt, fortwährend verkehrt der Mensch durch den Tastsinn in der gröbsten Weise mit der Außenwelt. Aber trotzdem spielt sich der Vorgang, der beim Tasten stattfindet, innerhalb der Haut des Menschen ab. Der Mensch stößt mit seiner Haut an den Gegenstand. Das, was sich abspielt, dass er eine Wahrnehmung hat von dem Gegenstand, an den er stößt, das geschieht selbstverständlich innerhalb der Haut, innerhalb des Leibes. Also der Prozess, der Vorgang des Tastens geschieht innerhalb des Menschen.»

Die mitweltbezogenen Sinne, d. h. Gehörsinn, Wortsinn bzw. Sprachsinn oder Lautsinn und Denksinn werden jetzt durch einen Ichsinn ergänzt. Diese Gruppe der «oberen» Sinne werden von Rudolf Steiner im vorgenannten Vortrag wie folgt ergänzt: «Noch intimer setzen Sie sich mit dem Inneren der Außenwelt durch den Gehörsinn in Beziehung. Der Ton verrät uns schon sehr viel von dem inneren Gefüge des Äußeren, viel mehr noch als die Wärme, und sehr viel mehr als der Gesichtssinn. Der Gesichtssinn gibt uns sozusagen nur Bilder von der Oberfläche. Der Hörsinn verrät uns, indem das Metall anfängt zu tönen, wie es in seinem eigenen Innern ist. Der Wärmesinn geht schon auch in das Innere hinein. Wenn ich irgendetwas, zum Beispiel ein Stück Eis anfasse, so bin ich überzeugt: Nicht bloß die Oberfläche ist kalt, sondern es ist durch und durch kalt. Wenn ich etwas anschaue, sehe ich nur die Farbe der Grenze, der Oberfläche; aber wenn ich etwas zum Tönen bringe, dann nehme ich gewissermaßen von dem Tönenden das Innere intim wahr.

Und noch intimer nimmt man wahr, wenn das Tönende Sinn enthält. Also Tonsinn: Sprachsinn, Wortsinn könnten wir vielleicht besser sagen. Es ist einfach unsinnig, wenn man glaubt, dass die Wahrnehmung des Wortes dasselbe ist wie die Wahrnehmung des Tones. Sie sind ebenso voneinander verschieden wie Geschmack und Gesicht. Im Ton nehmen wir zwar sehr das Innere der Außenwelt wahr, aber dieses Innere der Außenwelt muss sich noch mehr verinnerlichen, wenn der Ton sinnvoll zum Worte werden soll. Also noch intimer in die Außenwelt leben wir uns ein, wenn wir nicht bloß Tönendes durch den Hörsinn wahrnehmen, sondern wenn wir Sinnvolles durch den Wortsinn wahrnehmen. Aber wiederum, wenn ich das Wort wahrnehme, so lebe ich mich nicht so intim in das Objekt, in das äußere Wesen hinein, als wenn ich durch das Wort den Gedanken wahrnehme. Da unterscheiden die meisten Menschen schon nicht mehr. Aber es ist ein Unterschied zwischen dem Wahrnehmen des bloßen Wortes, des sinnvoll Tönenden, und dem realen Wahrnehmen des Gedankens hinter dem Worte. Das Wort nehmen Sie schließlich auch wahr, wenn es gelöst wird von dem Denker durch den Phonographen, oder selbst durch das Geschriebene. Aber im lebendigen Zusammenhange mit dem Wesen, das das Wort bildet, unmittelbar durch das Wort in das Wesen, in das denkende, vorstellende Wesen mich hineinversetzen, das erfordert noch einen tieferen Sinn als den gewöhnlichen Wortsinn, das erfordert den Denksinn, wie ich es nennen möchte.»

Dieser hier geschilderte Denksinn dürfte, so scheint es, die Grundlage dafür darstellen, dass wir über semantisches Verstehen verfügen bzw. Semantik betreiben. «Und ein noch intimeres Verhältnis zur Außenwelt als der Denksinn gibt uns derjenige Sinn, der es uns möglich macht, mit einem anderen Wesen so zu fühlen, sich eins zu wissen, dass man es wie sich selbst empfindet. Das ist, wenn man durch das Denken, durch das lebendige Denken, das einem das Wesen zuwendet, das Ich dieses Wesens wahrnimmt – der Ichsinn. Sehen Sie, man muss wirklich unterscheiden zwischen dem Ichsinn, der das Ich des anderen wahrnimmt, und dem Wahrnehmen des eigenen Ich. […] Diese beiden Dinge müssen streng voneinander unterschieden werden. Wenn wir vom Ichsinn reden, so reden wir von der Fähigkeit des Menschen, ein anderes Ich wahrzunehmen. […] Bezüglich dieser Wahrnehmung des anderen Ich durch den Ichsinn ist nun – das sage ich aus tiefer Liebe zur materialistischen Wissenschaft, weil diese tiefe Liebe zur materialistischen Wissenschaft einen befähigt, die Sache wirklich zu durchschauen – die materialistische Wissenschaft ist heute geradezu behaftet mit Blödsinnigkeit. Sie wird blödsinnig, wenn sie von der Art redet, wie sich der Mensch verhält, wenn er den Ichsinn in Bewegung setzt, denn sie reden ihnen vor, diese materialistische Wissenschaft, dass eigentlich der Mensch, wenn er einem Menschen entgegentritt, aus den Gesten, die der andere Mensch macht, aus seinen Mienen und aus allerlei anderem unbewusst auf das Ich schließt, dass es ein unbewusster Schluss wäre auf das Ich des anderen. Das ist ein völliger Unsinn! Wahrhaftig, so unmittelbar wie wir eine Farbe wahrnehmen, nehmen wir das Ich des anderen wahr, indem wir ihm entgegentreten. Zu glauben, dass wir erst aus der körperlichen Wahrnehmung auf das Ich schließen, ist eigentlich vollständig stumpfsinnig, weil es abstumpft gegen die wahre Tatsache, dass im Menschen ein tiefer Sinn vorhanden ist, das andere Ich aufzufassen. So wie durch das Auge Hell und Dunkel und Farben wahrgenommen werden, so werden durch den Ichsinn die anderen Iche unmittelbar wahrgenommen. Es ist ein Sinnenverhältnis zu dem anderen Ich. Das muss man erleben. Und ebenso, wie die Farbe durch das Auge auf mich wirkt, so wirkt das andere Ich durch den Ichsinn. […] Zwölf gesonderte Gebiete des menschlichen Organismus haben wir in diesen Sinnesgebieten.»

Die zwölf Sinne des Menschen

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