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Der Jahreskreislauf

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Das Leben der meisten Robben ist weitgehend durch einen Wechsel zwischen Wandern und Ruhen bestimmt. Dieses Lebenspendel wird noch dadurch in seinen Ausschlägen besonders betont, dass die eine Periode sich vorzüglich im Element des Wassers, die andere aber gänzlich auf dem Trockenen abspielt. Die Dauer der einzelnen Perioden schwankt mit den Arten und ihren Lebensräumen. Manche verbringen die Hälfte der Zeit auf dem Lande, andere nur wenige Wochen.

Die Jungen werden bei allen Robbenarten nur am Lande und niemals im Wasser geboren. Auch die Paarung erfolgt, bald nach der Geburt der Nachkommen, auf dem Trockenen. Und die Robbenjungen, hilflos und ganz der mütterlichen Sorge anheimgegeben, lernen erst nach einiger Zeit, unter der Führung und Anleitung der Mütter, das Meer kennen. In kleinen Tümpeln des Ufers erhalten sie richtigen Schwimmunterricht, bis sie das Element des Wassers beherrschen. Dann geht es zurück in die Weiten des Ozeans, und wenn sie wieder ans Land zurückkehren, sind sie schon kleine Herren und Damen geworden.

Die Entwicklung und Entfaltung der Jungen geht mit großen und schnellen Schritten vor sich. Das Milchgebiss wird bei den Arten, die es besitzen, schon vor oder bald nach der Geburt abgeworfen. Die Gewichtszunahme bei daraufhin untersuchten Seehund-Kindern beträgt etwa drei Pfund (!) täglich. So wachsen die Kleinen erstaunlich schnell heran und in einem Monat nach der Geburt ist schon die Säuglingszeit vorüber.2

Meist wird nur ein einziges Kälblein geboren, und wenn die Mutter, sich selbst vergessend, in den ersten Wochen nach der Geburt für ein oder zwei Tage hinausschwimmt und nicht nach ihrem Kinde sieht und womöglich nicht zurückkehrt, dann verhungert es. Die Kleinen beginnen jämmerlich zu greinen, und richtige Tränen rinnen aus ihren großen dunklen Augen.

Nach der Stillzeit bleiben die Jungen noch für einen weiteren Monat unbehütet am Strande. Die Mütter haben ihr Interesse für die Kleinen verloren und leben im Harem ihrer Männer. Die Kleinen aber wachsen weiter, obwohl sie kaum Nahrung aufnehmen; das Fell ändert seine Farbe, und wenn im aufziehenden Winter die Stürme einsetzen und die kalten Tage beginnen, dann ziehen alle, Alte und Junge, Große und Kleine, hinaus in das Meer. Wohin sie ziehen, ist vielfach nicht bekannt. Sie unternehmen aber weite Wanderungen, denn in Norwegen beringte Seehunde wurden im folgenden Jahr in Südschweden, in Schottland und auch in Island aufgefangen. Die Mehrzahl kehrt zu ihren alten Brutplätzen zurück. Der Einzug dorthin aber vollzieht sich nach streng geregelten Lebensgesetzen.

Die Bärenrobben z. B., die den nördlichen Pazifik, von Alaska bis Kamtschatka, bevölkern, beginnen gegen Ende Mai auf ihren Brutplätzen zu erscheinen. Zunächst kommen die älteren, mächtigen Herren, und bald danach ziehen die jüngeren Seebären nach. Während des ganzen Monats Juni besteht ein dauernder Krieg um die geeigneten Lagerplätze. Jeder der älteren Bullen umgrenzt sein eigenes Revier, wenige Quadratmeter groß, mit einigen Steinen und Erdklumpen; vor allem aber mit seinem Zorn und seiner Eifersucht. Tausende Reviere liegen dann nebeneinander, und die jungen Männchen, die noch keinen Anspruch auf eine Nestbildung haben, halten sich mehr oder weniger respektvoll im Umkreis auf. Um die Johannizeit, bis hinein in die ersten Tage des Juli, entsteigen dann Tausende von Weibchen dem Meer und lassen sich von den Bullen in die Reviere führen. Je kräftiger das Männchen ist, umso größer ist die Zahl seiner Frauen. In wenigen Tagen danach sind die Kinder geboren, werden gesäugt, aufgezogen, und gleichzeitig geschehen die neuen Hochzeiten und Paarungen.

In der Antarktis, wo die südlichen Bärenrobben ihr Ausbreitungsgebiet haben, vollzieht sich das gleiche Geschehen, nur beginnt es im November und währt bis zum März des folgenden Jahres.

Während dieser ganzen Zeit nehmen die Robben keinerlei Nahrung zu sich. Das Leben ist jetzt nicht Raub und Jagd, sondern Muße und Nichtstun. Es ist auch Streit unter den Männern, es ist Liebesspiel und Behagen. Die Kälbchen wachsen heran und treiben ihren kindlichen Unfug. Wer die Möglichkeit hatte, wie Lockley3 durch viele Wochen bei einem solchen Brutplatz zu leben und seine Sitten und Zustände zu beobachten, ist immer wieder von der Zauberwelt dieses Daseins gefangen genommen.

Was sich auf allen diesen Plätzen, an welchen Flossenfüßer landen und sich niederlassen, abspielt, ist ein Bild ihres Eingebettetseins in den Sonnengang. Wenn das Tagesgestirn seiner jährlichen Kulmination zustrebt, dann steigen die Robben aus dem Meer ans Land. Sie folgen dem Aufstieg der Sonne. Nicht weil es wärmer wird und weil sie nun am Trockenen bessere Lebensbedingungen haben, verlassen sie das Meer. Das Tagesgestirn trägt sie mit seinem steigenden Licht aus den Tiefen des Wassers in die Höhen des Luftkreises. Es ist ein sommerlicher Einschlafprozess, der sich vollzieht. Die Robben werden von Traumbildern durchzogen und müssen sich ihnen hingeben. Dieser Bewusstseinswandel führt sie aus den Tiefen des Meeres ans Land. Sie hören auf zu essen, bereiten die Stätten ihres Liebeslebens vor und haben eine Art von Feriennacht. Ein Sommerschlaf beginnt über die verschiedenen Familien und Arten der Robben hinwegzuziehen.

Hier ist es umgekehrt wie bei den Zugvögeln. Diese vollziehen ihr Brutgeschäft als Tagearbeit. Die Robben haben es in ihren Nacht- und Traumbereich verlegt. Solche Unterschiede sind biologisch und erdgeschichtlich von großer Bedeutung und müssten viel eingehender, als das bisher der Fall war, untersucht werden. Wenn es dann Herbst wird und die Sonne ihre Kraft verliert und nach abwärts steigt, wachen die Robben wieder auf. Der Herbst ist ihre Morgenzeit. Dann gehen sie zurück ins Wasser und werden zu Räubern und Jägern; nun beginnen sie ihr Tagewerk. Diese Jahresperiodizität hat aber noch einen anderen Aspekt. Innerhalb des großen Säugetierkreises bilden die Robben (Pinnipedia) eine eigene Ordnung. Manche Forscher rechnen sie zu Raubtieren; einige Merkmale deuten auf die Hunde hin. Ihrem Charakter und ihrer Lebensweise nach ist es schwer, sie an bestimmte andere Ordnungen anzuschließen. Sie haben einzelne Züge, die sie den Raubtieren, andere, die sie den Elefanten verwandt sein lassen. Die Teilung zwischen einem marinen und einem terrestrischen Leben gibt ihnen den komplizierten Stil ihrer Existenz. Im Wasser sind sie Raubtiere; sie sind gefürchtete Jäger, und kein Fisch ist vor ihnen sicher. Dort können sie auch erstaunliche Schwimmleistungen vollbringen und sind kühn, keck und angriffsfreudig wie alle Raubtiere. Sie scheinen im Meer nicht in Herden zu leben, sondern bleiben Einzelgänger, die nur lose mit ihren anderen Artgenossen verbunden sind. Ausnehmendes Geschick und Geschmeidigkeit ist ihrer Motorik eigen. Auf dem Lande aber sind sie tölpelhaft; da die Oberarme und Oberschenkel sehr verkürzt innerhalb der Haut steckengeblieben sind und der Rest der Gliedmaßen zu flossenartigen Anhängen umgewandelt wurde, ist ihre Fortbewegung sehr erschwert. Sie kriechen und stemmen und schieben sich auf dem Boden entlang. Auch geben sie ihre Räuber- und Jägerallüren auf und werden friedlich. Sie schließen sich zu kleinen, an Huftiere erinnernde Herden zusammen. Ein Bulle regiert die ganze Herde, die aus einer verschieden großen Anzahl von Weibchen und dem sie umgebenden Jungvolk besteht.4 Auch Elefanten haben ähnliche soziale Vergesellschaftungstendenzen.

So pendeln die Flossenfüßer nicht nur zwischen Wasser und Land hin und her. Sie pendeln, was ihren Charakter betrifft, auch zwischen Raubtier und Huftier. Während ihrer Wachperiode gleichen sie den Ersteren; während der Traumperiode den Letzteren. Dazu kommen manche fast menschliche Züge oder zumindest anthropoid anmutende Züge. So wird nur ein einziger Säugling geboren und selten einmal Zwillinge. Die kleinen Kälbchen können greinen und Tränen vergießen und haben sogar ein Milchgebiss. Der menschenähnliche Ausdruck des Robbengesichts kommt dadurch zustande, dass die Augen groß und rund sind, und dass auch der Kopf eine fast kugelförmige Schädeldecke hat. So überragt die Stirne (bei manchen Arten, besonders den Seehunden) die Augen, und da auch das Maul nicht zu stark nach vorne geschoben ist, entstehen die humanen Züge des Gesichtes.

Als ich einmal in der Abenddämmerung am Strand von Tintagel stand, ganz nahe der Höhle Merlins, und das Meer sein dunkles Lied sang, tauchte plötzlich ein Seehund aus dem Wasser auf. Er blickte auf mich, neugierig, fragend, und unsere Augen begegneten einander. Es war ein Blick, wie ich ihn kaum jemals in solcher Unmittelbarkeit mit einem Tier gewechselt habe; ein Blick ohne Angst, ohne Scheu, mit vollem Verständnis für die Situation. Damals begann ich für das Rätsel dieser seltsamen Tiere aufzuwachen.

Bruder Tier

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