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Vom Ursprung der Robben Die Wanderung der Tiere
ОглавлениеDas ganze Reich der Tiere ist von einem ständigen Wandertrieb durchwirkt. Es gibt kaum eine Familie oder eine Art, in der das Ziehen und Wechseln nicht zum Bestand ihrer Existenz gehörte. Die Fahrten und Reisen gehen über kleine und große Räume. Einzelne Gattungen haben die Fähigkeit, die Weltmeere zu durchkreuzen; andere überfliegen ganze Kontinente.
Dieses Wandern tritt in der mannigfaltigsten Gestalt auf. Es kann, wie beim Ziehen der Vögel, über viele Tausende von Kilometern sich erstrecken; bei manchen Schmetterlingen hohe Gebirge übersetzen. Alle Elemente, Erde, Wasser und Luft werden durchzogen. Die Rentiere wechseln regelmäßig über weite Strecken des Nordens; die Aale, die ihre Wiege im Sargassomeer haben, schieben sich nach Osten weiter und steigen die Flüsse des eurasischen Kontinents hinauf. Die Lachse machen den umgekehrten Weg, von den Quellen der Bäche zurück in den Ozean. Die alles zerstörenden Massen der Wanderheuschrecken, die Horden der Wanderameisen schwirren und kriechen in überwältigender Zahl über weite Landstriche.
Der Zug der Heringe, das Auftauchen des Störs, das Erscheinen der Seehunde, Seelöwen und Pinguine zu ganz bestimmten Zeiten des Jahres und ihr Verschwinden nach kürzeren oder längeren Perioden sind Teilerscheinungen dieses unentwegten Kommens und Gehens, das alle Stämme der Tiere durchzieht.
Kann man diesem Wandern und Ziehen der Tiere eine einheitliche Ursache unterstellen? Es handelt sich dabei um ein ungewöhnlich komplexes Geschehen, das augenscheinlich den verschiedensten Bedingungen unterliegt. Jede einzelne Tierart hat die ihr zugehörige Form des Wanderns, und sie ist ebenso charakteristisch für die betreffende Art wie die Gestalt des Leibes oder die Anordnung der Zähne. Manche Wanderungen unterstehen jahreszeitlichen Rhythmen; andere erfolgen mit den Phasen des abnehmenden oder zunehmenden Mondes. Oft sind die Paarungs- und Geburtsperiode mit dem Ortswechsel eng verbunden. Es gibt auch nomadische Tiere, die ihren Futterplätzen nachziehen, und andere, die von einem plötzlich und ganz aperiodisch auftretenden «Wander-Wahnsinn» ergriffen werden und gleich den skandinavischen Lemmingen in den unmittelbaren Tod rennen. Versucht man, einige allgemeine Wesenszüge des Wanderns der Tiere aus der Vielfalt der einzelnen Erscheinungen herauszuarbeiten, dann ergeben sich wichtige Gesichtspunkte; wir müssen nur die Idee des Wanderns so weit als möglich fassen. Je umfassender wir das Phänomen anschauen lernen, umso deutlicher tritt das Wesentliche und Charakteristische zutage.
Ein Bienenstock, der durch Wochen hindurch der regelmäßigen Arbeit oblag, der Honig sammelte, die Larven versorgte, die jungen Bienen ihre Geschäfte und Tätigkeiten lehrte, wird plötzlich, und manchmal innerhalb weniger Stunden, von einer das ganze Volk ergreifenden Unruhe durchsetzt. Alle Regelmäßigkeit ist unterbrochen. Das Sammeln des Honigs war schon in den vorhergehenden Tagen herabgesetzt, und die Weiselzellen, in denen die künftigen Königinnen fast bereit zum Auskriechen sind, werden streng behütet. Dann, nach einer kurzen Regenperiode, wenn die Sonne wieder durchbricht, kommt es wie mit einem Male zum Schwärmen. Die alte Königin und eine große Menge junger Arbeiterinnen verlassen den Stock und gehen als eng zusammengedrängter Schwarm auf die Suche nach einem neuen Nest.
Die Lemminge Norwegens, eine Wühlmäuseart, können durch Jahre hindurch auf den Hochebenen und Hochmooren der nördlichen Gebirge vereinzelt, kaum beachtet und sehr scheu und zurückgezogen dahinleben. Eines Sommers aber, nachdem das Brutgeschäft öfter und reicher als sonst vollzogen worden ist und eine Unzahl von jungen Lemmingen die Heide bevölkern, bricht plötzlich, über ganze Landstriche hin, der Wandertrieb über sie herein. Zu Abertausenden rotten sie sich zusammen, werden kämpferisch, angriffslustig, streitsüchtig und rennen durch Wald und Busch, überqueren Flüsse, stürzen in tiefe Schluchten, erdrücken sich gegenseitig zu Tausenden und ziehen, Körper an Körper gepresst, immerzu gegen Westen, bis sie die Gestade des Meeres erreichen und, immer weiter wandernd, im Wasser untergehen.
Die Pinguine, die durch Monate die Inseln und Landzungen der Antarktis gemieden haben, tauchen plötzlich, wie von einem Zauberstab berührt, zu Hunderten aus den Tiefen des Ozeans auf und bevölkern, Kopf an Kopf gedrängt, das feste Land. Dort bauen sie die einfachen Gehege; es sind Gruben oder kleine, steinumfasste Mulden. Dorthinein legen sie ihre Eier und brüten die Kleinen aus. Nachdem die junge Brut «flügge» geworden ist und schwimmen gelernt hat, gehen die Scharen wieder zurück ins Meer und verschwinden, niemand weiß wohin, für den Rest des Jahres. Diese Beispiele könnten durch zahlreiche andere vermehrt werden. Immer zeigt es sich, dass beim Auftauchen des Wanderns auch ein anderes Element mit erscheint. Die einzelnen Tiere rotten sich zu größeren oder kleineren Gruppen zusammen. Vögel, Fische, Insekten, alle schwärmen und ziehen und streichen in großen, dicht gedrängten Scharen ihrem Ziel entgegen. Viele Erklärungen dieses tierischen Verhaltens wurden erdacht. Jede einzelne dieser Theorien enthält ein Stück Wahrheit, keine aber wird dem Phänomen selbst in seiner umfassenden Größe gerecht. Sicher spielen Hunger, Fortpflanzungstrieb und Todeserwartung dabei eine Rolle. Warum aber kommt es zu diesen Zusammenrottungen? Was geschieht dem Einzeltier, dass es vielfältige Gemeinsamkeit mit seinen Art- und Stammesgenossen sucht und nur mit ihnen zusammen die Züge und Reisen und Hochzeitsflüge unternimmt? Warum drängen sich Tausende von Pinguinen, Zehntausende von Robben, Millionen von Heringen, Aalen, Sardinen plötzlich zusammen? Die einen ziehen gemeinsam, die anderen lassen sich, in zahlloser Fülle, an bestimmten Plätzen gemeinsam nieder.
Können wir ahnend erfassen, was sich in diesen Augenblicken des Tierlebens vollzieht? Sicherlich kann man versuchen, eine Drüsenfunktion, das plötzliche Erwachen eines Instinktes und manches andere dafür verantwortlich zu machen. Die Drüsen aber ändern ihre Funktion, die Instinkte wachen auf, weil ein Höheres, Stärkeres die ganze Tierart durchsetzt und sie wie verwandelt.
Was geschieht mit einer Gruppe von Vögeln, die im Herbst sozusagen den Wanderstab ergreifen, um nach Süden zu ziehen? Eine plötzlich auftretende Unruhe überkommt sie; die Zusammenrottungen vollziehen sich und das Reisen beginnt. Zugvögel, die in Käfigen gehalten werden, erleben zu der Zeit, da ihre freien Artgenossen zu wandern beginnen, das gleiche Unruhigwerden. Lucanus sagt darüber: «Rastlos flattert und tobt der Gefangene im Käfig umher und zerstößt sich dabei häufig das Gefieder fast bis zur Unkenntlichkeit … Dies beweist untrüglich, dass es nicht äußere Gründe sind, die den Zugvogel auf die Wanderschaft treiben, sondern dass er einem allgewaltigen Triebe folgt, der ihn völlig beherrscht und von ihm nicht willkürlich unterdrückt oder abgeändert werden kann. Der Zugvogel zieht, weil er ziehen muss!»1
Warum aber müssen die Vögel ziehen? Weil alle Tiere, in ähnlicher Art wie der Mensch, von bestimmten Rhythmen des Lebens durchwirkt sind. Es ist unberechtigt, den Wandertrieb der Tiere mit dem Reise- und Forschungsverlangen der Menschen auch nur annähernd zu vergleichen. Dieser fatale Irrtum hat immer neu die wahren Einsichten verhindert. Die Tiere wandern und ziehen so, wie die Menschen schlafen und wachen. Die Vögel, die sich zum Zug nach dem Süden vorbereiten, erleben eine Bewusstseins-Änderung, der sie nachgeben müssen. Es ist ein Abendwerden, ein Einschlaf-Erlebnis, das sie überkommt. Und nun beginnen sie vom Süden zu träumen, und jede Art hat ihren gemeinsamen Traum, schließt sich im Erlebnis dieses Traumes zusammen und findet, Schlafwandlern gleich, ihren Weg in das Land ihrer Träume. Bei ihnen allen tritt eine Linderung des Verhaltens ein. Der gleiche Lucanus erzählt: «Auf der Kurischen Nehrung habe ich oft genug beobachten können, wie Wanderfalken und Sperber in unmittelbarer Nähe von Drosseln, Staren, Finken oder anderen Kleinvögeln dahinzogen, ohne dass sie irgendwelche Raubgelüste zeigten, und dass auch alle diese Kleinvögel die sonst so gefürchteten Räuber gar nicht beachten, sondern unbekümmert um deren Nähe ihre Luftreise fortsetzten, ohne auch nur im Geringsten die Flugrichtung zu ändern.» Das ist nur dadurch zu erklären, dass sie alle, Räuber und Opfer, gemeinsam zu Träumern geworden sind. Ein leichter Schlaf hat sie überkommen, und während der Zeit ihres südlichen Aufenthaltes werden sie aus diesem Schlaf erst erwachen, wenn der frühe Morgen ihrer Rückreise anbricht. Dann beginnen sie, nach ihrer Heimat zurückzustreben; diese jedoch ist Tag und Tagewerk. In der Heimat tritt das Erwachen ein – der Nestbau, die Brutpflege, die Sorge für die Aufzucht. Nachdem diese Arbeit getan ist, beginnt der Abend des Aufbruchs und der Traum des Südens sie wieder zu überkommen.
Hier enthüllt sich der gewaltige Hintergrund, dem alles tierische Wandern unterliegt. Wie wir Menschen im Rhythmus der täglichen Erdumdrehung schlafen und wachen, so durchzieht die Tiere ein ähnlicher, aber jährlicher Rhythmus. Nicht die Erde, sondern das Zusammenspiel von Erde, Sonne und Mond rhythmisiert das Schlafen und Wachen der Tiere. Das Wandern und Ziehen ist ein Einschlaf- und Aufwach-Erlebnis der Gruppenseelen der einzelnen Arten. Die Allgewalt dieses Geschehens ist aus Instinkten, Trieben und Verhaltensweisen gar nicht allein zu erklären. Ein mächtiger Seelenatem durchzieht die einzelnen Völker der Tiere; er hebt sie ausatmend aus ihrem Tagewerk in ein Traumland und führt sie, einatmend, wieder zurück in den Alltag.
Erst beim Anblick dieser die ganze Erde durchflutenden Atemzüge ist auch das Leben der Robben zu ergründen. Diese große, seltsame und mit so vielen Geheimnissen umwobene Tiergruppe untersteht dem Gesetz dieses Rhythmus in einer nun zu betrachtenden speziellen Art.