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2. Die alte Uhr

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Heilmann ging zur Polizei, um sich dort pflichtgemäß anzumelden. Die Eintragung des Namens wurde im Anmeldebüro vorgenommen, damit aber waren die Formalitäten noch nicht zu Ende. Er wurde vor einen Polizeikommissar namens Anders geführt, der ihn mit scharfen Blicken musterte und fragte:

„Sie wissen, dass Sie unter Polizeiaufsicht stehen werden?“

„Leider.“

„Es gibt mehrere Klassen dieser Aufsicht. Sie befinden sich in der dritten und strengsten. Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?“

„Nein. Ich stand noch nie unter Polizeiaufsicht. Vielleicht haben Sie die Güte, es mir zu sagen.“

Er sprach ruhig und in höflichem Ton. Kommissar Anders betrachtete ihn abermals, schüttelte den Kopf und sagte dann:

„Ich habe Sie ja zu diesem Zweck kommen lassen. Sie sehen mir nicht wie ein gemeingefährlicher Mensch aus. Aber Sie können sich während Ihrer Gefangenschaft unmöglich zur Zufriedenheit Ihrer Aufseher geführt haben, denn Sie haben wiederholt Disziplinarstrafen erhalten.“

„Leider muss ich das zugeben.“

„Daher folgende Auflagen: Sie dürfen keine Gastwirtschaft besuchen.“

„Ich habe ohnehin nicht das Geld dazu.“

„Ferner dürfen Sie die Stadt nicht verlassen, ohne mich um Erlaubnis gefragt zu haben.“

„So bin ich also erneut Gefangener?“, fragte Heilmann bestürzt. „Zwar nicht in der Zelle, aber doch in der Stadt?“

„So ist es. Erlaube ich Ihnen, die Stadt zu verlassen, so haben Sie sich zur vorher bestimmten Zeit wieder einzufinden und sich auf die Minute pünktlich bei mir zu melden.“

Heilmann senkte den Kopf.

„Das ist hart, sehr hart, Herr Kommissar!“, stieß er hervor.

„Aber vom Gesetz vorgeschrieben!“

„Wenn mich nun mein Beruf oder mein Geschäft zu einer Reise veranlassen?“

„Ich werde nicht übermäßig streng sein, muss aber Pünktlichkeit verlangen. Ferner haben Sie mir jeden Wohnungswechsel vorher zu melden. Und endlich müssen Sie alle Fragen, die meine Untergebenen an Sie richten, höflich und der Wahrheit gemäß beantworten. In der ersten Zeit werden Sie täglich von einem Polizisten aufgesucht.“

Heilmann erschrak.

„Wer wird mir unter solchen Verhältnissen Wohnung und Arbeit geben?“, fragte er mit bebender Stimme.

Der Kommissar zuckte die Achseln.

„Das ist Ihre Sache. Übrigens haben Sie sich abends um Punkt zehn Uhr im Bett zu befinden. Es ist notwendig, dass meine Leute Sie kennenlernen, darum werde ich Sie jetzt hierbehalten müssen. In einer Stunde ist Morgenappell der diensttuenden Polizisten. Ich werde Sie ihnen vorstellen. Morgen um dieselbe Stunde haben Sie sich abermals einzufinden, um der anderen Schicht gezeigt zu werden.“

Die Augen des armen Buchbinders verdunkelten sich. Er hielt mit Mühe die Tränen zurück.

„Herr Kommissar“, sagte er, „ich komme mir vor wie ein Schwerverbrecher. Ist eine solche Strenge nötig?“

Das intelligente Gesicht des Beamten zeigte einen teilnehmenden Ausdruck. Er antwortete:

„Ich mache Sie notgedrungen mit dem bekannt, was man von Ihnen fordert und erwartet. Im Übrigen will ich Ihnen sagen, dass es mir keineswegs Vergnügen bereitet, einem Menschen das Leben schwerzumachen. Verhalten Sie sich anständig, so ist es zu Ihrem Besten. Sehe ich, dass ich Ihnen Vertrauen schenken kann, so werden Sie bald nicht mehr bemerken, dass Sie beaufsichtigt werden. Wo wohnen Sie?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich will mir erst eine Arbeit suchen, aber vielleicht bin ich bereits heute gezwungen, einen Ihrer Befehle zu übertreten.“

„Wieso?“

„Wenn ich keine Arbeit und kein Unterkommen finde, so muss ich in einer Herberge nächtigen, und diese ist doch ein öffentliches Schanklokal, mir also verboten.“

„Nun, mit der Herberge will ich eine Ausnahme machen. Aber sehen Sie lieber, so bald wie möglich eine eigene Bleibe zu finden. Haben Sie denn keine Verwandten oder Bekannten, die sich Ihrer annehmen könnten?“

„Nein, aber einen alten Paten besitze ich noch. Der ist wohl der Einzige, von dem ich Mitgefühl zu erwarten habe.“

„So gehen Sie hin zu ihm“, riet der Kommissar. „Verfügen Sie sich nun hinaus ins Wartezimmer. Dort bleiben Sie, bis Sie zum Appell geführt werden!“

Heilmann gehorchte. Er saß eine Stunde lang draußen unter Aufsicht eines Gendarmen, der ihn dann in einen Saal führte, wo er den versammelten Polizisten vorgestellt wurde. Sie betrachteten ihn aufmerksam, um sich sein Gesicht, seine Gestalt, sein ganzes Äußeres einzuprägen, dann durfte er gehen.

Als er aus dem Gebäude trat, holte er tief Atem. Es war ihm, als ob er jetzt von einem fürchterlichen Alpdrücken, von einer entsetzlichen Beängstigung erlöst worden war.

Was nun tun? Wohin sich wenden? Er beschloss, den alten Paten aufzusuchen. Zwar hatte er gerade dessen Sohn das ganze Unglück zu verdanken, aber der Pate hatte wohl nie wirklich an die Schuld ‚seines‘ Wilhelm Heilmann geglaubt. Zudem war der alte Heider ja Buchbinder und würde ihm vielleicht wieder Arbeit geben.

Wilhelm hatte bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er überlegend stehenblieb. Er dachte an seine damalige Geliebte. Sollte er nicht lieber sie aufsuchen? Aber wo fand er sie? Anna war Dienstmädchen gewesen. Vielleicht stand sie aber gar nicht mehr bei ihrer damaligen Herrschaft in Diensten. Er setzte also seinen Weg fort.

In der Vorstadt lag das kleine Häuschen, das seinem Paten Heider gehörte. Dessen Sohn war sein Nebenbuhler und – Verderber gewesen, vielleicht – ! Er wagte den Gedanken gar nicht zu Ende zu führen und beschleunigte seine Schritte. Er erkannte das Häuschen sofort wieder. Die Tür stand offen, sodass er direkt eintreten konnte. Gerade in demselben Augenblick kam eine junge Frau heraus. Beide sahen sich, blieben stehen und stießen einen Ruf des Erstaunens oder vielmehr des Erschreckens aus.

„Anna!“, rief Heilmann.

„Wilhelm! Du hier?“, fragte sie. „Was willst du?“

„Das möchte ich dich fragen, Anna. Was hast du in diesem Haus zu schaffen?“

Sie blickte einen Augenblick lang verlegen zu Boden. Dann richtete sie ihre Augen wieder auf ihn, ernst und vorwurfsvoll, und fragte in hartem Ton:

„Das weißt du nicht? Ich meine, du könntest es dir denken!“

Erst jetzt kam ihm die volle Erkenntnis.

„Du hast ihn geheiratet!“, murmelte er. „Mein Gott! Was hast du mir angetan, Anna?“

Sie trat einen Schritt näher und sagte:

„Und was hast du mir angetan, Wilhelm?“

Heilmann blickte sie verständnislos an.

„Was denn? Ich habe an dir nichts verschuldet!“

„Nichts? Wirklich? Ich meine den – Diebstahl!“, stieß sie heftig hervor.

Er fuhr sich mit beiden Händen nach dem Herzen.

„Den Diebstahl!“, stammelte er. „Den Diebstahl! Also auch du, Anna! Glaubst du denn wirklich, dass ich es gewesen bin?“

„Wer sonst?“, antwortete sie kurz.

„Kein anderer als dein – ach Gott – dein Mann!“

Das Gesicht der Frau versteinerte noch mehr.

„Das hast du damals vor Gericht auch gesagt, es war eine Schlechtigkeit von dir. Man hat das Geld in deiner Lade gefunden. Kannst du das etwa leugnen?“

„Nein. Aber ich bin es nicht gewesen!“

„Das glaubt dir niemand!“

Heilmann schlug die Hände vor das Gesicht.

„So sind also meine Ahnungen und Befürchtungen eingetroffen. O Anna, du weißt nicht, wie unglücklich ich jetzt bin!“

„Du hast es dir nur selbst zuzuschreiben. Wann bist du entlassen worden?“

„Heute früh.“

„Wo wohnst du?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich habe noch keinen Meister. Ich wollte mit dem Paten sprechen und da – da traf ich dich.“

„Mit deinem Paten? Der kann dir auch nicht helfen. Er hat das Geschäft meinem Mann übergeben.“

Wilhelm Heilmann schüttelte traurig den Kopf.

„Ach so! Da werde ich freilich keine Arbeit erhalten!“

„Nein. Mein Mann ist sehr schlecht auf dich zu sprechen, weil du damals die Schuld auf ihn hast schieben wollen. Ein Glück, dass er im Augenblick nicht zu Hause ist, es würde einen Mordsspektakel geben. Tu mir den Gefallen und geh!“

„Ja. Ich werde gehen, Anna. Du sollst meinetwegen keinen Zank haben. Mir ist’s, als ob ich soeben gestorben sei. Grüß mir den Paten!“

Heilmann wollte sich zum Gehen wenden, hielt aber ein, als er sah, dass Anna bei dem Wort ‚Pate‘ die Fäuste geballt hatte und mit dem Fuß aufstampfte.

„Den?“, fragte sie. „Mit dem rede ich nicht! Wer kann es mit diesem alten Nörgler aushalten! Es wäre am besten, die Engel hätten ihn. Er hat mir, seitdem ich verheiratet bin, das Leben sauer genug gemacht. Jetzt hat er endlich dafür den Lohn erhalten. Der Schlag hat ihn gerührt.“

Heilmann traute seinen Ohren nicht. War das die, welche er so lieb gehabt hatte? War es möglich, dass das Mädchen, dem sein Herz gehört hatte, so gefühllos sein konnte?

„Der Schlag hat ihn getroffen?“, fragte er leise. „Wann?“

„Vor sechs Wochen.“

„Mein Gott, wie der brave Mann mich dauert!“

„Brav? Ein Drache ist er! Bedauere ihn nur! Was hat es für Zank und Streit gekostet, ehe er uns das Geschäft und das Häuschen übergeben hat! Nun liegt er da, kann sich kaum rühren und ist doch nicht satt zu füttern.“

„Wo ist er denn?“

„Droben unter dem Dach.“

„Bei dieser Kälte?“

„Sollen wir ihn etwa in die Stube nehmen? Geh jetzt, geh! Mein Mann könnte kommen, und dann gnade dir Gott!“

Heilmann konnte kaum sprechen. Heiser sagte er:

„Ja, ich will gehen. Leb wohl, Anna! Gott verzeihe dir, wie ich dir heute verzeihe!“

Sie antwortete nicht. Er drehte sich um und ging. Draußen aber blieb er nach einigen Schritten stehen.

„Der Schlag getroffen – den guten Alten – oben liegt er unter dem Dach. Nein, es ist meine Pflicht! Ich muss unbedingt nach ihm sehen, der mir immer ein väterlicher Freund war und nie ganz an meine Schuld geglaubt hat.“

Er kehrte zurück. Die Tür stand noch offen, aber Anna war nicht zu sehen. Er stieg die Treppe und dann die Oberbodentreppe empor. Da, unter dem Dach, stand ein Bett, in dem der Kranke lag. Die Lumpen, welche ihn bedeckten, waren kaum Decken zu nennen, durch die Dachziegel hatte es hereingeschneit, der Schnee lag zollhoch auf der halbverfaulten Diele. Es war ein schrecklicher Anblick. Der Alte sah fast aus wie eine Leiche, das graue Haar wirr und die Wangen eingefallen.

Als Heider den jungen Mann erkannte, glitt ein Zug der Freude über sein Gesicht.

„Wilhelm!“, stieß er hervor.

„Pate, mein lieber Pate! Wie finde ich Sie wieder!“

Bei diesen Worten trat er an das Bett, um die Hände des Alten zu erfassen. Sie waren eiskalt. Dem Kranken traten dicke Tränen in die Augen, aber er war nicht im Stande, sie wegzuwischen.

„Ich wollte, ich wäre tot!“, flüsterte er mit hörbarer Anstrengung.

„Aber kümmert sich denn niemand um Sie?“, fragte Heilmann.

„Niemand! Das Haus haben sie, nun ist’s gut, nun kann ich sterben und verderben!“

„War denn kein Arzt da?“

Der Kranke schloss die Augen, dann öffnete er sie wieder und bewegte den Kopf, als wollte er nicken.

„Zweimal. Er sagte, er könne nichts tun.“

„Aber wärmere Decken müssen Sie haben!“

„Man gibt mir keine!“

„Und Essen, Trinken?“

Wieder rollte eine Träne über die Wange des Alten.

„O Wilhelm, ich habe Hunger, großen Hunger!“

„Herrgott! Gibt man Ihnen nicht genug? Ich werde augenblicklich hinuntergehen, ich werde mit der Anna sprechen und mit Ihrem Sohn. Sie müssen...“

„Nein, nein!“, flüsterte der Alte heiser. „Um Gottes willen, nicht! Es würde mir nachher nur schlimmer ergehen. Ich weiß, dass ich bald sterbe, diese paar Tage will ich noch Frieden haben. Aber ehe ich sterbe, möchte ich...“

Er konnte vor Schluchzen nicht weiterreden. Heilmann zog sein Taschentuch hervor, trocknete dem Alten die Tränen ab und fragte dann:

„Was möchten Sie denn? Sagen Sie es mir!“

„Mich noch einmal satt essen!“

„Du lieber Gott! Das sollen Sie!“, rief Wilhelm aus. „Ich gehe gleich zum Fleischer und zum Bäcker. Ich hole Ihnen etwas.“

„Hast du denn Geld? Ich denke, du kommst aus – aus...“

Er wollte das böse Wort nicht aussprechen.

„Aus dem Zuchthaus? Ja, daher komme ich. Aber ich habe doch ein paar Gulden. Ich kann einige Brötchen und ein Stück Wurst bezahlen.“

„Aber lass dich unten nicht sehen!“

Heilmann ging. Behutsam schlich er hinunter und kehrte schon bald wieder zurück.

Die Augen des Kranken waren hungrig auf die Esswaren gerichtet, die Heilmann mitgebracht hatte.

„Bist du gesehen worden?“, fragte er besorgt.

„Nein. Ich habe mich in Acht genommen. Hier, lieber Pate, ist Wurst. Auch einige Brötchen und Kuchen habe ich mitgebracht. Und da – Sie frieren und Feuer gibt es hier oben nicht – ich bin zum Kaufmann gegangen und habe mir ein Fläschchen Schnaps geben lassen. Ich denke, das wird Sie ein wenig wärmen!“

„Du Guter!“, flüsterte der Alte. „Kommst aus dem Zuchthaus und bist besser als mein eigener Sohn! Ja, ich glaube wirklich, dass du unschuldig warst und er das Geld unterschlagen hat.“

Heilmann sah, mit welchem Verlangen die Augen des Kranken an den mitgebrachten Sachen hingen, und sagte:

„Kommen Sie! Ich werde Ihnen zu essen geben.“

Wilhelm bestrich die Brote mit Wurst und begann den Alten zu füttern. Trotz seiner Schwäche verschlang der Pate gierig die Speisen. Er verzehrte alles, selbst der Branntwein wurde bis zum letzten Tropfen ausgetrunken. Dann stieß er einen Seufzer aus und sagte mit Tränen in den Augen:

„Gott vergelte es dir! Du darfst leider nicht wiederkommen. Ach, könnte ich mir doch, wenn ich Hunger habe, etwas holen lassen! Hunger tut so weh!“

„Haben Sie denn kein Geld?“

„Keinen Kreuzer.“

„Aber Sie haben doch auch niemand, den Sie schicken könnten, selbst wenn Sie Geld hätten!“

„Der Junge von den Leuten, die in der Hinterstube wohnen, kommt zuweilen herauf. Er könnte für mich etwas besorgen.“

Heilmann überlegte eine Weile, dann sagte er:

„Nun, da will ich Ihnen etwas Geld hinlegen. Viel ist es freilich nicht. Zehn Gulden habe ich geschenkt erhalten. Davon ist der Betrag für das Bahnbillett und für einige andere Dinge bereits abgegangen. Zwei Gulden kann ich Ihnen aber gern geben.“

Der Alte versuchte sich aufzurichten.

„Wilhelm, du brauchst es doch selber! Hast du Arbeit?“

„Nein.“

„Und du wirst wohl auch schwer welche finden. Nein, ich kann das Geld nicht annehmen! Aber höre, da fällt mir etwas ein. Gib mir einmal das Zigarrenkästchen da auf dem Balken.“

Wilhelm gehorchte. Mit zitternden Händen öffnete der Alte das Kästchen, in dem sich ein altes Gesangbuch und eine abgewetzte Taschenuhr befanden.

„Das ist alles, was ich noch habe“, sagte der Alte. „Sieh dir einmal die Uhr an! Wie viel ist sie wohl wert?“

Heilmann betrachtete sie und sagte:

„Es ist eine Spindeluhr, abgegriffen und ausgeleiert. Ich glaube nicht, dass man viel dafür bekommen wird.“

„Aber zwei Gulden doch wohl?“

„Vielleicht.“

„Ich verkaufe sie dir. Nimm sie für die zwei Gulden, die du mir geben willst.“

Als er sah, dass Heilmann ihm widersprechen wollte, fuhr der Alte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit fort:

„Du bekommst nicht gleich Arbeit. Du brauchst das Geld ganz notwendig.“

Heilmann zögerte, aber der Alte ließ nicht nach. Das Reden strengte ihn an, und um ihn von dieser Anstrengung zu befreien, gab Wilhelm nach:

„Gut, ich nehme die Uhr. Hier ist das Geld.“

„Aber verkaufe sie, Wilhelm, damit du wieder Geld bekommst, und zwar noch heute! Willst du mir das versprechen?“

Um den Paten zu beruhigen, stimmte Heilmann zu. Der Alte fiel auf das elende Lager zurück und flüsterte:

„So bin ich ruhig. Du wirst nun keinen großen finanziellen Verlust erleiden.“

„Ich denke es“, versicherte Heilmann, sagte sich aber im Stillen, dass er wohl kaum einen einzigen Gulden für die Uhr erhalten werde.

„Und nun lege das Geld in den Zigarrenkasten“, bat der Alte. „Lieber Wilhelm, ich möchte – – hast du denn noch Zeit und willst mir einen letzten Gefallen tun?“

„Gern, wenn ich kann“, sagte Heilmann bewegt.

Der Alte fasste seine Hand.

„Es kümmert sich kein Mensch um mich. Ich werde sicher nicht wieder gesund, und – und – willst du nicht einmal das Gesangbuch aufschlagen und mir etwas vorlesen? Ich meine das Lied, das so anfängt: ‚Es kann vor Abend anders werden‘.“

„Ich will sehen.“

Wilhelm schlug die Sterbelieder auf, suchte nach und sagte dann:

„Hier ist es.“

„Lies vor, lieber Wilhelm!“, bat der Alte.

Seine Stimme war leiser geworden und über sein eingefallenes Gesicht begann sich ein Zug milder Ergebung auszubreiten.

Heilmann begann:


„Es kann vor Abend anders werden,

als es am Morgen mit mir war.

Den einen Fuß hab ich auf Erden,

den andern auf der Totenbahr.

Ein kleiner Schritt ist nur dahin,

wo ich der Würmer Speise bin.“


Er hielt inne. Der alte Buchbinder lächelte ihm zu und bat:

„Noch eine Strophe, noch eine!“

Heilmann las weiter:


„Dringt mir der letzte Stoß zum Herzen,

so schließe mir den Himmel auf.

Verkürze mir des Todes Schmerzen,

und hole mich zu Dir hinauf.

So ist mein Abschied keine Pein,

und ich werd’ ewig selig sein!“


Als jetzt der Vorleser seinen Blick vom Buch weg auf den Kranken richtete, hatte dieser die Augen geschlossen. Seine Lippen bewegten sich leise wie im stillen Gebet. Nach einiger Zeit erklang es flüsternd:

„Es ist nun aus mit meinem Leben!“

Heilmann schlug dieses Lied auf und las vor:


„Es ist nun aus mit meinem Leben,

Gott nimmt es hin, der mir’s gegeben,

führt mich ins bess’re Dasein ein.

Mein Lebenslicht ist ausgegangen,

zum Himmel eil’ ich mit Verlangen,

um ewig bei dem Herrn zu sein.

Es ist nun aus, es ist vollbracht.

Welt, gute Nacht!“


Wilhelm las langsam alle sechs Strophen dieses Sterbelieds. Der Alte bewegte sich nicht. Als er zu Ende gelesen hatte, wartete Heilmann noch eine Weile, dann neigte er sich über seinen Paten und horchte.

„Er schläft!“, flüsterte er. „Der Atem geht ruhig und ist kaum noch zu spüren. Er hat sich endlich einmal satt gegessen und wird nun weiterschlafen.“ Er legte das Gesangbuch in den Kasten zurück. Als er die beiden Gulden erblickte, musste er wieder an die Uhr denken. „Was mache ich?“, fragte er sich. „Lege ich sie ihm wieder hin oder nehme ich sie mit? Wenn ich sie nicht nehme, so ärgert der Pate sich. Ich kann sie ja verkaufen und ihm dann das Geld bringen. Ja, ich will sie doch mitnehmen!“

Er schlich sich leise fort und zur Treppe hinab. Eben als er durch den Hausflur huschen wollte, wurde die Stubentür geöffnet und Anna trat heraus. Sie erblickte ihn und zog erschrocken die Tür hinter sich zu.

„Um Gottes willen!“, flüsterte sie. „Du bist wieder hier?“

„Ich war noch gar nicht fort“, antwortete er. „Ich wollte gehen, da fiel mir der arme Pate ein. Ich ging zurück und hinauf zu ihm.“

„Zum Paten?“, fragte Anna ängstlich. „Leise, leise! Mein Mann sitzt drin! Was hast du denn da oben zu suchen gehabt?“

Wilhelm wurde bei diesen Worten zornig. Er antwortete:

„Es wäre besser, Ihr suchtet auch etwas da oben. Der Alte verhungert und verfault ja ganz!“

Ihr Gesicht rötete sich, ihre Augen blitzten und sie schimpfte:

„Was fällt dir ein? So ein Zuchthäusler wäre mir der rechte Kerl, uns Vorschriften zu machen! Pack dich fort, sonst hole ich meinen Mann!“

Sie trat eilig in die Stube zurück und er entfernte sich mit schwerem Herzen. Ihm fielen die schönen Stunden ein, die er mit Anna einst verbracht hatte, ihre Versprechungen und Schmeicheleien. Doch was nützten ihm nun die Erinnerungen? Er schüttelte die Gedanken ab und ging.

Alle seine Bemühungen und Bitten auf der Suche nach Arbeit waren vergebens. Kein Mensch wollte einem entlassenen Zuchthäusler, der noch dazu unter Polizeiaufsicht stand, Arbeit geben. Müde und niedergeschlagen suchte er die Herberge auf, um sich auf einem kargen Strohlager auszuruhen.


*


Der Buchbinder Kurt Heider saß mit seiner Frau beim Abendessen. Geredet wurde nicht viel, dafür war er viel zu sehr damit beschäftigt, möglichst große Bissen Fleisch in den Mund zu stopfen. Heider war ein breitschultriger Mann mit schwarzen Haaren und einer ewig unzufriedenen Miene. Man sah es ihm an, dass er sehr leicht jähzornig werden konnte. Endlich wandte er sich seiner Frau zu.

„Warst du einmal beim Alten droben?“, fragte er.

„Nein“, sagte Anna einsilbig.

„Hat er nicht gerufen?“

„Ich habe nichts gehört“, brummte sie.

Kurt Heider schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Es ist doch ein Kreuz mit dem Greis! Warum stirbt er nicht endlich? Wie ein Wickelkind muss man ihn füttern! Bring ihm einen Teller Suppe hinauf, Anna!“

Seine Frau schüttelte den Kopf.

„Zu dem Alten? Da hinauf bringst du mich nicht! Und füttern soll ich ihn? Was geht er mich an? Geh du hinauf!“

Er wurde unwillig, aber sein Schimpfen half nichts. Er zündete also die Laterne an, nahm den kleinen Topf, in dem sich einige Löffel Suppe befanden, und stieg die beiden Treppen empor. Oben herrschte tiefe Stille.

„Vater!“, sagte er.

Kein Laut war zu vernehmen.

„Vater!“

Es blieb still. Er trat näher an das Bett und leuchtete dem Liegenden ins Gesicht. Dieses zeigte ein ruhiges, beinahe kindliches Lächeln, das wie eingefroren wirkte.

„Verdammt!“, stieß Kurt Heider halblaut hervor. „Ist er etwa gestorben?“

Er setzte den Topf ab und fasste die Hand des Vaters.

„Wahrhaftig! Tot, ganz tot! Da muss ich doch gleich die Anna heraufholen!“

Ohne sonderliche Gemütsbewegung stand er auf und leuchtete mit der Laterne umher. Dabei fiel sein Auge auf den Zigarrenkasten.

„Das also ist das ganze Erbe! Das Gesangbuch und die alte abgegriffene Uhr. Die will ich – – Donnerwetter!“

Er hatte das Gesangbuch herausgenommen und blickte nun erstaunt in das Kästchen.

„Zwei Gulden! So hat der alte Heuchler doch noch Geld gehabt! Das will ich gleich einstecken. Die Anna braucht nichts davon zu wissen, die zwei Gulden kommen mir für den Skatabend und für Bier gerade recht!“

Er nahm das Geld und suchte dann weiter:

„Aber die Uhr ist fort! Wo ist sie hin? Ich muss Anna fragen. Vielleicht weiß sie es.“

Er ging hinab. Seine Frau bemerkte, dass er den Topf nicht mitgebracht hatte.

„Hast du das Geschirr stehenlassen?“, fragte sie.

„Das steht noch oben. Er hat die Suppe gar nicht gebraucht, denn er wird nie mehr eine essen.“

„Was?“, fiel sie ein. „Ist er endlich tot?“

„Ja. Er muss ganz ruhig eingeschlafen sein.“

„Gott sei Dank!“, rief Anna aus.

„Ja, Gott sei Dank!“, stimmte der gefühllose Sohn zu. „Nun bin ich Herr im Haus! Aber – hat er dir etwas von der alten Uhr gesagt?“

„Sie lag im Zigarrenkasten bei dem Gesangbuch.“

„Da ist sie nicht mehr.“

„Der Alte kann sie doch schlecht versteckt haben, der konnte sich ja kaum noch rühren.“

„Komm, wir wollen nach ihr suchen!“

Das wollte der Frau gar nicht gefallen.

„Suchen? Ich soll mit hinauf? Zu der Leiche? Und jetzt bei Dunkelheit? Fällt mir gar nicht ein! Ich fürchte mich!“

Kurt Heider ließ ein verächtliches Lachen hören.

„Unsinn! Kein Toter tut einem etwas! Übrigens können wir ihn nicht so liegen lassen. Wir müssen den Tod melden. Der Tischler wird kommen, Maß für den Sarg zu nehmen, auch die Leichenfrau und der Totengräber. Wenn sie ihn in diesem Schmutz finden, gibt es nur Gerede, das uns schaden kann. Wir nehmen die Lappen weg, auf denen er liegt, und legen besseres Bettzeug hinein. Das ist sehr nötig.“

„Hm!“, meinte seine Frau nachdenklich. „Da hast du Recht.“

Sie stiegen hinauf und hoben, so sehr die Frau sich auch ekelte, die Leiche aus dem Bett, um ein besseres Lager zurechtzumachen. Dann wurde der Tote wieder hineingelegt. Als sie damit fertig waren, begann der Mann abermals nach der Uhr zu suchen.

„Das ist doch sonderbar!“, sagte er. „Ich weiß ganz genau, dass sie gestern noch da war. Doch halt! Es könnte ja jemand hier gewesen sein. Vielleicht hat sich irgendein Strolch eingeschlichen. Es gibt Bettler und Hausierer, die sich – – was hast du denn?“

Sie hatte einen halblauten Ruf des Erstaunens ausgestoßen.

„Vielleicht weiß ich, wer der Spitzbube ist!“, murmelte sie erschrocken.

„So? Wer denn?“

„Der Wilhelm Heilmann.“

Kurt schüttelte den Kopf.

„Der Heilmann? Unsinn! Der sitzt ja im Zuchthaus!“

„Nein, er ist wieder frei und war heute hier!“

„Was?“ Kurt Heider ballte die Fäuste und starrte seine Frau wütend an. „Und du sagst mir nichts? Weib, dein früherer Anbeter besucht dich heimlich? Ich schlage dir alle Knochen im Leib entzwei! Gleich gestehst du, was er gewollt hat!“

„Na, sei nur nicht gar so patzig! Mit einem Zuchthäusler brauchst du mich doch nicht zusammenzubringen, da kennst du mich schlecht!“

„Er ist aber doch dagewesen!“, rief Kurt aus. „Was hatte er denn hier zu suchen?“

„Heute ist er freigelassen worden und wollte zu dem Alten da, der ja sein Pate war. Er dachte, dieser habe das Geschäft noch, und wollte Arbeit von ihm haben. So hat er es mir jedenfalls gesagt.“

Kurt blickte sie eifersüchtig an, dann stieß er hervor:

„Erzähl mir doch keine Märchen! Zu dir wollte er, zu dir und zu keinem anderen! Aber ich werde es ihm heimzahlen und dir sage ich auch etwas: wenn du ihn noch einmal hier einlässt, dann...“

Blind vor Wut und Eifersucht packte er sie und schüttelte sie so heftig, dass sie am ganzen Leib zitterte. Freilich waren solche Wutausbrüche bei ihm nicht selten. Anna hatte sie früher für leidenschaftliche Beweise seiner Liebe gehalten, war aber bald eines Besseren belehrt worden. Nachdem der immer gleichmäßig freundliche Heilmann als gemeiner Dieb entlarvt wurde, hatte sie nur allzu gern den leidenschaftlichen Werbungen Kurt Heiders nachgegeben, doch heute wusste sie, dass sie einen völlig unbeherrschten Mann geheiratet hatte.

„Beruhige dich!“, rief sie. „Hast du immer noch deine lächerliche Angst vor Wilhelm?“

Kurt ließ von ihr ab und ging aufgeregt hin und her. Schließlich blieb er stehen.

„Nun gut, wenn sein Besuch denn wirklich so harmlos und zufällig war, wie du sagst – warum hast du ihn mir verschwiegen?“

Anna lächelte grimmig.

„Du warst nicht zu Hause. Als du endlich kamst, hattest du so schlechte Laune, dass ich lieber warten wollte bis morgen. Ich hatte ihn gleich fortgeschickt und er war scheinbar auch gegangen. Später aber traf ich ihn wieder im Hausflur. Ich fragte ihn, was er hier zu suchen habe. Er sagte, er sei oben beim Alten gewesen, und wurde sofort grob. Wir ließen den Paten verfaulen und verhungern, rief er, wir sollten uns mehr um ihn kümmern!“

Heider ballte die Fäuste.

„Dieser freche Kerl! Das soll er mir büßen! Also, er ist oben gewesen und hat sich später heimlich fortschleichen wollen. Und jetzt ist die Uhr weg! Wenn das nicht klar und deutlich ist! Gleich gehe ich zur Polizei! Hat er nicht gesagt, wir ließen den Vater verfaulen und verhungern? Das muss bestraft werden!“

Sie widersprach nicht, es hätte auch nichts genützt.


*


Wilhelm Heilmann saß in der Herberge. Er hatte sich für einige Kreuzer Kartoffeln und einen Hering geben lassen und verzehrte eben sein frugales Abendbrot, als zwei Gendarmen eintraten. Sie sahen sich in der Stube um, die voller Handwerksburschen war, gewahrten Heilmann und kamen auf ihn zu.

„Haben wir uns nicht heute schon einmal gesehen?“, fragte der eine.

„Wahrscheinlich“, antwortete er zwar höflich, aber gleichmütig. „Sie werden mich wohl wiedererkennen.“

Er glaubte, es handle sich nur um die obligatorische Kontrolle, ob er sich wirklich in der Herberge befände. Er stand ja unter Aufsicht.

„Sie sind der Buchbinder Heilmann und wollen heute hier schlafen?“

„Ja.“

„Wo haben Sie Ihr Eigentum, Ihr Gepäck?“

„Ich habe kein Gepäck. Ich trage alles, was mir gehört, in den Taschen bei mir.“

„So lassen Sie uns sehen, was Sie besitzen!“

Das hatte er nicht erwartet.

„Aber, meine Herren“, fragte Wilhelm erstaunt, „geht ihre Befugnis denn wirklich so weit? Glauben Sie etwa, weil ich heute entlassen worden bin, muss ich auch sofort stehlen?“

Der andere Gendarm blickte Heilmann streng an.

„Wir werden sehen, was wir zu glauben haben. Leeren Sie Ihre Taschen!“

Er sah ein, dass er gehorchen musste. Es bildete sich ein Kreis von Zuschauern um den Tisch. Das erbitterte ihn so, dass er vor Zorn hätte weinen können. Er sagte dennoch im ruhigen Ton:

„Ich werde tun, was Sie befehlen, aber ich will mich später erkundigen, ob Sie nicht zu weit gegangen sind. Hier!“

Er zog die wenigen Gegenstände, die er bei sich trug, aus den Taschen und legte sie auf den Tisch. Die Uhr des Paten war auch dabei. Die Gendarmen wechselten einen Blick miteinander und dann sagte der eine:

„Es genügt! Stecken Sie die Dinge wieder ein!“

Heilmann tat es und fragte beinahe ein wenig spöttisch:

„Nun darf ich wohl weiteressen?“

„Nein, Sie werden jetzt mit uns gehen, Herr Heilmann! Sie sind unser Gefangener.“

Der junge Buchbinder wurde leichenblass.

„Sie arretieren mich? Mein Gott! Ich kann nicht begreifen, warum! Ich bin mir keiner strafbaren Handlung bewusst. Hängt das denn mit dem Umstand zusammen, dass ich unter Polizeiaufsicht stehe?“

„Nein. Sie sind angezeigt.“

„Weshalb?“

„Das werden Sie nachher hören.“

„Nun gut, das beruhigt mich. Ich habe nichts Unrechtes begangen und kann getrost mit Ihnen gehen. Kommen Sie, meine Herren! Ich bin überzeugt, dass es sich nur um einen Irrtum handelt.“

Sie nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn fort. Als sie auf die Straße traten, kam ihnen ein nicht mehr ganz junger Mann entgegen, der erstaunt stehenblieb und sie aufmerksam beobachtete. Im Polizeigebäude angekommen, wurde Heilmann in dasselbe Zimmer geführt, in dem er noch am Morgen mit Kommissar Anders gesprochen hatte. Dieser war noch anwesend, obgleich die eigentliche Arbeitszeit vorüber war. Heilmann grüßte höflich. Der Kommissar achtete nicht darauf und fragte nur kurz die Gendarmen:

„Gefunden?“

„Ja!“

Er gab ihnen einen Wink und sie verließen das Zimmer. Jetzt wendete er sich dem Buchbinder zu. Er musterte ihn mit finsteren Blicken, schüttelte den Kopf und sagte dann:

„Unbegreifliche Menschen, die es auf dieser Erde gibt! Man möchte allen Glauben an die Menschheit verlieren! Wie lange ist es wohl her, dass Sie mir versprachen, ich würde mit Ihnen zufrieden sein können?“

„Das war heute Morgen, Herr Kommissar.“

„Heute morgen, ja! Und jetzt? Glauben Sie wohl, dass ich mit Ihnen zufrieden bin?“

Heilmann wurde blutrot.

„Warum sollten Sie nicht mit mir zufrieden sein, Herr Kommissar?“, fragte er hilflos.

„Warum?“, wiederholte der Kommissar grimmig. „Das werden Sie ja sehen! Leeren Sie Ihre Taschen!“

Heilmann gehorchte. Der Kommissar betrachtete die Gegenstände und klingelte dann. Auf dieses Zeichen trat eine Person ein, die Heilmann nicht erwartet hätte, sein ärgster Feind Kurt Heider.

„Treten Sie näher!“, sagte der Kommissar zu ihm. „Sehen Sie sich die Uhr an! Ist es die Ihrige?“

Der Buchbinder betrachtete die Uhr und antwortete:

„Ja, sie ist es.“

„Sie selbst haben ihn nicht in Ihrem Haus gesehen?“

„Nein. Meine Frau hat mit ihm zweimal gesprochen. Er war ganz erschrocken, als sie ihn beim Fortschleichen ertappte.“

„Schön! Jetzt Sie, Heilmann! Wem gehört diese Uhr?“

„Mir!“

Der Kommissar lächelte sarkastisch.

„Wie ist sie denn in Ihren Besitz gekommen?“

„Ich habe sie von meinem Paten, dem Vater dieses Mannes, gekauft.“

„Wie viel haben Sie dafür bezahlt?“, fragte der Kommissar.

„Zwei Gulden.“

„Wenn Sie annehmen, bei mir Glauben für diese Ausrede zu finden, so irren Sie sich!“, rief der Kommissar böse.

„Ich bitte den Herrn Kommissar dringend, den Vorgang erzählen zu dürfen“, sagte Heilmann ernst.

„Gut, erzählen Sie!“

Heilmann berichtete über sein heutiges Erlebnis. Er versäumte es auch nicht, seine erste Verurteilung zu erwähnen, damit der Kommissar das heutige Geschehen besser beurteilen konnte. Der Beamte hörte ihm aufmerksam zu und sagte, als er geendet hatte:

„Das klingt so, dass man versucht wäre es zu glauben.“

„Mein Pate kann es mir bezeugen!“

„Der ist unterdessen gestorben.“

Wilhelm stockte, dann schlug er die Hände vor das Gesicht und stieß hervor:

„Der Pate – gestorben! O Gott!“

Der Kommissar begann Mitleid mit ihm zu fühlen. Er sagte:

„Fassen Sie sich, Herr Heilmann. Die Wahrheit wird schon an den Tag kommen. Sie haben die Uhr also bezahlt?“

„Ja. Man muss die zwei Gulden in einem Zigarrenkästchen gefunden haben!“

Kommissar Anders wandte sich nun wieder an Kurt Heider:

„Stimmt das, Herr Heider? Haben Sie das Geld gefunden?“

„Es lag kein Kreuzer in dem Kästchen“, versetzte Heider fest.

„Überlegen Sie sehr wohl, was Sie sagen! Ihre Aussage ist von besonderer Bedeutung“, drängte ihn der Kommissar.

„Ich kann beschwören, was ich sage!“, behauptete Heider trotzig.

Der Kommissar zuckte mit den Achseln und fuhr fort:

„Das, was Heilmann erzählt, ist allerdings für Sie höchst belastend. Sie haben Ihren Vater hungern lassen?“

„Das ist die größte Lüge, die es geben kann.“

„Er hat im halb verfaulten Bett gelegen?“

Heider wurde blutrot und protestierte.

„Ich muss bitten das Bett untersuchen zu lassen!“

„Das werde ich allerdings tun. Ich werde auch bei Bäcker, Fleischer und Kaufmann anfragen lassen, ob Heilmann bei ihnen gewesen ist.“

„Sie werden meine Aussage bestätigen!“, sagte dieser.

„Das mag sein. Es wäre aber immerhin möglich, dass Sie die Esswaren nur für sich gekauft haben. Ihr Pate, den Sie als einzigen Entlastungszeugen benennen, ist tot. Die anderen Aussagen sprechen gegen Sie. Ich muss mich Ihrer Person versichern und die Angelegenheit dem Untersuchungsrichter übergeben!“

„Herrgott!“, rief Heilmann erschrocken. „Aber ich bin unschuldig!“

„Das wird die Untersuchung ergeben. Ich sollte Sie aber darauf aufmerksam machen, dass die Uhr fast gar keinen Wert besitzt, die Strafe also nicht sehr hoch bemessen werden kann. Dazu aber kommt, falls Sie für schuldig erklärt werden, eine zusätzliche Bestrafung, weil Sie rückfällig geworden sind, und das bedeutet mindestens ein Jahr!“

„Herr Kommissar, ich kann nur versichern, dass ich abermals unschuldig bin!“, schrie Heilmann auf. „Werde ich wieder verurteilt, so kann es keinen gerechten Richter mehr geben. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich habe mich dem alten Paten gegenüber als mitfühlender Mensch benommen. Wird mir dies mit abermaliger Zuchthausstrafe vergolten, so – – ah, ich will lieber still sein. Je unglücklicher ich bin, desto größer ist ja die Freude dessen, dem ich das alles zu verdanken habe.“

Der Beamte sagte ruhig:

„Sind Sie wirklich unschuldig, so wäre es falsch zu verzweifeln. Sie erhalten Gelegenheit, sich zu verteidigen. Jetzt aber werde ich Sie abführen lassen. Ich hoffe, dass Sie sich ruhig in Ihr Schicksal fügen, anstatt es durch Widerstand noch zu verschlimmern!“

Der Kommissar klingelte und Heilmann wurde in eine Zelle des Polizeigefängnisses gebracht. Er hatte nicht einmal einen vollen Tag die wiedererlangte Freiheit genossen.

Der verlorene Sohn

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