Читать книгу Der verlorene Sohn - Karl May - Страница 8

3. Helfer in der Not

Оглавление

Als Wilhelm Heilmann unter Polizeibedeckung in die Gendarmerie abgeführt wurde, war ihm auf der Straße ein Herr begegnet, der dem ehemaligen Buchbindergesellen lange nachgeblickt hatte und schließlich der Gruppe gefolgt war. Er schien ein ganz besonderes Interesse an dem zu haben, was im Polizeigebäude vor sich ging, denn er hatte sich in eine Ecke gestellt, von der aus man das Eingangstor gut beobachten konnte. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Endlich öffnete sich die Pforte und ein Mann trat heraus, der durchaus keinen freundlichen Eindruck machte; sein derbes Gesicht verriet Schadenfreude und hämischen Triumph. Dieser Mann schaute nicht rechts und nicht links und machte sich auf den Weg, ohne den Beobachter in dessen Mauerwinkel wahrzunehmen. Damit begann eine seltsame Jagd; denn der Beobachter setzte sich weiterhin unbemerkt auf die Spur des anderen, durch mehrere Gassen und über kleine Plätze bis hin in die Vorstadt, wo der Mann hinter einer Ladentür verschwand. Der Verfolger schlenderte an dem Laden vorüber und sah dabei das Schild an der Tür: ‚Thomas Heider, Buchbinder‘.

Nach einigen Metern blieb der Herr stehen, schüttelte wie unwillig den Kopf und ging auf die andere Straßenseite, um denselben Weg wieder in umgekehrter Richtung zurückzulegen. Am Polizeigebäude angelangt, dachte er einen Augenblick nach und trat dann forsch auf das Tor zu, das sich auf ein Klingelzeichen öffnete.

Der Kommissar war gerade im Begriff, das Arbeitszimmer zu verlassen, da trat ein Polizist ein.

„Verzeihung, Herr Kommissar“, sagte er, „da ist ein Fremder, der Sie unbedingt sprechen möchte.“

Der Kommissar runzelte die Stirn. „Jetzt, nach Dienstschluss?“

Der Polizeibeamte schüttelte leicht den Kopf.

„Es soll sehr dringend sein“, gab er zu bedenken. „Diese Karte gab mir der Mann als Legitimation.“

Damit überreichte er dem Kommissar ein kleines Kärtchen, auf dem in gotischer Schrift der Name ‚Franz Arndt, Detektiv‘ geschrieben stand. Der Kommissar hatte es erst nur flüchtig und unwillig betrachtet, als er aber den Namen ‚Arndt‘ las, ging es wie ein Ruck durch seine hagere Gestalt.

„Arndt?“, fragte er rasch. „Lassen Sie ihn sofort eintreten!“

Der Gendarm gehorchte und wenige Augenblicke später trat der geheimnisvolle Mann ein, der eben noch dem Buchbinder Kurt Heider bis zu dessen Wohnung gefolgt war. Der Kommissar eilte auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.

„Herr Arndt! Welche Freude! Seit der Geschichte, bei der Sie damals das berüchtigte ‚Buschgespenst‘ zur Strecke brachten[2], habe ich Sie nicht mehr gesehen. Es hieß, Sie hätten den Polizeidienst verlassen?“ Dabei schaute er Arndt fragend an.

Dieser zögerte einen Moment, fasste sich aber schnell und sagte:

„Ja, ich kaufte dem Baron von Wildstein das Bergwerk bei Hohenthal ab, um mich selbst um die Bergleute meiner Heimat zu kümmern. Später – – später aber kehrte ich wieder zur Geheimpolizei zurück. Zurzeit bin ich einer großen Sache auf der Spur.“

Der Kommissar blickte Arndt ungläubig an. Gerne hätte er noch weiter nach Arndts persönlichen Verhältnissen gefragt, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er den Geheimpolizisten lieber nicht drängen sollte, Dinge zu erzählen, die ihm unangenehm zu sein schienen. Arndt war ihm persönlich bekannt, doch war diese Bekanntschaft nicht so eng, dass Kommissar Anders allzu persönliche Fragen an sein Gegenüber hätte richten dürfen. Arndt war ein Mann in den Vierzigern mit energischen Gesichtszügen und einem gewinnenden Wesen. Er sah jünger aus, als er tatsächlich war. Doch galt er nicht nur in Polizeikreisen als Einzelgänger, ja als Sonderling. So verzichtete Anders auf weitere diesbezügliche Fragen, bot Arndt einen Platz an seinem Schreibtisch an und setzte dann das Gespräch fort:

„Eine große Sache? Hier bei uns? Nichts für ungut, Herr Arndt, aber seit wir uns vor einigen Jahren, als Sie noch dem ‚Buschgespenst‘ auf den Fersen waren, hier kennenlernten, hat sich wenig Abenteuerliches in meinem Dienst ereignet. Die großen Verbrechen fallen nun einmal nicht in meine Zuständigkeit. Ein paar Diebstähle, Raufereien, auch einmal ein Einbruch – viel mehr habe ich nicht aufzuklären.“

Arndt lächelte.

„Vielleicht stellen Sie sich das Leben eines Geheimpolizisten allzu dramatisch vor“, gab er zu bedenken. „So verhält es sich freilich nicht immer, auch wenn ich es jetzt mit einem ganz verzwickten Fall zu tun habe. Es geht um – – Menschen- oder besser gesagt Mädchenhandel!“

Der Kommissar ließ einen halblauten Pfiff hören. „Mädchenhandel hier in der Residenz? Donnerwetter! Das wäre...“

Arndt nickte energisch.

„Wir haben tatsächlich den Verdacht, dass in der Residenz Mädchenhändler ihrem schmutzigen Handwerk nachgehen. Seit einiger Zeit werden immer häufiger junge Mädchen, die als Wirtschafterin oder Haushälterin gearbeitet haben, als verschwunden gemeldet. Meist handelt es sich um junge, unbedarfte Mädchen vom Lande, denen ein Lockvogel, oft ein seriöser, älterer Herr, großartige Versprechungen macht, wenn sie nur in einem Damenpensionat als Haushälterin arbeiten wollten. Dieses Pensionat befindet sich in Rollenburg und wird von einem ‚Fräulein Melitta‘ geleitet, einer zwielichtigen Person, die vorgibt, ihre Zöglinge seien junge Künstlerinnen. Jung sind sie freilich, aber mit der Kunst –“, hierbei verzog der Detektiv ironisch das Gesicht, „soll es nicht sehr weit her sein. Bei dieser Melitta verkehren bisweilen junge Offiziere, die sich einen netten Abend beim Wein in Damengesellschaft machen wollen. Das alles ist wohl nicht gegen das Gesetz; wenn allerdings unter den Damen auch welche sind, die nicht ganz freiwillig zu Fräulein Melitta kamen, so...“

„...sieht die Sache schon anders aus“, ergänzte der Kommissar grimmig. „Verstehe vollkommen, worauf Sie hinauswollen! Kann man das saubere Nest nicht einfach ausheben?“

Arndt zuckte die Achseln.

„Beweise, mein lieber Kommissar, wir brauchen Beweise“, entgegnete er. „Solange wir der Melitta nichts schlüssig beweisen können, bleibt ihr Haus ein anständiges Damenpensionat und sie eine ehrenwerte Frau. So ist das nun einmal! Finden wir allerdings bei ihr eins der Mädchen, die nach Rollenburg gelockt wurden, ist ihr Spiel aus. Aber wie soll man das anstellen? In ihre Villa können wir nicht eindringen, das wäre Hausfriedensbruch. Also dachte ich mir, wir beginnen bei den Lockvögeln hier in der Residenz, den ‚Ehrenmännern‘ mit den schmutzigen Geschäften. Nun kenne ich keinen, der die zwielichtigen Subjekte der Hauptstadt so genau beobachtet wie Sie.“

„Zu viel der Ehre“, lächelte der Kommissar. „Man kennt freilich seine Leute, das ist wahr. Die wirklichen Schufte bleiben meist, wie Sie wissen, ungehängt und laufen immer noch frei herum.“

Arndt nickte und fügte hinzu:

„Wir haben einen Mann in Verdacht, der wohl hier in der Residenz wohnt und einige der verschwundenen Mädchen angesprochen haben soll. Er heißt angeblich Uhland und gibt sich als vermögender Mann aus. Kennen Sie ihn?“

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

„Nein, der Name sagt mir nichts. Nun lassen sich Namen ja ändern. Wissen Sie etwas mehr über seine Lebensverhältnisse, seine Gewohnheiten und seinen Umgang?“

„Nicht das Geringste“, räumte Arndt ein, „außer dass er in verschiedenen Weinstuben der Residenz gesehen worden ist, zuletzt noch bei Winkelmann.“

„Bei Winkelmann?“ Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch. „Dort verkehrt doch unsere ganze Prominenz! Sie werden die Staatsanwälte und Gerichtsräte da genauso häufig antreffen wie den Herrn Polizeipräsidenten und Seine Exzellenz, den Minister des Innern. Ich glaube kaum, dass ein Mädchenhändler sich ein solches Lokal zum Mädchenfang aussuchen wird.“

„Warum nicht?“, fragte Arndt lebhaft. „Gerade dort fällt man nicht auf. Aber wie kommen wir diesem Uhland auf die Spur?“

Der Kommissar machte ein hilfloses Gesicht.

„Lieber Herr Arndt“, meinte er nach einer längeren Pause, „da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Ich gebe es ungern zu, aber die täglichen Kleinigkeiten beschäftigen unsereins in einem Maße, das ein Außenstehender kaum gerecht beurteilen kann. Heute etwa habe ich mich mit einem vertrackten Fall herumzuschlagen. Da wird ein wegen Diebstahls verurteilter junger Mann nach zwei Jahren aus dem Zuchthaus entlassen und kommt hierher. Er steht unter Polizeiaufsicht, macht aber einen so guten Eindruck auf mich, dass ich mir schon vorgenommen hatte, ihn so milde wie möglich zu behandeln. Und was geschieht? Es vergeht kein ganzer Tag und schon wird er angezeigt, weil er im Hause seines alten Paten eine Uhr gestohlen haben soll. Ich lasse ihn arretieren; er schwört Stein und Bein, unschuldig zu sein. Sein Pate habe ihm die Uhr verkauft, beteuert er. Leider ist der Pate inzwischen verstorben und kann nichts mehr bezeugen. Dass es so etwas tatsächlich gibt! Ich hätte geschworen, dass der junge Mann im Grunde ein anständiger Kerl ist, aber die Indizien sprechen gegen ihn.“

Arndt hatte dem Kommissar mit wachsendem Interesse zugehört. Schließlich sagte er:

„Verzeihung, Herr Kommissar, aber ist das derselbe junge Mann, der vor einer Dreiviertelstunde von zwei Gendarmen in dieses Gebäude gebracht wurde?“

Der Kommissar blickte ihn verdutzt an.

„Woher wissen Sie das? Potztausend, Sie haben Ihre Augen aber überall! Jetzt sagen Sie nur noch, dass Sie hier vor dem Tor bereits Untersuchungen angestellt haben?“

Arndt lächelte.

„Untersuchungen nicht, aber ich habe gute Augen. Vor einer halben Stunde etwa verließ ein anderer Mann das Gebäude, breitschultrig, schwarzhaarig und mit einem Gesichtsausdruck, dass er die personifizierte Schadenfreude selbst hätte sein können. Wer war das?“

„Der Buchbinder Heider, Sohn des alten Paten und Hauptbelastungszeuge“, sagte der Kommissar. „Wenn Sie sich so dafür interessieren, werde ich Ihnen die Vorgeschichte des Falles erzählen, so wie sie mir Wilhelm Heilmann dargestellt hat, versteht sich.“

Die Erzählung dauerte eine Weile. Als der Kommissar geendet hatte, lehnte er sich zurück und erwartete Arndts Kommentar. Dieser war während des Berichts nachdenklich geworden. Er sagte vorsichtig:

„Welch seltsame Geschichte! Fast wäre man versucht, diesem Heilmann zu glauben!“

„Ja, fast“, stimmte der Kommissar zu. „Und doch ist Heilmanns Lage praktisch aussichtslos. Wenn Bäcker, Fleischer und Kaufmann seine Aussagen bestätigen, so bedeutet das noch nicht, dass Brot, Wurst und Schnaps für den Paten gedacht waren. Wenn die Heiders aber lügen, den Alten wirklich haben darben lassen, so werden sie sich hüten, uns das auf die Nase zu binden. Sie haben bestimmt das Lager gewechselt, bevor die Leichenfrau gekommen ist. Nein, nein, Heilmann hat keine guten Karten. Wenn sich doch wenigstens die zwei Gulden gefunden hätten!“

„Die könnte Heider fortgenommen haben“, fiel Arndt ein. „Aber mir ist die ganze Geschichte nicht recht geheuer. Heilmann behauptet, Heider habe damals bewusst den Verdacht auf seine Person gelenkt, indem er das Geld in die Lade legte. Warum ist aber der Goldbecher gestohlen worden? Der Dieb konnte ihn doch nicht so einfach verkaufen, denn seine Beschreibung ging durch alle Zeitungen. Wenn es Heider aber nur darum ging, seinen Nebenbuhler ins Gefängnis zu bringen, weshalb hat er dann das Gefäß nicht auch Heilmann untergeschoben?“

Der Kommissar schaute Arndt versonnen an.

„Inzwischen sind immerhin zwei Jahre vergangen. Vielleicht hat Heider, wenn Heilmanns Geschichte stimmen sollte, eine Zeitlang gewartet, bis er den Becher versilbern konnte? An die genaue Beschreibung des wertvollen Stücks erinnert sich doch heute wohl keiner mehr und für die Polizei ist der Fall längst geklärt.“

Arndt nickte.

„Sie können Recht haben. Alles in allem, die Geschichte dieses Heilmann wirkt auf mich doch glaubwürdig. Ich glaube, er ist wirklich unschuldig. Wissen Sie, zufällig wurde ich Zeuge, wie Heilmann von Ihren Männern aus der Gastwirtschaft abgeführt wurde. Einer inneren Stimme folgend, kam ich hierher und habe den Eindruck, als müsse ich einem Unschuldigen in höchster Not helfen.“

Der Kommissar zuckte die Achseln.

„Was nützt das alles?“, gab er zu bedenken. „Was uns fehlt, sind Beweise. Ohne Beweise können wir nichts ausrichten.“

„Und diese Beweise werde ich finden!“, rief Arndt aus. „Herr Kommissar, was ist dieser Heider für ein Mensch? Kennen Sie ihn näher?“

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

„Kennen ist zu viel gesagt“, antwortete er. „Er gilt als jähzornig und unberechenbar, trinkt gern mehr, als er vertragen kann. Aber was haben Sie vor? Sie wollen doch nicht etwa auf eigene Faust in die Untersuchung eingreifen?“

„Stören werde ich Sie nicht“, beruhigte ihn Arndt. „Lassen Sie mir ein wenig freie Hand?“

„Solange es unter uns bleibt, ja“, sagte der Kommissar erstaunt. „Und der Mädchenhändler?“

„Läuft uns nicht davon!“, meinte Arndt bestimmt. „Meine Leute sind ihm auf den Fersen. Darf ich jetzt mit Heilmann sprechen?“

Der Kommissar stimmte zu.

„Er befindet sich in Polizeigewahrsam und wird morgen in das Untersuchungsgefängnis gebracht. Wir gehen am besten direkt zu ihm, bevor der Wärter das Licht löscht.“

Mit diesen Worten griff er Hut, Stock und Mantel und schritt voran. Sie gingen einen langen Flur hindurch, bis sie den Zellentrakt erreichten. Dort öffnete der Kommissar mit seinem Schlüssel eine bestimmte Zelle, in die Arndt eintrat. Der Kommissar zog sich diskret zurück. Nach einer halben Stunde verließ Arndt in angeregtem Gespräch mit Kommissar Anders das Polizeigebäude und verabschiedete sich von dem hilfsbereiten Beamten.


*


Es war noch am gleichen Abend. Ein unauffälliger, einfach gekleideter Bursche wandelte zum wiederholten Male gemächlich die Gasse herunter, in der das Haus des Buchbinders Heider lag. Als der Mann am Laden vorbeiging, öffnete sich die Tür und Kurt Heider trat heraus. Ohne sich umzuschauen, lief er mit sichtlicher Hast an den Häusern entlang. Der andere Mann blieb einen Augenblick stehen und schaute ihm nach. „Endlich!“, murmelte er. „Das hat ja eine Ewigkeit gedauert.“

Ohne Zögern folgte er dem Buchbinder und sah ihn nach kurzer Zeit in einer Schenke verschwinden. Der Verfolger besann sich nicht lang und trat auch ein. Im Gastraum saßen zwei Männer an einem Ecktisch, sonst war das Wirtshaus mäßig gefüllt. Kurt Heider wurde mit lautem Hallo und heftigen Vorwürfen empfangen.

„Na, Kurt, wir warten schon ’ne geschlagene Stunde auf dich! Erst bestellst du uns einfach mitten in der Woche zum Skat und dann kommst du erst jetzt!“, rief der eine ärgerlich.

„Ach was“, lachte Kurt Heider mit wegwerfender Geste. „Jetzt bin ich hier, also los! Aber eins sage ich euch: Heute spielen wir nicht um ein paar Kreuzer! Heute gehe ich aufs Ganze!“

Bald war das Spiel in vollem Gang und die drei Skatbrüder bemerkten in ihrem Eifer gar nicht, dass gegenüber ein anderer Gast Platz genommen hatte und ihnen aufmerksam zusah. Kurt Heider war in bester Laune. Sein Triumph über den verhassten Rivalen machte ihn leichtsinnig. Er goss ein Bier nach dem anderen hinunter. Am Anfang hatte er ein gutes Blatt, das machte ihn unvorsichtig. Er wagte immer mehr und bald wanderte ein Gulden nach dem anderen in die Taschen seiner Mitspieler. Statt nun aufzupassen, suchte er sein Glück auch mit ungünstigen Karten zurückzuzwingen. So nahm das Spiel seinen Lauf. Heider stieg das Blut in den Kopf, er schlug mit der Faust auf den Tisch und schwor, dass er das Spiel schon gewinnen werde, solle es ihn auch Haus und Hof kosten. Die Uhr schlug zehn und jetzt schien das Glück Kurt Heider gänzlich im Stich zu lassen. Seine Barschaft war nicht nur längst aufgebraucht, er hatte sogar erhebliche Schulden bei den Mitspielern. Aus Rücksicht wollten diese aufhören und sagten die letzten Runden an, aber das brachte Heider gänzlich außer Fassung. Er beschuldigte seine Spielgenossen der Gewinnsucht und der Feigheit, und so nahm das Spiel unter hässlichen Flüchen und Streitereien seinen Fortgang.

Gegen Mitternacht stand es schlimm um Heider.

„Jetzt reicht’s!“, rief einer der Spieler. „Du hast keinen guten Tag heute, Kurt! Wie steht’s denn mit dem Bezahlen? Schuldest du mir nicht noch vom letzten Mal her Geld?“

„Ja“, rief der andere, „und mir bist du schon seit einigen Wochen über fünfzig Gulden schuldig geblieben! Wann zahlst du endlich? Ich meine, unsere Freundschaft in allen Ehren, aber du hast es doch nur dir selber zuzuschreiben! Warum spielst du auch so unvorsichtig und leistest dir teure Passionen? Ein Pferd wolltest du dir schon kaufen, und jetzt? Bezahl erst einmal deine Schulden!“

„Wir wollen endlich Geld sehen!“, rief der eine. „Wann bezahlst du uns?“

Kurt Heider wusste kaum, was er sagen sollte. Der Rausch des Spiels war verflogen, nun kam die Ernüchterung und er musste sich fragen, woher er die verlorene Summe nehmen konnte. Zwanzig Gulden hatte er heute verspielt; so viel hat man nicht jederzeit in der Kasse liegen, besonders wenn es nebenher noch einige ‚Liebhabereien‘ gab, die viel Geld kosteten. Und dazu der Todesfall im Haus! Zwar war Kurt die letzte Zeit seinem Vater gegenüber geizig gewesen, doch jetzt durfte er sich nicht lumpen lassen, wo es galt, ihn zu Grabe zu tragen. Wie sollte er aber die anderen Schulden bezahlen? Die zwei Gulden, die er seinem Vater aus der Zigarrenkiste genommen hatte, waren ohne Wiederkehr fort, und was bedeuteten denn auch zwei Gulden, verglichen mit der Summe, die er den ‚Genossen‘ schuldete. Da kam ihm plötzlich ein verzweifelter Gedanke. Rasch sagte er:

„Warum regt ihr euch so auf? Ich werde euch bezahlen, aber nicht heute. Mein Vater ist gestorben und muss anständig begraben werden. Dann aber werde ich ein kostbares Erbstück verkaufen und euch den Erlös geben. Freilich ist die Arbeit veraltet, doch wenn das Ding ein wenig umgearbeitet wird...“

„Mach was du willst“, knurrte der eine Skatfreund mürrisch, „aber beschaff bald das Geld! Und nun gute Nacht!“

Damit nahm er seinen Hut vom Haken und entfernte sich. Auch der andere Mann machte Heider ähnliche Vorhaltungen wegen der Spielschulden und ging schließlich. Nun war Kurt Heider mit dem Wirt allein in der Gaststube. Allein? Nein, am Nebentisch saß ja noch ein fremder Gast, der in einer Zeitung las. In Wirklichkeit wäre Arndt, denn er war der Fremde, vor Erregung fast aufgesprungen. Ein wertvolles Erbstück! Konnte das nicht der gesuchte Goldbecher sein, dessen Diebstahl Heilmann vor zwei Jahren zur Last gelegt worden war? Und umarbeiten lassen wollte Heider den Becher – natürlich, denn man hätte ihn ja doch vielleicht wiedererkennen können. Die drängenden Schulden und sein betrunkener Zustand schienen Heider unvorsichtig zu machen. Der Detektiv musste die Gunst der Stunde unbedingt nutzen. Einstweilen beschränkte er sich jedoch darauf, hinter seiner Zeitung verschanzt, die weiteren Reaktionen Heiders abzuwarten.

Kurt Heider hing in seinem Stuhl und starrte vor sich hin. Die Gesellschaft seiner Skatbrüder hatte ihn nicht zur Besinnung kommen lassen. Nun aber war er mit seinen trüben Gedanken allein. Wie sollte er den Becher gefahrlos verkaufen, ohne dass seine Verbrechen zu Tage treten würden? Der Gedanke, dies könne die Strafe für den Diebstahl, die Anzeige gegen den Nebenbuhler und die Denunziation sein, kam ihm zwar, aber er verwarf ihn wieder.

‚Unrecht Gut gedeiht nicht‘? Pah, das waren Sprüche für alte Weiber und abergläubische Männer, nicht aber für ihn. Was musste sich Heilmann ihm auch in den Weg stellen! Hätte er ihm Anna gelassen, so wäre er nicht ins Zuchthaus gewandert! Heider lachte vor sich hin, ein hässliches Lachen.

„Herr Wirt, noch einen Schnaps!“

Der Wirt schüttelte den Kopf. Dennoch brachte er das Verlangte, denn er kannte den Mann als überaus jähzornig. Dabei sagte er:

„Das ist aber der letzte für heute!“

Heider brummte missmutig vor sich hin und leerte das Glas in einem Zug. Dabei fiel sein Blick wie zufällig auf den fremden Gast ihm gegenüber. Das munterte ihn auf – eine willkommene Ablenkung nach all dem Pech heute Abend.

„Hallo, ein neues Gesicht!“, rief er dem Fremden gespielt heiter zu. „Sitzen Sie schon lange hier?“

Arndt ließ die Zeitung sinken, dann sagte er betont langsam:

,,Ein paar Stündchen werden’s wohl sein.“

„Dann sind Sie also Zeuge gewesen, wie man mich gerupft hat? Hat Ihnen etwa Spaß gemacht, was?“

Nur zu gern hätte Heider mit dem Fremden einen Streit begonnen, doch der antwortete nur:

„Wüsste nicht, warum. Habe mit mir selbst so viel zu schaffen, dass ich mich um andere nicht bekümmere.“

Irgendwie sagte das kurz angebundene Wesen des Unbekannten Kurt Heider zu, denn er selbst war ja auch nicht bester Laune. Also rief er:

„Holla, Sie sind mir aber ein bärbeißiger Zeitgenosse! Unsereins nimmt es nach dem soundsovielten Krug Bier und einigen Schnäpsen nicht mehr so genau. Sind Sie etwa Uhrmacher, wenn’s bei Ihnen immer so exakt zugehen muss?“

Ein rascher Gedanke schoss Arndt durch den Kopf. Scheinbar ärgerlich sagte er:

„Was geht’s Sie an? Ich bin Goldschmied.“

„Na, so sehen Sie auch aus“, lachte Heider, „nach etwas ganz Besonderem. Bei welchem Meister? Oder sind Sie vielleicht selbst schon ein Meister der Goldschmiedekunst?“

Er hatte die letzten Worte in spöttischem Ton hervorgebracht. Arndt bemerkte das wohl, doch antwortete er ruhig:

„Bei keinem. Man kann mich hier nicht brauchen. Es gibt zu viele Goldschmiedegesellen in dieser Stadt.“

Dabei zuckte er die Achseln. Heider ging ihm prompt in die Falle. Er stand auf und ging an Arndts Tisch, wo er sich vertraulich niederließ.

„Es stört Sie doch nicht, wenn ich mich ein wenig zu Ihnen setze?“, fragte er freundlich. „Es redet sich so besser.“

„Hm! Wenn Sie meinen“, lautete die mürrische Antwort.

„Warum so brummig? Wo haben Sie denn schon gearbeitet?“

„Überall und nirgends“, sagte Arndt kurz. „Ich war drei Jahre auf der Walz in Belgien, Holland und Frankreich.“

Heider lächelte. Das passte ja ganz famos! Wenn der fremde Mann ohnehin im Ausland gewesen war, konnte er von der alten Diebstahlsgeschichte nichts wissen. Rasch fügte er hinzu:

„Und was gedenken Sie jetzt zu tun?“

„Ich suche weiter nach Arbeit“, antwortete der Angesprochene in griesgrämigem Ton.

Heider klopfte ihm auf die Schulter.

„Lieber Mann“, sagte er leutselig, „ich hätte da vielleicht etwas für Sie!“

„So? Sind Sie Goldschmied?“, fragte Arndt erstaunt.

„Nein, ich binde Bücher. Aber ich habe von meinem Vater selig einen goldenen Becher geerbt, eine schöne Arbeit. Nun haben es die Umstände so gefügt, dass ich ihn einfach verkaufen muss. Leider ist er so altertümlich gefertigt, dass man ihn nur unter bestimmten Bedingungen abnehmen will. Könnten Sie die Schnörkel abschleifen?“

Arndt ließ sich nichts anmerken. Also war seine Vermutung richtig gewesen. Heider war tatsächlich der Dieb. Nun musste er den Becher verändern lassen, damit man ihn nicht wiedererkennen konnte. Heider wollte ganz sichergehen. Darum wandte er sich an den vermeintlichen Goldschmiedegesellen um Hilfe, den er gewiss nachher mit einem Hungerlohn würde abspeisen können. Gespielt mürrisch gab Arndt daher zu bedenken:

„Wenn Sie das Stück verkaufen müssen, wovon wollen Sie mich dann bezahlen?“

„Pah! Das findet sich“, sagte Heider rasch. „Man hat mir eine große Summe geboten, von der ich Ihnen gern etwas abgeben werde.“

Im Stillen lachte er vor sich hin, den fremden Vagabunden würde er leicht übers Ohr hauen können.

Arndt schien zu überlegen. Dann sagte er zögernd:

„Aber ich muss den Becher erst einmal sehen!“

„Natürlich“, fiel Heider ein. „Morgen, gleich morgen besuchen Sie mich zu Hause. Dort zeige ich Ihnen das gute Stück.“

Arndt schüttelte den Kopf.

„Morgen passt es mir schlecht“, behauptete er. „Wer weiß, wo ich heute Nacht schlafen kann? Nein, nein, ich gehe jetzt mit Ihnen zu Ihrer Wohnung und schaue mir den Becher dort an.“

Das war Heider gar nicht recht, doch wusste er sich keinen anderen Rat. Widerstrebend willigte er also ein, ließ den Wirt kommen, bat ihn, die Summe anzuschreiben, die er heute Abend schuldig geblieben war, und ging dann mit Arndt durch die einsamen Straßen und Gassen zu seiner Wohnung.

Der Geheimpolizist fühlte sich von einer eigenartigen Spannung ergriffen. Würde es ihm gelingen, den Buchbinder zu entlarven und Heilmanns Unschuld zu beweisen? Auf keinen Fall durfte Kurt Heider jetzt irgendeinen Verdacht schöpfen. Also schwieg Arndt, bis sie den Laden des Buchbinders erreicht hatten. Heider zog einen Schlüssel heraus, öffnete damit die Ladentür und betrat vorsichtig das Haus. Dann drehte er sich zu Arndt um und legte den Finger auf die Lippen:

„Treten Sie ein, aber leise! Meine Frau schläft schon. Warten Sie, bis ich zurückkomme!“

Damit zündete er eine Kerze an und schlich auf Zehenspitzen in das Wohnzimmer. Nach einer Weile kehrte er mit einem schweren Gegenstand zurück, der im matten Kerzenlicht sanft schimmerte. Vorsichtig schloss er mit der einen Hand die Wohnzimmertür und wendete sich dann dem Besucher zu.

„Hier ist der Becher. Sehen Sie sich ihn an, aber mit Vorsicht, wenn ich bitten darf!“

Seit er wusste, dass der Goldschmiedegeselle ihm nützlich werden konnte, verhielt er sich ihm gegenüber höflicher als vorhin in der Wirtschaft. Arndt nahm das ‚Erbstück‘ in die Hand und betrachtete es sorgfältig. Kein Zweifel, das war ein Wertgegenstand, der sicherlich vor etwa hundertfünfzig Jahren von einem guten Meister gefertigt worden war. Arndt dachte scharf nach: Wie hatte Heilmann bei dem Gespräch in der Polizeizelle den Becher beschrieben? Geschmückt mit allerlei Ornamenten, Blumen, Früchten und allegorischen Figuren, unter denen in der Mitte besonders die Gestalt des Riesen Atlas auffiel, der den Globus auf dem Rücken trug. Richtig! Hier war der Atlas deutlich zu erkennen. Nein, es gab keinen Zweifel: Er hielt das verschwundene Gefäß in Händen. Vorsichtig reichte er Heider das kostbare Stück zurück.

„Nun?“, fragte dieser gespannt.

„Hm“, meinte Arndt gedehnt, „ein herrlicher Becher, prächtige Ziselierarbeit aus dem vorigen Jahrhundert. Durch die Umarbeitung wird er aber an Wert verlieren!“

„Ist mir ganz gleich“, versicherte der Buchbinder eifrig. „Der Herr, der kaufen will, besteht auf einer Umarbeitung, und zwar müssen die Schnörkel und Figuren verschwinden!“

„Wie Sie meinen“, sagte Arndt achselzuckend. „Ich werde also die altertümlichen Ornamente zum Teil entfernen und dem Becher eine moderne Form geben. Die notwendigen Werkzeuge habe ich dabei. Gibt es hier in der Nähe eine billige Herberge?“

„Sie können in dem Wirtshaus ‚Zum Roten Löwen‘ übernachten, wo wir uns heute Abend getroffen haben“, meinte Heider, „der Wirt hat stets ein oder zwei Zimmer frei für Leute mit schmalem Geldbeutel. Wenn Sie sich eilen, treffen Sie ihn vielleicht noch in der Gaststube; er pflegt immer erst Ordnung im Schankraum zu schaffen, bevor er zu Bett geht.“

„Gut“, meinte Arndt. „Ich werde dorthin gehen. Wenn Sie morgen kommen und mir das Erbstück bringen, müsste ich in einigen Tagen fertig sein.“

Heider zögerte.

„Ich schenke Ihnen damit großes Vertrauen“, sagte er langsam. „Was ist, wenn Sie...“

„Wenn ich den Becher nicht wiederbringe und mich damit aus dem Staub mache, wollen Sie sagen?“, lachte Arndt ihm glatt ins Gesicht. „Ihr Pech, mein Herr! So viel Vertrauen werden Sie schon in mich setzen müssen. Morgen früh von neun bis zehn warte ich in der Schankstube des Wirtshauses auf Sie. Kommen Sie, dann ist es gut, kommen Sie nicht, haben Sie selbst den Schaden. Adieu!“

Damit öffnete er die Tür und entfernte sich rasch, ohne dem verdutzten Heider noch Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben. Dieser schaute ihm erstaunt nach.

„Impertinenter Kerl!“, brummte er vor sich hin. „Wenn ich nicht auf ihn angewiesen wäre, sollten ihn alle Teufel holen. Aber so...“ Er zog eine Grimasse, schloss den Laden zu und verriegelte die Tür, um sich ins Bett zu begeben.


*


Am nächsten Morgen saß der Kommissar schon früh an seinem Schreibtisch und schrieb einen Bericht über das gestrige Geschehen. Er musste die ihn seltsam bewegenden Ereignisse zu Papier bringen, um Klarheit zu gewinnen. Plötzlich wurde an seine Tür geklopft. Der Kommissar runzelte verärgert die Stirn.

„Herein!“, rief er in strengem Ton.

Ein älterer Gendarm erschien und grüßte ehrerbietig.

„Was gibt’s?“, fragte der Kommissar. „Ich wollte doch eine halbe Stunde ungestört sein!“

„Verzeihung, Herr Kommissar“, sagte sein Untergebener in höflichem Ton, „aber da draußen steht ein seltsamer Kerl, gekleidet wie eine Vogelscheuche, der dringend mit Ihnen sprechen will und Lärm macht für zehn!“

Der Kommissar sprang wütend auf.

„Lärm machen? Das werd’ ich ihm austreiben!“

Damit riss er die Tür auf und schaute in den Flur. Er war leer. Der Kommissar durchschritt ihn und bog um die Ecke. In seiner Eile hätte er fast einen Mann über den Haufen gerannt, der dort stand und wartete. Er hielt einen schäbigen Filzhut in der Hand und war in eine Art Flickengewand gekleidet. Vom Kinn herab hing ihm ein langer, fast weißer Bart, der schmutzig und ungepflegt aussah. Als er Kommissar Anders sah, machte er eine tiefe Verbeugung.

„Jongleur Zwiebel, zu Ihren Diensten, Herr Kommissar!“

Dieser hätte fast laut losgebrüllt, beherrschte sich aber im letzten Moment.

„Zwiebel?“, brachte er mühsam hervor. „Woher kennen Sie mich überhaupt?“

„Oh, der Herr Kommissar kennen mich sehr gut“, sagte der seltsame Fremde in spöttischem Ton und entfernte mit Schwung seinen Kinnbart.

Der Kommissar sprang einen Schritt zurück.

„Herr Arndt!“, rief er aus. „Mensch, sind Sie toll? Ich hatte Sie für einen Vagabunden gehalten!“

„Die Maskerade gehört nun einmal zu meinem Handwerk“, lachte Arndt gutgelaunt. „In meinem derzeitigen Logis bei einer alten Witwe habe ich Kleider und Masken für etliche Verkleidungen im Schrank hängen. Übrigens trete ich hier als Zwiebel auf, um Ihren Herren nicht allzu bekannt zu werden. Inkognito bleiben ist alles in meinem Beruf! Doch lassen wir das jetzt und kommen wir zu wichtigeren Dingen! Sind wir bei Ihnen ungestört?“

„Gehen wir in mein Zimmer“, schlug der Kommissar vor, „dort haben wir Ruhe.“

Fassungslos sah der Gendarm, der damit gerechnet hatte, sein Vorgesetzter werde den Jongleur im hohen Bogen zur Tür hinauswerfen lassen, beide im Arbeitszimmer verschwinden. Dort begann der Kommissar das Gespräch:

„Ich brüte gerade über der Angelegenheit Heilmann. Je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher erscheint mir seine Unschuld.“

„Ich kann Ihnen seit der heutigen Nacht sogar beweisen, dass er unschuldig ist“, bestätigte Arndt ruhig. „Erinnern Sie sich an den verschwundenen Ehrenpokal?“

„O ja“, sagte der Kommissar. „Nach Heilmanns Schilderung eine kostbare Arbeit mit Ornamenten und allegorischen Figuren aus dem 18. Jahrhundert. Hier“ – damit hob er einen Aktenbündel hoch – „sind seine Strafakten mit der genauen Beschreibung, wie sie vor Gericht festgestellt wurde.“

„Umso besser“, meinte Arndt. „Diesen Pokal – – habe ich heute Nacht in meinen eigenen Händen gehalten!“

Der Kommissar sprang auf.

„Wollen Sie mich zum Narren halten?“, rief er aus. „Vor zwei Jahren wurde jeder Winkel der Residenz nach ihm abgesucht und jetzt wollen Sie ihn gesehen haben!“

Arndt lächelte.

„Der Detektiv Zufall ist ein von mir sehr geschätzter Kollege, der schon oft geholfen hat. Aber gemach – wenn ich Ihnen die Geschichte der heutigen Nacht erzähle, werden Sie mir Recht geben.“

Damit begann er seinen Bericht. Der Kommissar hörte gespannt zu. Kaum hatte Arndt geendet, da ergriff der Kommissar seine Hand und drückte sie.

„Gratuliere, Herr Arndt“, sagte er bewegt. „Durch Ihre Entdeckung können wir Heilmanns Unschuld zwingend beweisen. Wäre ich damals der Staatsanwalt gewesen, ich hätte der Beschuldigung des offensichtlichen Nebenbuhlers Heider nicht so ohne Weiteres Glauben geschenkt. Freilich – fast alle diese Geschichten hier erzählen von Armut und Liebe, ausgenommen die Fälle, in die Berufsverbrecher verwickelt sind.“

Dabei wies er mit einer Handbewegung auf die Schränke seines Zimmers, in denen Bände voller Akten standen.

„Sie haben Recht, Herr Kommissar“, stimmte Arndt zu. „Aber nun müssen wir uns beeilen. Es ist schon halb neun, und nach neun treffe ich mich mit Heider im ‚Roten Löwen‘.“

Der Kommissar nickte bedächtig.

„Schade, dass wir keine Zeit mehr haben, den Staatsanwalt ins Vertrauen zu ziehen“, meinte er. „Aber das lässt sich nicht ändern. Kommt Heider nicht um neun, lasse ich bei ihm eine Hausdurchsuchung vornehmen. Der Bursche soll mir nicht entgehen.“

„Recht so, Herr Kommissar! Aber nun muss ich mich umziehen.“ Arndt deutete auf eine schäbige Ledertasche, die er in den Händen trug, und fuhr fort: „Hier befindet sich alles, was ich für meine nächste Verkleidung brauche. Gibt es irgendwo ein Zimmer, wo ich mich umkleiden kann?“

„Gewiss“, sagte der hilfsbereite Beamte. „Folgen Sie mir!“

Damit schritt er Arndt voran. Es währte keine Viertelstunde, da verließ der Handwerksgeselle, der gestern im ‚Roten Löwen‘ gesessen hatte, das Polizeigebäude und setzte seinen Weg in Richtung Vorstadt fort.


*


Die Uhr im ‚Roten Löwen‘ schlug gerade neun Uhr, als der Buchbinder Heider den Schankraum betrat. Im Augenblick befand sich darin nur ein einziger Gast, nämlich der ‚Goldschmiedegeselle‘ Arndt. Er saß an einem Ecktisch und erhob sich bei Heiders Eintritt.

„Da sind Sie ja“, empfing er ihn. „Nach Ihrer nicht gerade liebenswürdigen Bemerkung von gestern darüber, dass ich den Becher auch für mich behalten könnte, dachte ich schon nicht mehr daran, dass Sie mich wirklich aufsuchen würden.“

„Lassen wir das jetzt“, entgegnete Heider rasch, „und sprechen wir über wichtigere Dinge! Wie steht es mit Ihrem Honorar?“

Arndt zog die Augenbrauen hoch.

„Mein Honorar? Nun, ich werde mich genau an den festgesetzten Preis halten.“

Heider runzelte die Stirn und sah ihn fragend an. „Festgesetzten Preis? Gibt es denn so etwas bei den Goldschmieden?“

„Freilich zahlt man meist nach Vereinbarung oder nach dem Wert des betreffenden Stücks, das es umzuarbeiten gilt“, meinte Arndt. „Aber in Ihrem Fall werde ich mich streng an das Gesetz halten.“

Heider wurde blass.

„Wie meinen Sie das?“, stieß er hervor.

„Nun“, sagte Arndt kaltblütig, „Ihr Mitgeselle Heilmann hat zwei Jahre im Zuchthaus verbringen müssen, sodass ich glaube, Sie werden in Ihrem besonderen Fall mit drei Jahren auskommen.“

„Wie? Was?“, stotterte Heider. „Ich fürchte, Sie haben den Verstand verloren!“

„Kaum“, bemerkte Arndt ungerührt. „Aber das wird sich zeigen. Herr Kommissar, bitte, treten Sie ein!“

Bei diesen Worten öffnete sich eine Seitentür, Kommissar Anders betrat den Raum.

„Wir kennen uns bereits“, wandte er sich finster an Heider, „weitere Worte sind also überflüssig. Bitte, zeigen Sie uns den Inhalt Ihrer Taschen!“

„Herr Kommissar, lassen Sie sich erklären...“, brachte der Buchbinder mühsam hervor.

„Keine Erklärungen, nur Tatsachen!“, unterbrach ihn der Kommissar schroff. „Was ist das für ein Gegenstand, den Sie unter dem Mantel tragen?“

„Ein altes Erbstück“, behauptete Heider mit einem Anflug von Dreistigkeit.

„Ein Erbstück?“, fragte der Kommissar ironisch. „Zeigen Sie doch einmal her!“

Es half alles nichts, der Buchbinder musste den verhüllten Becher vorzeigen. Der Kommissar betrachtete ihn eingehend, dann sagte er:

„Das genügt. Herr Heider, ich verhafte Sie wegen Diebstahls, begangen an Ihrem Vater, und wegen wissentlich falscher Anschuldigungen gegen Ihren ehemaligen Mitgesellen Wilhelm Heilmann.“

Der Buchbinder erkannte, dass sein Spiel aus war. Widerstandslos ließ er sich von einigen herbeigeeilten Gendarmen fortbringen.


*


Bald darauf wurde Wilhelm Heilmann aus seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis geführt.

„Kommen Sie mit“, sagte der Schließer kurz, aber nicht unfreundlich, „der Herr Untersuchungsrichter erwartet Sie.“

Heilmann schritt ihm beklommenen Herzens nach. Was würde der Richter ihm zu sagen haben? Die Lage schien hoffnungslos, denn seine Feinde sagten gegen ihn aus und Beweise für seine Schuldlosigkeit gab es wohl nicht. Im tiefsten Innern sagte er sich trotzdem, dass noch nicht alles verloren sei. All seine Hoffnungen ruhten fest auf Arndt.

Im Zimmer des Untersuchungsrichters warteten der Gerichtsrat Leibold, Kommissar Anders und der Geheimpolizist Arndt auf ihn. Der Richter eilte auf Heilmann zu und sagte mit bewegter Stimme:

„Was haben Sie durchmachen müssen!“

Heilmann blickte ihn mit ungläubigem Staunen an. Da trat der Kommissar rasch hinzu.

„Ja, Herr Heilmann, Ihre völlige Unschuld ist nunmehr bewiesen. Herr Arndt hat entdeckt, dass Kurt Heider im Besitz des gestohlenen Ehrenbechers gewesen ist. Im Verhör sah Heider ein, dass Leugnen seine Lage nur verschlimmern würde, und gab alles zu: den Diebstahl damals, die falschen Anschuldigungen, die unmenschlichen Umstände, unter denen sein Vater die letzten Wochen verbringen musste, und besonders, dass er das Geld – zwei Gulden, die Sie für die Uhr gegeben hatten – aus dem Zigarrenkästchen nahm. Seine Frau haben wir als Mitschuldige verhaftet. Von dem Diebstahl und der falschen Beschuldigung freilich weiß sie nichts, aber den Schwiegervater hat sie gefühllos verkommen lassen. Damit ist Ihre völlige Unschuld erwiesen. Herr Heilmann, Sie sind frei. Einen angemessenen Schadensersatz für die erlittene Haft wird das Gericht festsetzen.“

Heilmann wankte. Er musste sich kurz setzen, das Glück hatte ihn übermannt. Dann ging er auf den Detektiv zu, ergriff seine Hände und sagte:

„Herr Arndt, das verdanke ich Ihnen! Sie haben an meine Unschuld geglaubt und ohne Ihre Hilfe wäre ich bald wieder im Zuchthaus gelandet. Mein Leben gehört Ihnen, verfügen Sie darüber nach Belieben!“

„Nein, Heilmann“, entgegnete Arndt gerührt, „über Ihr Leben darf ich nicht verfügen. Zudem hat mir Gottes Hand geholfen. Nun sind Sie immer noch ohne Arbeit, aber mit unserer Hilfe wird sich das rasch ändern lassen.“

Heilmann erhielt auf Empfehlung Arndts schon bald Arbeit bei einem Buchbindermeister in Rollenburg. Zwar schmerzte ihn der Gedanke an seine Sträflingszeit in dem nahegelegenen Schloss immer noch, doch half ihm seine neue Beschäftigung, über die trüben Gedanken an die Vergangenheit hinwegzukommen. Nur einen Menschen aus dieser schlimmen Zeit seines Lebens konnte er nicht vergessen: den Geheimpolizisten Arndt. Würde er ihn wohl wiedersehen?

Der verlorene Sohn

Подняться наверх