Читать книгу Der verlorene Sohn - Karl May - Страница 9

4. Menschenhändler

Оглавление

Erich Uhland sah aus wie ein Lebemann – er war auch einer. Gekleidet nach der neuesten Mode, schlenderte er in der Residenz eine kleine, stille Straße hinunter, wobei er mit seinem Spazierstock Bewegungen ausführte, gerade als befände er sich im Zweikampf mit einem Degenfechter. Dabei huschten seine Schweinsäuglein ständig von rechts nach links und schienen alle Kleinigkeiten aufzunehmen. Er bewegte sich auf ein neu eröffnetes, hübsches Weinstübchen zu, das zunächst nur von wenigen Kunden, seit einigen Wochen aber recht lebhaft besucht wurde. Dort befanden sich unter den Gästen meist jüngere Leute, Schüler, Studenten und auch Lehrer. Das hatte seinen guten Grund und er bestand in – einer neuen Kellnerin. Das Mädchen, das seit einiger Zeit hier bediente, war noch jung, etwa neunzehn Jahre alt, dabei aber von einer eigenartigen Lieblichkeit. Es lag über dem frischen Gesicht ein Hauch von Unschuld und Kindlichkeit, den eigentlich jeder respektieren musste, es handele sich denn um einen besonders rücksichtslosen Menschen.

Das Lokal bestand aus zwei Stuben; in der hinteren saß ein älterer Herr, der hier regelmäßig verkehrte. Er war mit dem Wirt bekannt und unterhielt sich gerade mit ihm über die neue Kellnerin. Der Gast lobte ihr freundliches und umgängliches Wesen, unterbrach sich aber, weil sie gerade die hintere Stube betrat, um bei einer Häkelarbeit auszuruhen. Der Wirt verabschiedete sich von dem Herrn und verließ den Raum.

Es dauerte nicht lange, so trat Erich Uhland ein. Er grüßte knapp, aber mit gewisser Eleganz und bestellte sich einen Schoppen. Die Kellnerin bediente ihn und setzte sich dann auf eine Bank. Sie bemerkte während ihrer Handarbeit gar nicht, dass der Gast sie genau beobachtete, und das eine ganze Weile. Schließlich schien ihm das lange Schweigen langweilig zu werden. Er räusperte sich halblaut und fragte beiläufig:

„Kennen Sie mich noch, Fräulein?“

Die plötzliche Anrede brachte eine leichte Röte auf ihren Wangen hervor und sie antwortete freundlich, aber leise:

„Sie waren gestern Abend hier?“

„Ja. Ich komme gleich heute früh wieder, weil Ihr Wein wirklich exquisit ist.“

„Das müsste der Wirt hören“, erwiderte sie. „Er würde sich freuen.“

„O ja“, sagte der Fremde mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, „seit Sie hier sind, kommen die Gäste in Strömen. Freilich wundert mich das nicht, bei einem so hübschen – – Getränk wie diesem Weißwein.“

Er hatte eigentlich ‚Mädchen‘ sagen wollen, verbesserte sich aber noch rechtzeitig. Die Kellnerin nahm von seinen Worten keine Notiz. Sie arbeitete weiter und es hatte ganz den Anschein, als halte sie das Gespräch nun für beendigt. Der Gast aber fuhr nach einer kurzen Pause fort:

„Nur schade, dass ich nicht wiederkommen kann. Ich wohne nicht hier und werde wohl in Zukunft nur noch selten in die Residenz fahren.“

Sie antwortete nicht. Wieder vergingen einige Minuten. Er suchte nach einem neuen Anknüpfungspunkt für das unterbrochene Gespräch. Sein Auge fiel auf das alte Klavier, das an der Wand der Stube stand. Er fragte:

„Spielen Sie bisweilen auf diesem Klavier, Fräulein?“

Sie errötete leicht und antwortete:

„Ich habe es leider nie gelernt.“

„So?“ Der Herr gab sich verwundert. „Das ist schade! Klavierspielen gehört zur Allgemeinbildung. Eine jede junge Dame sollte es können.“

Das Mädchen antwortete in leisem Ton:

„Meine Eltern sind zu arm dazu. Der Vater war Holzschnitzer, kann aber sein Handwerk nicht mehr ausüben. Er ist in die Kreissäge geraten und hat dabei drei Finger der rechten Hand verloren.“

Der Gast gab sich mitleidig:

„O weh! Das ist schlimm! Da bedauere ich ihn von Herzen. Nun wird Ihre arme Mutter doppelt arbeiten müssen!“

Die Tränen traten der jungen Kellnerin in die Augen und sie sagte fast schluchzend:

„Ich habe keine Mutter mehr. Sie starb schon vor Jahren an einem Fieber. Die Ärzte nennen es Hungertyphus. Es wurde gesagt, dass unsere Ernährung zu einseitig gewesen sei. Obwohl wir stets etwas zu essen hatten, fehlte es uns doch an allen wichtigen Nahrungsmitteln. Daher musste ich fort, um Geld zu verdienen – für mich, den Vater und meine drei jüngeren Schwestern. Die zweitälteste Schwester wird jetzt vierzehn Jahre, sie kommt zu Ostern aus der Schule und muss nun an meiner Stelle das Haus versorgen.“

Der Fremde heuchelte ein lebhaftes Interesse. Er fragte:

„Und was macht Ihr Vater? Wovon lebt er?“

„Er handelt ein wenig mit Obst“, antwortete sie. „Das kann er trotz seiner invaliden Hand.“

„Dann müssen Sie wohl fast Ihren gesamten Lohn an die Familie abgeben?“, meinte der Herr wie beiläufig.

Die Kellnerin nickte. Ein lautes ,Ja‘ zu sagen, das fiel ihr denn doch zu schwer. Sie hatte den Vater und die Geschwister von Herzen lieb. Was sie tat, das tat sie gern. Arm zu sein, ist keine Schande, aber so offen darüber zu sprechen, das widerstrebte ihr doch.

Wieder gab es eine Pause. Dann begann der neugierige Gast von Neuem:

„Wie heißt Ihr Vater?“

„Weber.“

„Und Sie?“

Das Mädchen blickte ihn erstaunt an.

„Magda“, sagte sie.

Der Gast war sichtlich angetan.

„Ein schöner Name“, sagte er. „Und nun arbeiten Sie hier? Da gibt es doch sicher wenig zu verdienen?“

Das Gespräch war eigentlich ein Verhör zu nennen, doch Magda Weber schien es nicht zu bemerken.

„Drei Gulden monatlich mit Kost und Logis“, sagte sie traurig.

„Das ist freilich wenig“, meinte Uhland. „Wie wollen Sie da den armen Vater unterstützen, zumal Sie doch auch etwas für sich brauchen?“

„Oh, was mich angeht, ich bin genügsam!“, erwiderte Magda lebhaft. „Doch ein wenig Geld für Wäsche und Verschiedenes andere brauche ich auch. Vielleicht finde ich eine neue und bessere Stelle. Der Wirt mag mich gut leiden, er würde mich aber sogleich ziehen lassen, wenn ich ihn darum bitte und auf den letzten Monatslohn verzichte. Was hilft’s mir aber? Ich bin den Leuten zu jung, ich soll erst noch lernen. Mehr als drei Gulden bietet man mir nicht.“

Uhland nickte zustimmend.

„Ja, ja, so ist es hier in der Residenz!“, sagte er. „Bei uns bezahlt man zehnmal besser.“

Das machte sie neugierig. Sie hob rasch den hübschen Kopf und fragte:

„Bei uns? Wo ist das?“

Der andere schien ihren Eifer nicht zu bemerken. Er fuhr ruhig fort:

„In Rollenburg. Ja, dort wissen die Leute zu leben! Man nutzt das Gesinde nicht so aus wie hier. Ein Mädchen, das gute Dienste leistet, hat jeden Sonntag frei, einen hohen Lohn und bekommt ein nobles Weihnachtsgeschenk.“

„Welchen Lohn erhält man dort?“, fragte Magda.

Der Gast tat geheimnisvoll.

„Hm!“, sagte er gedehnt. „Das kommt auf die Stelle an, die man bekleidet, ob als Dienstmädchen, Hausmädchen, Zimmermädchen, Verkäuferin oder Kellnerin. Was würden Sie vorziehen?“

„Kellnerin möchte ich nicht gern wieder werden. Aber als Hausmädchen bei einer Dame würde ich schon gern dienen.“

Uhland blickte Magda mit gut gespielter Verwunderung an:

„Wirklich? Dann ist es gerade, als ob das Schicksal mich hierher geschickt hätte. Ich weiß nämlich eine gute, sehr gute Stelle in Rollenburg bei einer Verwandten von mir. Wissen Sie, sie ist Malerin, ja sogar eine recht berühmte. Bei ihr wohnt eine Anzahl junger Damen in Pension, die sich dort künstlerisch ausbilden lassen. Für diese Damen braucht sie ein Stubenmädchen. Ein Dienst- und ein Hausmädchen hat sie bereits. Das Stubenmädchen soll übrigens die feineren und leichteren Arbeiten besorgen. Der Lohn ist sehr hoch, und dass diese Künstlerinnen gute Trinkgelder geben, das können Sie sich denken!“

Das unerfahrene Mädchen stand von seinem Platz auf und ihre Augen leuchteten vor Freude. Der Gast fühlte, dass er sein Ziel erreicht hatte. Beiläufig sagte er:

„Übrigens beträgt der Lohn fünfzehn Gulden monatlich, ohne die Trinkgelder und Geschenke.“

„Fünfzehn – – mein Gott!“, rief Magda aus. „Oh, könnte ich diese Stelle bekommen!“

Der Fremde legte ihr vertrauensvoll eine Hand auf die Schulter.

„Nun, ich will Ihnen sagen, dass meine Verwandte mich gebeten hat, mich hier nach einer passenden Person umzusehen, ich könnte sie gleich mitbringen.“

„Dann bitte, nehmen Sie keine andere!“

Magda hielt ihm hilfesuchend die kleine Hand entgegen. Er ergriff sie und sagte im Ton väterlichen Wohlwollens:

„Nun, Sie sind zwar jung, aber gutwillig und wohlerzogen. Ich will es also wagen, Sie meiner Verwandten zu präsentieren. Sind Ihre Papiere in Ordnung, sodass Sie augenblicklich fortkönnen?“

„Ich werde sofort mit dem Wirt sprechen.“

„Schön! Sie müssen mir jetzt allerdings noch eine Bitte erfüllen. Verschweigen Sie Ihrer jetzigen Herrschaft, wohin Sie gehen! Den Grund dafür kann ich Ihnen erst später sagen. Ich fahre mit dem Zug heute Nachmittag um fünf Uhr fort. Kommen Sie zum Bahnhof mit Ihren Sachen!“

„Oh, ich habe nicht viel, denn ich bin arm“, sagte Magda bescheiden.

„Sie werden sich in Rollenburg sehr bald gute Wäsche und schöne Kleider anschaffen können“, fügte der Fremde hinzu. „Meine Verwandte heißt Melitta. Sie ist unverheiratet. Mein Name ist Uhland und ich freue mich sehr, meiner Verwandten und Ihnen helfen zu können. Sie werden es dort sehr gut haben! Hier sind fünf Gulden als Draufgeld. Topp?“

Er streckte ihr die Hand hin und Magda schlug herzhaft ein.

Der Gast gab ihr noch einen Gulden und sagte:

„Das ist für den Wein.“

„Zu viel, Herr Uhland!“, wandte Magda rasch ein.

„Schon gut!“, wehrte Uhland ab. „Die Sache ist also abgemacht. Ich rechne nun damit, dass Sie auch zur rechten Zeit zum Zug eintreffen!“

„Oh, ich werde bereits viel eher auf dem Bahnhof sein!“, versicherte Magda.

Uhland nickte zufrieden. „Schön! Also auf Wiedersehen, liebes Kind!“

„Adieu, Herr Uhland!“

Er gab ihr die Hand und ging. Magda fühlte sich außerordentlich glücklich. Sie eilte sogleich zu dem Wirt. Dieser war zwar erstaunt und betroffen zugleich über ihren schnellen Entschluss, willigte aber ein, denn seine Frau war schon recht eifersüchtig auf die junge Kellnerin geworden.


*


Der ältere Gast in der Hinterstube hatte jedes Wort mithören können. Als Uhland das Lokal verließ, trank er seinen Wein schnell aus, legte die Bezahlung neben das Glas und folgte ihm. Uhland spazierte gemächlich durch mehrere Straßen und trat dann in ein feines Café.

„Ich habe ein brillantes Geschäft gemacht“, dachte er, „und kann mir etwas Gutes tun. Wenn nur diese Kleine auch Wort hält!“

Er hatte sich kaum niedergesetzt, so trat der ältere Mann ein und schritt auf Uhlands Tisch zu. Dieser sprang sofort in die Höhe, als er den Neuankömmling erblickte.

„Heinz, du?“, rief er erstaunt aus.

„Pst, nicht so laut!“, zischte jener. „Die Wände haben hier Ohren. Gratuliere dir übrigens zu der famosen Magda Weber!“

Uhland glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. „Wie? Du weißt?“, fragte er perplex.

„Alles. Ich saß gleich nebenan in der Hinterstube und hörte dein Gespräch mit der jungen Gans. Ihr freilich konntet mich nicht sehen. Apropos: Bist du nicht bei Winkelmann auch auf Fang aus gewesen?“

„Schweig mir mit Winkelmann“, brummte Uhland verdrießlich. „Das Pflaster wurde mir dort zu heiß, seit so ein seltsamer Mensch mich einige Male ganz scharf beobachtet hat. Ich habe Freunde in der Residenz und so war es ein Leichtes herauszufinden, dass es sich um einen verdammten Polizeischnüffler handelte. Also wechselte ich Hals über Kopf das Revier und nun bin ich doch fündig geworden!“

„Und wie fündig!“, stimmte Heinz zu. „Bist du sicher, dass das Mädchen auch willig ist?“

„Willig oder nicht willig“, sagte Uhland spöttisch, „der Melitta und mir widersteht niemand! Und wie geht dein Geschäft?“

Sein Kumpan grinste hässlich.

„Gut wie deins! Aber eins will ich dir sagen, Erich: Sei auf der Hut! Hinter deinem Schnüffler könnte dieser verdammte Geheimpolizist stecken, der sich seit kurzer Zeit hier herumtreibt und sich sehr für Mädchenhandel interessieren soll.“

„Mag er sich doch dafür interessieren“, meinte Uhland großspurig. „Aber wehe, er pfuscht mir ins Handwerk! Dann...“ Er machte die Bewegung des Halsumdrehens. „Jetzt lass uns auf meine neue Errungenschaft anstoßen! Herr Ober, eine Flasche vom Besten!“


*


Karl Petermann hatte sich nach dem Abschied von Heilmann vom Bahnhof der Residenz direkt in das Polizeigebäude begeben und sich auf der Meldestelle nach seiner Tochter erkundigt.

„Valeska Petermann?“, meinte der Beamte, während er im Einwohnerregister nachschlug. „Gemeldet bei Frau Groh in der Ufergasse 10.“

Petermann ging. Sein Herz war ihm zum Brechen schwer. Also befand sich sein Kind wirklich dort bei der so schlecht beleumundeten Frau Groh! In der Ufergasse klingelte er bei der angegebenen Hausnummer. Niemand öffnete. Petermann musste unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Während der nächsten Tage mühte er sich nach Kräften, Arbeit in der Residenz zu finden, doch niemand wollte einen wegen Unterschlagung Vorbestraften einstellen. Mehrfach versuchte er auch, Madame Grob in ihrer Wohnung anzutreffen, doch sie war angeblich verreist. Erst drei Wochen nach seiner Ankunft in der Residenz glückte es dem ehemaligen Gutsverwalter zu beobachten, wie eine vornehm gekleidete Dame das Haus Ufergasse 10 betrat. Schnell entschlossen folgte er ihr und ließ sich von dem verlegenen Dienstmädchen nicht abweisen. Nach einigen Minuten eines Wortwechsels wurde er endlich zur Madame Groh vorgelassen.

Die Dame stand in hochmütiger Haltung mitten in ihrem Zimmer. Petermann verbeugte sich leicht und sagte einige Worte, um sein Vordringen zu entschuldigen, sie aber fiel ihm in die Rede:

„Ich kenne Sie nicht. Was wollen Sie?“

„Mich kennen Sie freilich nicht, Madame, aber meine Tochter kennen Sie.“

Die Dame tat erstaunt. „Ihre Tochter? Wieso?“

„Sie steht bei Ihnen in Diensten.“

„Bei mir? Ah, Sie heißen Petermann. Ja, eine Petermann war bei mir im Dienst.“

„Meine Tochter ist nicht mehr bei Ihnen?“, fragte Petermann.

„Nein. Sie blieb überhaupt nur recht kurze Zeit bei mir.“

„Können Sie mir denn vielleicht Auskunft erteilen, wo sie jetzt ist?“, erkundigte sich Petermann, immer noch in sehr höflichem Ton.

„Nein. Ich bin nicht neugierig. Ich pflege nicht zu fragen, wohin ein Mädchen geht, wenn es von mir fort will. Das geht mich doch gar nichts an!“

„Sie haben ihr aber doch ein Zeugnis ausgestellt?“

„Natürlich! Ich besinne mich, ihr ein Zeugnis gegeben zu haben, mit dem sie zufrieden sein kann.“

„Sie ist bei Ihnen noch immer polizeilich gemeldet!“

„Wenn sie sich nicht ordnungsgemäß abgemeldet hat, so ist das nicht meine Sache. Haben Sie sonst noch eine Frage? Meine Zeit ist knapp!“

Das war mehr als deutlich. Petermann verabschiedete sich kurz und verließ die unfreundliche Dame. Das Dienstmädchen führte ihn zur Tür und wollte ihn hinauslassen, doch Petermann drehte sich noch einmal um und fragte:

„Sie stehen wohl schon lange in Diensten?“

„Ja, mein Herr“, antwortete sie zögernd, „drei volle Jahre.“

„Und Sie haben sicher viel zu tun?“

„Gewiss, die ganze Hausarbeit.“

Petermann nickte freundlich.

„Da wurde Ihre Kollegin Valeska ja fast gar nicht gebraucht? Ich bin nämlich ein Verwandter von ihr.“

Das Mädchen begriff nicht den Hintersinn dieser Worte und erwiderte unbefangen:

„Sie haben ganz Recht! Darum musste sie auch fort.“

„Ja, ja“, nickte Petermann. „Wohin ist sie eigentlich gegangen?“

„Das wissen Sie nicht?“, fragte das Mädchen erstaunt. „Na, nach Rollenburg natürlich, zu Fräulein Melitta!“

Petermann bemühte sich, seine Freude nicht zu zeigen, dankte höflich und schritt von dannen. Das Dienstmädchen ging in das Zimmer ihrer Herrin.

„Was gibt’s?“, fragte diese barsch.

„Der Mann ist fort“, meldete das Mädchen. „Er hat mich gefragt, wie lange ich hier diene und wohin die Valeska Petermann gegangen ist.“

Da sprang Frau Groh von dem Sofa auf, wo sie eben Platz genommen hatte.

„Du hast es ihm doch nicht etwa gesagt?“

„Warum nicht?“, fragte das Mädchen ängstlich. „Er sagte, er sei ein Verwandter von Valeska. Stimmt das etwa nicht?“

„Doch, doch, leider! Welche Unvorsichtigkeit! Wir müssen die Melitta warnen. Rasch zu Heinz! Und du bleibst hier und öffnest keinem Menschen!“

Die Dame rauschte davon und ließ das erschrockene Mädchen zurück.


*


Wilhelm Heilmann hatte seine Lehrzeit zwar bei dem Paten Heider in der Residenz verbracht, doch war er der Sohn armer Weber aus Langenstadt, droben im Gebirge. Seine Eltern waren früh gestorben und hatten ihn in der Obhut einer Verwandten zurückgelassen, die sich recht und schlecht um ihn kümmerte. Eines Tages war dann der Pate Heider ins Gebirge gekommen, um sich des vierzehnjährigen Knaben anzunehmen, der bei ihm in die Lehre gehen sollte. Sein weiteres Schicksal ist uns bekannt.

Schon wenige Tage, nachdem sich Heilmanns Unschuld herausgestellt hatte, fand er neue Arbeit in Rollenburg.

Seitdem waren drei Wochen ins Land gegangen und der junge Mann hatte sich noch einmal in die Residenz begeben müssen, um Kommissar Anders einige abschließende Fragen zu beantworten. Dies war nun erledigt und Heilmann wartete im Bahnhof der Residenz auf seinen Zug nach Rollenburg. Er saß im Wartesaal zweiter Klasse, trank ein Glas Bier und ließ seine Blicke schweifen. Da fiel sein Auge auf ein junges Mädchen, das in seiner Nähe saß und neben sich eine große Tasche stehen hatte. Heilmann fühlte sich unwillkürlich von ihrer Erscheinung berührt. Sie war eine aufknospende Schönheit, ohne Zweifel, aber nicht das allein zog sein Auge an, sondern in ihren weichen, sanften Zügen fand er etwas, das ihm seltsam bekannt vorkam. Und sonderbar, auch sie blickte wiederholt zu ihm herüber, und wenn sich ihre Blicke dabei begegneten, senkten sich ihre Wimpern, aber nicht erschrocken, sondern eher wie von Freude erfüllt. Da stand Wilhelm Heilmann auf, machte einige rasche, entschlossene Schritte auf sie zu, verbeugte sich leicht und sagte:

„Entschuldigung, mein Fräulein! Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?“

Sie errötete, antwortete aber unbefangen:

„Schon oft, Herr Heilmann.“

„Wie! Sie kennen mich also? Wo sahen wir uns denn bloß?“

„In der Heimat, in Langenstadt“, erwiderte sie leise.

„Ah, Sie sind auch von da oben her? Ich bin allerdings lange Jahre nicht mehr dort gewesen. Aber hm! Ihr Gesicht spricht so freundlich zu mir, doch weiß ich nicht, welchen Namen ich Ihnen geben soll.“

„Denken Sie an Kirschen!“, lächelte das Mädchen.

Heilmann machte ein verblüfftes Gesicht.

„An welche Kirschen?“

„An die Kirschen, Stachelbeeren, Birnen und Äpfel, die Sie heimlich zwischen den Zaun steckten, damit sie jemand finden konnte. Dieser Jemand war ein kleines, armes Mädchen, das niemals einen Pfennig hatte, sich solche Früchte zu kaufen. Sie hatten zwar auch nicht viel, doch fanden Sie immer wieder Gelegenheit, sich für kleine Botendienste mit allerlei Obst beschenken zu lassen, das Sie dem kleinen Mädchen weitergaben. Es ist inzwischen freilich auch ein wenig größer geworden.“

Wilhelm Heilmann trat einen Schritt zurück. Die Überraschung stand auf seinem Gesicht geschrieben, als er sagte:

„Sie sind Magda? Webers Magda! Nun, das ist eine große Freude! Wir haben uns schon ewig lang nicht mehr gesehen!“

„O ja“, lächelte Magda schalkhaft. „Damals war ich ein ganz kleines, dummes Ding, lief barfuß und aß Grießbrei. Bald freilich kam eine traurige Zeit für mich. Die Mutter starb und der Vater hat fast die Hand verloren, denn die Kreissäge verstümmelte sie ihm. Nun war es natürlich aus mit dem Holzschnitzen. Er fing einen kleinen Obsthandel an, der ihn und meine drei Schwestern nur kümmerlich ernährt.“

Bei diesen Worten senkte sie den Blick zu Boden. Heilmann verstand sofort.

„Ich vermute, Sie haben Langenstadt verlassen, um sich Arbeit in der Residenz zu suchen?“, fragte er vorsichtig.

„Bis vor Kurzem arbeitete ich als Kellnerin in einer Weinstube“, sagte Magda verlegen.

„Wie schade, dass ich nicht helfen konnte“, rief Heilmann rasch aus. „Ich bin ja schon mit vierzehn Jahren von Langenstadt fort und habe seitdem – – viel Schlimmes, aber auch Gutes erlebt. Welch ein Zufall, dass wir uns hier treffen. Wohin fahren Sie jetzt?“

„Ich muss heute nach Rollenburg, wo ich einen neuen Dienst antrete“, antwortete Magda. „Ich soll dort Wirtschafterin werden bei einer Dame, einer Malerin, die junge Künstlerinnen in Pension hat.“

„Wie heißt sie?“, fragte Heilmann vorsichtig.

„Fräulein Melitta.“

„Dieser Name ist mir unbekannt. Allerdings bin ich selbst erst seit kurzer Zeit bei einem Buchbinder in Rollenburg beschäftigt. Aber sei’s drum! In welcher Klasse reisen Sie?“

„Das weiß ich nicht“, versetzte Magda. „Ich fahre mit einem Herrn dorthin, der ein Verwandter meiner neuen Herrin ist und mich für den Dienst ausgewählt hat.“

Heilmann blickte auf.

„Dort schaut gerade ein Herr zur Tür herein. Er scheint jemand zu suchen.“

„Das ist er“, antwortete Magda, indem sie sich umsah. „Er winkt. Ich muss zu ihm.“

Sie griff nach ihrer Tasche. Wilhelm streckte ihr die Hand entgegen und sagte:

„Unter diesen Umständen darf ich Sie allerdings nicht zurückhalten. Hoffentlich sehen wir uns in Rollenburg wieder. Oder wünschen Sie das nicht?“

Sie rang mit einer Antwort, dann klang es leise:

„Ich würde mich sehr freuen. Adieu, Herr Heilmann!“

„Adieu, Magda!“

Sein Blick folgte ihr, bis sie hinter der Tür zum Wartezimmer dritter Klasse verschwunden war. Dort stand Uhland und empfing sie mit bösen Blicken.

„Was taten Sie da drin?“

Sie sah ihn erstaunt an.

„Warum fragen Sie?“

„Weil Sie doch hier in diesem Saal warten sollten!“

„Ich habe darauf nicht geachtet“, entschuldigte sich Magda. „Auch konnte ich doch nicht wissen, dass Sie in der dritten Klasse fahren. Sie als Verwandter des Fräulein Melitta reisen doch sonst zweiter Klasse?“

„Ah, diese kleine Fliege kann auch stechen“, dachte sich Uhland. Aber er ließ seinen Ärger nicht merken, die Fliege hätte sonst noch im letzten Augenblick auf den Gedanken kommen können, ihm zu entweichen.

„Ich würde zweiter Klasse fahren, aber es ist alles besetzt. Wer war der Herr, mit dem Sie sprachen?“

„Er stammt aus meiner Heimat und arbeitet nun als Buchbinder in Rollenburg.“

Uhlands Gesicht wurde plötzlich von einem hämischen Lächeln entstellt, als er fortfuhr:

„Nun, so werden Sie ihn wohl wiedertreffen. Jetzt will ich für die Billetts sorgen.“

Kaum hatte er die Fahrkarten gekauft, da läutete es zum ersten Mal. Sie betraten den Bahnsteig, um sich in das Abteil zu setzen. Draußen stand der junge Buchbinder. Er beobachtete die beiden, bis sie eingestiegen waren. Dann schritt er, wie unter dem Einfluss eines plötzlichen Gedankens, auf das Abteil zu und zog den Hut.

„Verzeihung, mein Herr!“, sagte er. „Mein Name ist Wilhelm Heilmann.“

„Schön!“, antwortete Uhland, ohne seinen Namen zu nennen, wie es die Höflichkeit erfordert hätte.

„Sie fahren mit dieser Dame nach Rollenburg?“

„Allerdings.“

„Es ist kalt in der dritten Klasse“, sagte Heilmann mit besorgtem Unterton in der Stimme. „Erlauben Sie, dass ich ihr meinen Mantel zur Verfügung stelle? Es ist zwar nur ein einfacher Überzieher, doch hält er warm.“

„Das ist nicht nötig. Es ist warm genug. Übrigens geht Sie das nichts an!“

Da trat der junge Mann einen Schritt näher an das Abteil heran, blickte dem anderen erstaunt in das Gesicht und antwortete:

„Herr, was fällt Ihnen ein! Ihr Betragen ist geradezu flegelhaft! Ich stelle mich Ihnen vor und Sie verschweigen mir Ihren Namen. Sie tun ganz so, als ob Sie dieser Dame zu befehlen hätten, dabei kann sie nach Rollenburg fahren, wie und mit wem es ihr beliebt. Ich kenne sie, ich will sie nicht frieren lassen, und wenn Sie den Mantel nicht in Ihrem Abteil dulden wollen, so mag sich Fräulein Weber zu mir setzen. Ich fahre zwar auch nur dritter Klasse, doch wird sie dann meinen Überzieher erhalten!“

Das war deutlich. Uhland schwieg wütend. Wilhelm zog seinen Mantel aus, trat auf das Trittbrett und reichte dem Mädchen das warme Kleidungsstück.

„Hier, Magda, hüllen Sie sich hinein!“

Sie errötete, wies aber den Mantel nicht zurück. Heilmann ging ein Abteil weiter, Uhland aber schwieg, um seine Beute nicht noch misstrauischer zu machen. Sie lehnte in der Ecke und schloss die Augen. ‚Magda‘ hatte er sie genannt, bei ihrem Vornamen. Eine Fülle von Gefühlen stürzte auf sie ein und brachte sie in große Verwirrung.

Unterdessen ging Heilmann seinen Gedanken nach. Dieser Uhland war ihm äußerst unsympathisch. Hoffentlich war Magda hier nicht an einen Wolf im Schafspelz geraten – !

In Rollenburg angekommen, ging Wilhelm zu Magda und Uhland und erbat den Mantel zurück. Um nicht wieder mit Uhland streiten zu müssen, verabschiedete er sich rasch und ging fort, immer noch in schwere Gedanken versunken. Jedenfalls beschloss er, so bald wie möglich die Wohnung des ihm vollständig unbekannten ‚Fräulein Melitta‘ aufzusuchen.


*


Es war zwei Tage nach der Abreise Magda Webers aus der Residenz. Im Bezirksgericht saß der junge Assessor Franz von Ansbach über einem Stapel wichtiger Akten. Es war ihm trotz seiner Jugend in recht kurzer Zeit gelungen, sich das völlige Vertrauen seiner Vorgesetzten zu erwerben. Zur Zeit befasste er sich mit der ‚Mädchenhändlerangelegenheit‘, wie Arndt sie zu nennen pflegte. Einige erfahrene Polizisten waren dem ‚ehrenwerten‘ Herrn Uhland auf der Spur. Kommissar Anders selbst hatte die Oberleitung über diese delikate Beobachtungsaufgabe übernommen.

Gerade las Franz von Ansbach in dem Bericht eines der zuverlässigsten Mitarbeiter von Detektiv Arndt, dass er den sogenannten ‚Herrn Uhland‘ in Winkelmanns Weinstube schon vor einigen Tagen aus den Augen verloren hatte. War dem mutmaßlichen Mädchenhändler dort der Boden zu heiß geworden? Während Ansbach seinen Gedanken nachging, wurde plötzlich die Tür seines Arbeitszimmers aufgerissen und – Kommissar Anders stürzte sichtlich erregt herein.

„Herr Assessor, es gibt schlechte Nachrichten!“

Ansbach blickte sein Gegenüber besorgt an.

„In der Angelegenheit Arndt?“, fragte er rasch.

„Ja“, bestätigte der Kommissar. „Unser Mann, der Uhland in der Weinstube observierte, hat vor zwei Tagen endlich dessen Spur wiedergefunden, und zwar in einer neuen Weinstube der Residenz. Dort verkehrt ein gewisser ‚Heinz‘, dem allerlei dunkle Geschäfte nachgesagt werden, und dort ist nun auch Uhland aufgetaucht. Der Beschreibung nach müsste er es jedenfalls sein. Aber – wie der Teufel es so will – Uhland ist uns erneut entwischt, und zwar zusammen mit einer jungen Kellnerin namens Magda Weber. Nach langem Hin und Her hat unser Gewährsmann herausfinden können, dass Uhland mit Magda Weber vor zwei Tagen nach Rollenburg abgereist ist.“

Da sprang der junge Assessor erregt auf.

„Dann müssen wir ihnen nach! Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen!“

Mit diesen Worten eilte er zu seinem Vorgesetzten, Staatsanwalt Unterberg, der über die gesamte unsaubere Angelegenheit genau informiert war. Dieser fällte rasch seine Entscheidung und schon eine knappe halbe Stunde später verließen Staatsanwalt Unterberg, Assessor von Ansbach und Kommissar Anders die Residenz mit dem Abendzug in Richtung Rollenburg. Vorher aber war ein chiffriertes Telegramm an einen Mitarbeiter Arndts in Rollenburg abgegangen, das entschlüsselt folgenden Inhalt hatte: Ankommen mit Abendzug in Rollenburg – sehr wichtig – Uhland in Rollenburg mit Magda Weber, neunzehn Jahre alt – wahrscheinlich zur Melitta – Herrn Arndt sofort von unserem Eintreffen unterrichten – Treffpunkt Haus M. – Staatsanwalt Unterberg.

Der verlorene Sohn

Подняться наверх