Читать книгу Das Dorf Band 17: Die Räuber - Karl Olsberg - Страница 3
Оглавление1. Die Glocke
„Also, ich erkläre es nochmal“, sagt Magolus mit genervtem Unterton. Er zeigt auf die goldene Glocke, die neuerdings vor der Kirche hängt, eine Schmiedearbeit von Primos Vater Porgo. „Ding, Dong, Ding, Dong, Ding, Dong bedeutet: Kommt alle in die Kirche, der Gottesdienst beginnt gleich. Und Dong, Dong, Dong, Ding, Ding, Ding, Dong, Dong, Dong bedeutet: Alarm! Gefahr droht!“
„Und was bedeutet noch mal Ding, Dong, Ding, Ding, Dong?“, fragt Olum, der Fischer.
„Das bedeutet, es regnet“, spekuliert Hakun, der Fleischer.
„Quatsch“, widerspricht Kaus, der Bauer. „Wenn es regnet, dann merkt man es doch auch so. Da muss man doch nicht auf der Glocke herumschlagen, du Dummkopf.“
„Ich geb‘ dir gleich eins auf die Glocke, wenn du mich noch mal Dummkopf nennst!“
„Aber wenn man gerade im Haus ist und keine Lust hat, aus dem Fenster zu schauen, wäre es schon ganz praktisch, wenn man wüsste, ob es regnet“, bemerkt Birta, die Gehilfin des Priesters.
„Ja, schon, aber derjenige, der die Glocke schlägt, wird doch dann nass“, widerspricht Kaus.
„Hm, auch wieder wahr.“
„Hört ihr jetzt endlich damit auf, hier herumzuquatschen, während ich versuche, euch wichtige Informationen zu geben?“, schimpft Magolus. „Das ist meine Glocke, und ich bestimme, wer sie schlagen darf und was es bedeutet, wenn man sie schlägt.“
„Moment mal, Magolus“, wendet Porgo ein. „Ich habe die Glocke für das ganze Dorf geschmiedet, nicht für dich allein!“
„Aber sie steht nun mal vor meiner Kirche, also bestimme ich auch, was damit passiert!“
„Und was bedeutet jetzt Ding, Dong, Ding, Ding, Dong?“, fragt Olum.
„Das bedeutet ... hm ...“ Magolus wirft die Hände in die Luft. „Ach, ihr geht mir auf die Nerven mit eurem Ding, Ding, Dong, Ding, Dong!“
„Nein“, widerspricht Olum. „Ding, Dong, Ding, Ding, Dong, nicht Ding, Ding, Dong, Ding, Dong!“
Primo schüttelt den Kopf, nimmt Golina am Arm und geht mit ihr und Nano die Dorfstraße entlang in Richtung ihres Hauses. So, wie er die Bewohner seines geliebten Heimatdorfs am Rand der Schlucht kennt, werden sie noch den ganzen Tag herumstreiten, was welche Glockentöne zu bedeuten haben und wer die Glocke schlagen darf. Er kann nur hoffen, dass es nicht auch noch die ganze Nacht dauert, denn bei dem dauernden Gebimmel kann er bestimmt nicht schlafen.
Überhaupt schläft er in letzter Zeit schlecht. Oft wacht er nachts auf und denkt an die vielen Abenteuer, die er schon erlebt hat – in den Tiefen der Erde und auf der Spitze eines hohen Berges, in der Wüste und im ewigen Eis, in fernen Ländern und auf dem Meeresgrund, im Nether und sogar im düsteren Ende. Dann fragt er sich manchmal, ob es überhaupt noch etwas geben kann, das er noch nicht erlebt hat, und eine gewisse Schwermut überkommt ihn.
Es ist noch gar nicht so lange her, da war Primo ein junger Bursche. Er kannte nur das Dorf am Rand der Schlucht, doch er träumte davon, es eines Tages zu verlassen. Damit begann sein erstes Abenteuer, und fast hätte es seinen besten Freund Kolle das Leben gekostet. Es folgten viele gefährliche Situationen, und manches Mal kam er selbst nur knapp mit dem Leben davon. Trotzdem hat ihn dieser Drang, das Neue, Unbekannte zu erforschen, nie verlassen.
Aber das scheint nun endgültig vorbei zu sein. Es ist Monate her, seit der Flüchtling Nansen im Dorf auftauchte und Primo ihm half, seine Frau und seinen Sohn aus der Gefangenschaft bei den Ertrunkenen zu retten. Seitdem ist nichts mehr passiert, das ihn als Dorfbeschützer gefordert hätte, und er kommt sich ziemlich überflüssig vor.
Die anderen Dorfbewohner haben wenigstens ihre Aufgaben, denen sie täglich nachgehen können: Olum angelt den ganzen Tag, Hakun kümmert sich um seine Hühner und Kühe, Jarga schert die Schafe, Primos Vater Porgo hämmert in seiner Schmiede herum, Kaus und Primos Schwiegervater Bendo sowie seine Frau Agia bestellen ihre Felder, ernten das Korn und backen Brot und Kuchen, Kolles Vater Nimrod sortiert die Bücher in der Bibliothek, während seine Frau Delfina sowie Kolle und Margi ihm dabei helfen, die Bücher wiederzufinden, die er falsch einsortiert hat. Magolus, der Priester, bereitet seine Predigten vor und meditiert in der Kirche, und selbst seine Gehilfin Birta hat genug damit zu tun, Nano und Kolles Tochter Maffi zu unterrichten. Dann wäre da noch Golina, die das Haus sauber hält, das Essen kocht, versucht, Nano Manieren beizubringen und ihm, Primo, „den Rücken freihält“, wie sie es ausdrückt.
Nur er selbst hat nichts, absolut gar nichts zu tun, zumal Asimov, der Golem und Paul, sein zahmer Wolf, mühelos mit den paar Monstern fertig werden, die sich nachts gelegentlich noch in die Nähe des Dorfs verirren. In letzter Zeit hat er sogar seine Diamantrüstung und sein Schwert nicht mehr getragen, weil er sich darin albern vorkam. Beinahe wünscht sich Primo, sein alter Erzfeind Artrax würde wieder auftauchen und Unheil stiften. Dann hätte er wenigstens eine Aufgabe und käme sich nicht so nutzlos vor ...
Ein tiefes Grollen reißt Primo aus seinen trüben Gedanken. Im ersten Moment weiß er nicht, woher das Geräusch kommt. Fast klingt es, als habe sich irgendein unbekanntes Monster ins Dorf geschlichen. Doch dann erkennt er, dass es Paul ist, der vor der Schmiede steht und dieses tiefe Knurren von sich gibt. Der Wolf starrt nach Osten über den kleinen Fluss hinweg, der das Dorf in einer weiten Schleife umfließt, auf die große Ebene, wo Jargas Schafe weiden.
Primo kneift die Augen zusammen und blickt in die Ferne. Was mag den Wolf so ärgern?
Da entdeckt er eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern, die über die Ebene auf sie zukommt. Sind das Priester Wumpus und sein Gefolge aus dem Wüstendorf? Nein, einer der Unbekannten scheint auf einem Pferd zu reiten, und soweit Primo weiß, gibt es im Wüstendorf keine Pferde.
Als die Gruppe näherkommt, erkennt Primo, dass es sich bei dem Reittier nicht um ein Pferd handelt. Es ist viel größer und breiter, und es hat seltsame Spitzen am Kopf. Die Unbekannten sehen auch nicht aus wie gewöhnliche Dorfbewohner. Sie wirken selbst aus der Ferne unheimlich und bedrohlich und erinnern Primo an die Gehilfen des bösen Grafen, der die Dorfbewohner mit seinem verzauberten Wein zu willenlosen Sklaven gemacht hat.
„Das gefällt mir gar nicht“, sagt Primo. „Geh du mit Nano ins Haus, Golina. Ich geh mal lieber Alarm schlagen.“
Er läuft zurück zu den anderen Dorfbewohnern, die immer noch vor der Kirche versammelt sind.
„Alarm! Alarm!“, ruft er. „Unheimliche Unbekannte nähern sich von Osten!“
„Wenn du Alarm schlagen willst, musst du die Glocke benutzen“, erklärt Olum. „Das geht so: Ding, Ding, Ding, Dong, Dong, Dong, Ding, Ding und nochmal Ding!“
„Quatsch!“, widerspricht Kaus. „Es ist genau umgekehrt: Dong, Dong, Dong, Ding, Dong ... ach ne, Ding, Ding, Dong ... Moment, ich hab’s gleich ...“
„Alarm!“, ruft Primo. „Geht in eure Häuser, schnell! Sie sind gleich ...“
„Moment, Moment“, unterbricht Olum. „Immer schön der Reihe nach. Ich bin zuerst dran. Ich will euch nur schnell das Lied von der Glocke vorspielen, das ich gerade komponiert habe. Das geht so: Ding, Dong, Ding, Ding, Dong, Fest gemauert in der Erden, Ding, Dong, Ding, Ding, Dong, steht die Form aus Lehm gebrannt ...“
„Ja, versteht ihr denn nicht?“, ruft Primo. „Das ist ein Notfall! Das Dorf wird womöglich angegriffen!“
Doch die anderen beachten ihn gar nicht, sondern streiten sich nur darum, wer als nächstes die Glocke schlagen darf. Hilflos sieht sich Primo um. Asimov, der Golem, steht ein Stück Abseits. Der wird ihm sicher helfen. Primo rennt zu ihm.
„Alarm!“, ruft er. „Asimov, das Dorf wird angegriffen!“
„Könnt ihr mich nicht einfach aus euren seltsamen Spielen heraushalten?“, fragt der Golem. „Ich verstehe die sowieso nicht, und ich finde sie auch kein bisschen lustig.“
„Aber du musst mir helfen!“
„Ich muss gar nichts. Ich bin jetzt ein freier Golem, schon vergessen?“
Primo seufzt und rennt weiter zur Bibliothek. Sein bester Freund Kolle und dessen Frau Margi sind mal wieder dabei, unter der Anleitung von Kolles Vater Bücher von einer Seite des Raums auf die andere zu tragen.
„Kolle, komm schnell!“, ruft Primo atemlos. „Ich ... ich glaube, das Dorf wird angegriffen!“
Kolle lässt vor Schreck einen Stapel Bücher fallen.
„Was? Von wem?“
„Ich weiß nicht genau. Da sind so seltsame Typen, die über die Ebene im Osten auf uns zu marschieren!“
„Ach was, das ist bestimmt bloß Wumpus mit seinen Leuten“, meint Margi. „Der war schon länger nicht mehr hier. Vielleicht hat er irgendwie mitbekommen, dass wir jetzt eine Glocke im Dorf haben, und ist neidisch.“
„Nein, das sind keine gewöhnlichen Dorfbewohner“, beharrt Primo. „Kommt und seht selbst!“
Die beiden folgen Primo zum Rand des Dorfs. Paul steht immer noch da und bellt. Die Unbekannten haben inzwischen das andere Flussufer erreicht. Aus der Nähe sehen sie noch finsterer aus, und das große Tier noch eindrucksvoller. Primo ist schon mit schlimmeren Monstern fertig geworden, doch etwas liegt in den Augen dieser Fremden, eine Kälte und Härte, die ihm einen Schauer über den Rücken laufen lässt.
„Wer hat hier das sagen?“, ruft die Gestalt auf dem Rücken des großen Reittiers. Ein Banner weht über ihrem Kopf und sie hat ein seltsames Gebilde in der Hand, das ein wenig wie einer der Bögen aussieht, mit denen die Knochenmänner ihre Pfeile verschießen, nur dass es waagerecht gehalten wird und noch ein Stock daran befestigt ist.
„Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“, fragt Primo zurück.
„Hol den Häuptling eures Dorfs her, oder es wird dir schlecht ergehen!“, erwidert der Unbekannte.
Aus den Augenwinkeln sieht Primo, wie Kolle grün anläuft.
„Wir haben keinen Häuptling“, antwortet er. „Wir entscheiden alles gemeinsam.“
„Wie unpraktisch. Na egal. Dann sag allen Dorfbewohnern, sie sollen sämtliche Wertgegenstände herbringen: Gold, Smaragde, Schmuck, Werkzeuge und so weiter. Und bringt uns etwas zu essen, wir haben nämlich Hunger.“
„Und warum sollten wir das tun?“, fragt Primo.
„Weil wir euch dann am Leben lassen und euer Dorf nicht dem Erdboden gleichmachen“, sagt der Reiter, der anscheinend der Anführer der Unbekannten ist. „Und versucht nicht, uns zu betrügen. Wir werden jedes eurer Häuser durchsuchen, und wehe, wir finden dann noch irgendetwas Wertvolles, das ihr versteckt habt!“
„Verschwindet, ihr ungehobelten Kerle!“, ruft Kolle. „Oder ich bringe euch ...“
Bevor er weitersprechen kann, wird er zurückgeschleudert und fällt rücklings auf den Boden. Entsetzt sieht Primo, dass in der Brust seines Freundes ein kleiner Pfeil steckt. Offenbar hat ihn der Reiter mit seinem seltsamen Stockbogen abgeschossen.
„Kolle, nein!“, ruft Margi und stürzt zu ihrem Mann.
Der fasst sich an die Brust. Seine Gesichtsfarbe ist von zornigem Dunkelgrün zu einem blassen Grüngrau geworden.
„Aua ... das tut weh ...“, stöhnt er.
Primo starrt den Reiter an, der in aller Seelenruhe einen neuen Pfeil in seinen Stockbogen einlegt. Alles in ihm drängt ihn, sich auf den Anführer dieser Typen zu stürzen und ihm eine Lektion zu erteilen. Doch er hat weder Schwert noch Rüstung dabei und ahnt, dass diese Unbekannten härtere Gegner sind als die üblichen Nachtwandler und Knochenmänner. Mit einem von ihnen würde er vielleicht fertig werden, aber fünf auf einmal sind eine zu große Übermacht. Außerdem muss er Kolle in Sicherheit bringen.
„Siehst du jetzt, dass wir es ernst meinen?“, ruft der Anführer und hebt erneut seine Waffe.
Primo knirscht mit den Zähnen. „Schon gut, wir tun, was ihr sagt“, erwidert er. „Gebt mir einen Moment Zeit.“
„Na also, ich wusste doch, dass ihr vernünftig sein würdet“, erwidert der Anführer.
„Ha, diese Dorfbewohner sind doch alle gleich“, sagt einer der anderen. „Erst schwingen sie große Reden, aber wenn es ernst wird, machen sie sich in die Hose und geben klein bei.“
Die übrigen stoßen ein spöttisches Lachen aus.