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Anno Domini 388
ОглавлениеIn diesem Frühjahr brach ein großer Heerhaufen der Hunnen vom Unterlauf der Donau zu einem ausgedehnten Raubzug nach Westen auf. Sie folgten der Donau flussaufwärts. Für eine Konfrontation mit der römischen Armee waren sie nicht stark genug, deshalb hielten sie sich immer am nördlichen Ufer auf, umgingen größere befestigte Städte und Garnisonen, überfielen aber alle kleinen Orte und Siedlungen auf ihrem Weg nach Westen.
Trotz ihrer Schnelligkeit eilte die Warnung vor ihrem Kommen ihnen voraus und am Oberlauf der Donau und am Neckar stießen sie zuerst bei den Alemannen und, als sie nach Norden abbogen, auch am Main bei den Burgundern auf heftigen Widerstand.
Deshalb schwenkten sie weiter nach Norden ab, ritten zwischen dem Vogelsberg und der Rhön hindurch und wandten sich dann nach Nordwesten.
Am südöstlichen Ende des Teutoburger Waldes erreichten sie das Siedlungsgebiet der Cherusker, die sich mit anderen Stämmen zum starken Stammesverband der Sachsen zusammengeschlossen hatten.
Hier teilten sie sich in kleinere Gruppen von 100 bis 200 Mann auf. In diesem Gebiet mussten sie mit keinen großen befestigten Siedlungen mehr rechnen, die sich durch die Zahl ihrer Krieger erfolgreich wehren konnten. Bis hierher waren auch die Warnungen vor ihrem Kommen noch nicht gedrungen. So konnten sie das Überraschungsmoment nutzen, kleine Ansiedlungen überfallen und schnell wieder fort sein, bevor die sächsischen Gaue ihre Abwehr organisieren konnten.
Ihr Ziel war die Erbeutung von jungen blonden Sklaven, vorzugsweise Mädchen, für die die Sklavenhändler aus Konstantinopel sehr gute Preise zahlten.
Wenige Tage später hasteten zwei Kinder, ein Junge von etwa 13 Jahren und ein Mädchen von 11 Jahren, allein durch den Wald. Sie waren auf der Flucht. Astolf war groß für sein Alter und fühlte sich mit seinen dreizehn Jahren schon fast wie ein erwachsener Mann. Viele Leute hielten ihn für mindestens zwei Jahre älter als er war. Er hatte hellbraunes Haar, blaue Augen und war von schlanker kräftiger Gestalt. Gudrun war zierlich, hatte die gleichen blauen Augen, aber hellblondes Haar.
An diesem Morgen waren sie aufgebrochen, um auf einer Waldlichtung in der Nähe ihres Dorfes die ersten Blaubeeren dieses Frühsommers zu sammeln. Ihr Dorf lag auf einer sehr großen Lichtung im Wald am äußersten Oberlauf des Flusses Ems. Ein kleiner Bach mündete hier in die Ems. Das Dorf war klein. Nur ein gutes Dutzend Häuser standen locker verteilt auf der Lichtung, die die Dorfgemeinschaft durch Rodung immer mehr erweiterte, um mehr Ackerland zu erhalten. Irgendeine Schutzvorrichtung gegen Angriffe von Feinden, wie eine Palisade, gab es nicht.
Die Bewohner fühlten sich im Schutz der das Dorf umgebenden Wälder sicher.
Gudrun trug einen großen Korb. Astolf trug ebenfalls einen Korb und hatte noch zusätzlich seinen Bogen mit 6 Pfeilen mitgenommen, den ihm sein Vater im letzten Winter gebaut hatte, weil er mit ihm üben wollte. Ohne seine Gürteltasche, in der sich einige Dinge befanden, die er für notwendig hielt und dem Messer, das ihm sein Onkel Radolf, der Bruder seiner Mutter, im letzten Jahr geschenkt hatte, ging er ohnehin nie aus dem Haus.
Ihre Mutter hatte ihnen zwei kleine Brote mitgegeben und wollte später mit ihrer kleinen Schwester Inge zu der Lichtung nachkommen, wenn sie einige Dinge im Haus erledigt hatte.
Der Vater war schon im Morgengrauen aufgebrochen, um auf nahe gelegenen Waldlichtungen nach den Kühen, Schafen und Ziegen zu sehen.
Ihr Vater war der angesehenste Mann ihres Dorfes. In Kriegszeiten führte er die waffenfähigen freien Männer des Dorfes in den Kampf, in Friedenszeiten leitete er das Thing und war für die Ausrichtung der Feiern wie die Sonnenwendfeiern, verantwortlich.
An diesem Tag war er schon im Morgengrauen mit den Ochsen und dem Pflug und ihrem Nachbarn zum Pflügen auf eine andere Lichtung im Wald aufgebrochen.
Der Tag hatte als klarer und schöner Frühsommertag begonnen.
Die Wiesen rund um die Häuser des Dorfes standen in voller Blüte und es duftete nach Heu und Sommer.
Bereits jetzt am Morgen war es schon sehr warm. Es würde ein heißer Tag werden und deshalb waren sie froh, als sie den kühlen Rand des Waldes erreichten.
Kaum aber waren die beiden Kinder im Wald eingetaucht, als hinter ihnen das Unheil über ihr Dorf hereinbrach:
Etwa 100 Reiter auf kleinen Pferden fielen über das Dorf her und schossen mit Pfeilen auf jeden Dorfbewohner, der sich sehen ließ. Anschließend stiegen sie von den Pferden und rannten in die Häuser.
Starr vor Entsetzen sahen die Kinder aus dem Halbdunkel des Waldes mit an, wie ihre Nachbarn und Freunde starben. Einige Männer versuchten einen Widerstand zu organisieren und zu kämpfen, aber sie waren für einen Kampf weder gerüstet, noch hatten sie gegen die Übermacht der Angreifer eine Chance.
Die Angreifer begannen, junge Frauen und Kinder aus den Häusern zu zerren und dann das Dorf systematisch zu durchsuchen.
Ihr Vater hatte den Kindern immer wieder eingeschärft: “Wenn Feinde das Dorf angreifen, dann lauft in den Wald und versteckt euch! Astolf, du passt auf deine Schwester auf.“
Also nahm Astolf seine kleinere Schwester bei der Hand und rannte mit ihr tiefer in den Wald hinein.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie hinter sich lautes Keuchen, rennende Schritte und durch den Waldboden gedämmten Hufschlag hörten. Astolf deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf eine vor ihnen stehende Eiche mit tief herabhängenden Zweigen, hob Gudrun auf einen der unteren Äste und kletterte hinterher. Sie versteckten sich auf einem der unteren Äste im dichten Laub des Baumes.
Sie waren gerade eben im Baum verschwunden, als Frida, eine junge Frau aus ihrem Dorf, auf ihren Baum zu gerannt kam, dicht gefolgt von einem der fremden Reiter. Frida hatte, um besser laufen zu können, ihre Röcke weit nach oben geschürzt, hielt sie mit beiden Händen fest und lief, so schnell sie konnte, um ihr Leben.
Aber das wendige kleine Pferd des fremden Reiters war sehr viel schneller. Genau unter ihrer Eiche warf sich der Fremde vom Pferd direkt auf Frida und riss sie zu Boden. Sie zappelte und wehrte sich verzweifelt, als ihr der Fremde die Röcke weiter hochzuschieben begann. Als er ihr eine kräftige Ohrfeige gab, zog Frida die Beine an, trat ihm mit beiden Füssen in den Bauch und schleuderte ihn so von sich. Mit einem verblüfften Schmerzenslaut fiel der Fremde hintenüber auf seinen Hintern.
Aber sofort, noch bevor Frida sich aufrappeln und weiter fliehen konnte, war er mit einem wütenden Schrei wieder auf den Beinen, griff mit einer schnellen Bewegung an seinen Gürtel, riss einen Dolch heraus, hieb ihn Frieda an den Hals und durchschnitt ihre linke Halsschlagader. Dann warf er sich wieder auf sie. Frida verblutete, während der Fremde sie vergewaltigte.
Das Ganze war so überraschend schnell gegangen, dass die Kinder im Baum noch nicht einmal einen Schreckensschrei hatten ausstoßen können, und nur starr vor Schrecken nach unten sehen konnten. Gudrun biss sich, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, in den linken Unterarm, um nicht laut zu schreien.
Astolf dagegen fühlte sich auf einmal gar nicht mehr wie ein bald erwachsener Mann, sondern wieder wie ein hilfloser kleiner Junge. Sein Vater hatte zwar bereits vor Jahren damit begonnen, ihm die Grundzüge des Kämpfens beizubringen:
Wie man mit einem Schwert und einem Speer im Krieg umgehen musste,
wie man sich mit einem Schild im Kampf decken musste,
wie man mit Pfeil und Bogen umgehen sollte.
Aber er hatte geglaubt, noch viel Zeit zu haben und bisher nur die Grundzüge gelernt.
Außerdem hatte er weder ein Schwert, noch einen Speer bei sich, nur seinen Jagdbogen. Er war doch nur ein Junge, war noch nie auf einem Kriegszug mit gewesen, hatte noch keinerlei Erfahrung, wie man kämpft, und schon gar nicht gegen einen so schnell reagierenden ausgewachsenen Mann, wie den Fremden dort unten.
Hilflos und vor Angst fast unfähig, sich zu bewegen, musste er mit ansehen, wie unter ihrem Baum Frida starb.
Während Frida unter ihrem Baum unaufhaltsam verblutete, begann sich aber sein Gefühl der Hilflosigkeit in Wut auf den brutalen Fremden zu verwandeln. Eine Zeit lang kämpfte die Angst gegen die und Wut und beide gegeneinander.
Die Wut siegte.
Ganz allmählich wich seine Angst einem eiskalten Zorn.
Vorsichtig, um ja kein verräterisches Geräusch zu machen, griff er in seinen Köcher, holte einen der Pfeile heraus und legte ihn auf die Sehne. Es war ein Jagdpfeil mit einer flachen sehr scharf geschliffenen eisernen Spitze, aber ohne Widerhaken. Leise spannte er den Bogen und zog die Sehne bis zu seinem rechten Ohr durch.
Wieder war die Angst da.
Wenn er jetzt nicht richtig traf, waren auch Gudrun und er verloren. Dieser Fremde dort unten würde spielend leicht mit ihm fertig werden und was dann Gudrun blühte, hatte er eben bei Frida gesehen.
Auf einmal spürte er innerlich, wie die Angst einer eiskalten Ruhe und Sicherheit wich. Er zielte sorgfältig. Auf diese kurze Entfernung konnte er eigentlich nicht danebenschießen und tat es auch nicht. Der Pfeil bohrte sich mit einem leisen ekelhaften „Plopp“ in den Nacken des Fremden.
Der stieß einen kurzen, schrill gurgelnden Schrei aus, griff sich an die Kehle und sackte dann über Frida zusammen.
„Komm“, sagte Astolf leise zu Gudrun. „Hier können wir nicht bleiben. Sie würden uns finden.“
Er hatte plötzlich keine Angst mehr, sondern fühlte eine Ruhe und Sicherheit, die er bisher an sich noch nicht kannte.
Der Fremde war tot.
Woher er das Wissen und die Kraft nahm, jetzt sicher und zielstrebig zu handeln, wusste er nicht. Es kam einfach irgendwie aus ihm heraus.
Er kletterte vom Baum hinunter und eilte die drei Schritte zu dem Fremden, stellte seinen Fuß in dessen Nacken und riss den Pfeil heraus.
Dann bückte er sich und tastete an Fridas Hüfte nach deren Küchenmesser. Als er es endlich fand, zerrte es aus der Scheide und stieß es dem Fremden so in die Pfeilwunde, dass die Spitze an dessen Kehle wieder heraustrat. Danach drückte er Fridas leblose rechte Hand um den Griff des blutverschmierten Messers, nahm Gudrun wieder bei der Hand und rannte mit ihr los.
„Warum hast du das getan?“ keuchte Gudrun während des Laufens.
„Was, den Fremden getötet?“
„Nein, ich meine das mit Fridas Messer.“
„Der Fremde war einer von den Reitern, die unser Dorf überfallen haben. Wenn er nicht wieder zurückkommt, werden seine Leute nach ihm suchen. Wenn sie ihn mit einer Pfeilwunde im Nacken finden, dann wissen sie, dass hier noch jemand ist, und werden auch nach uns suchen. So hoffe ich, dass sie glauben, Frida hätte sich so verzweifelt gewehrt und ihn getötet.“
Am Rande der Blaubeerenlichtung war ein Windbruch mit einem Hohlraum, den sie schon oft beim Spielen als Versteck genutzt hatten. Zu diesem liefen sie jetzt, krochen hinein und versuchten ihren keuchenden Atem zu unterdrücken.
Aus der Richtung ihres Dorfes konnten sie noch eine lange Zeit Lärm hören: Rufe in einer fremden Sprache und Schreie der letzten Dorfbewohner. Dann trat Stille ein.
Wieder hörten sie Hufschlag ganz in ihrer Nähe und Rufe der fremden Reiter. Offensichtlich suchten diese nach dem Mann, den Astolf getötet hatte und nach weiteren Entflohenen.
Aufgeregte Rufe und Stimmengewirr verkündeten ihnen, dass sie den Fremden gefunden hatten. Dann erklang Gelächter, das sich irgendwie höhnisch und schadenfroh anhörte. Nach einer Weile entfernten sich die Hufschläge wieder. Die Reiter hatten offenbar keine große Lust, intensiv nach Entflohenen zu suchen und Astolfs List ging offensichtlich auf. Vom Dorf her war jetzt nur noch das Johlen der Fremden zu hören.
Dann – nach einer Weile - das immer leiser werdende Donnern einer sich entfernenden großen Reitergruppe.
Lange Zeit blieben die Kinder, eng aneinandergedrückt, in ihrer Höhle hocken. Sie zitterten vor Angst und Schrecken über das eben Erlebte. Als sie hörten, dass sie fremden Reiter davonritten, blieben sie noch eine Weile in dem Windbruch hocken. Aber sie konnten nicht auf ewig hier bleiben. Sie wollten vor allen Dingen wissen, ob außer ihnen noch jemand diesen Überfall überlebt hatte und ob ihre Eltern noch am Leben waren.
Langsam überwanden sie ihre Angst. Vorsichtig und leise krochen sie aus dem Windbruch hinaus.
Sofort nahmen sie Brandgeruch war. Astolf legte sicherheitshalber einen Pfeil auf die Sehne und spannte seinen Bogen ein wenig. So schlichen sie den Weg, den sie vorhin gerannt waren, zurück ins Dorf. Jetzt bemerkten sie neben dem Brandgeruch auch die Geräusche eines großen Feuers. Je näher sie dem Dorf kamen, desto stärker wurde der Brandgeruch und desto lauter wurde der Lärm des Feuers.
Als die Kinder aus dem Waldrand heraustraten, konnten sie ihr Dorf sehen, beziehungsweise das, was davon übriggeblieben war.
Es gab kein Dorf mehr. Wo früher die Häuser gestanden hatten, befanden sich jetzt nur noch hell lodernde riesige Feuer. Gerade brach ein solches Feuer – es war dort, wo einst ihr Elternhaus gestanden hatte – mit einem gewaltigen nach oben steigenden Funkenregen in sich zusammen.
Von den fremden Reitern war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Aber auf dem Dorfplatz lag an vielen Stellen etwas, was wie ein Kleiderhaufen aussah. Erst als die verängstigten Kinder sich langsam und vorsichtig aus dem Wald auf die Lichtung wagten, erkannten sie, dass es getötete Menschen, ihre Freunde und Nachbarn, waren.
„Wo sind Mama und Inge?“, fragte Gudrun mit leiser Stimme.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht waren sie noch im Haus, als es verbrannte. Lass uns nachsehen, ob sich außer uns noch jemand irgendwo verstecken konnte. Vielleicht im Wald wie wir.“
Laut zu rufen trauten sie sich anfangs noch nicht. Die fremden Reiter könnten vielleicht noch in der Nähe sein, sie hören und zurückkommen.
Die Kinder huschten geduckt durchs Dorf zwischen den brennenden Häusern hindurch und suchten nach Überlebenden. Aber sie fanden nur weitere Tote. Da von den fremden Reitern nichts zu hören war, auch kein Pferdegetrappel, trauten sie sich jetzt auch, laut zu rufen.
Doch es antwortete ihnen niemand.
Als sie den Pfad erreichten, den ihr Vater mit ihrem Nachbarn am Morgen genommen hatte, um auf der anderen Lichtung zu pflügen, fanden sie ihn und auch den Nachbarn. Der Nachbar war tot, doch ihr Vater lebte noch. Drei Pfeile steckten vorn in seiner Brust und zwei in seinem Rücken. Aber er atmete noch schnell und flach und stöhnte leise. Blut lief aus seinen Mundwinkeln. Sie knieten sich neben ihn und Gudrun stich sanft mit der Hand über seinen Kopf. Das hätte sie sich früher nie getraut.
Plötzlich schlug er sie Augen auf.
„Wasser“, stöhnte er leise.
Gudrun rannte zum Bach und schöpfte mit zusammengelegten Händen etwas Wasser, mit dem sie zurückgelaufen kam. Sie hielt ihm die Hände an den Mund. Viel Wasser war es nicht – eben nur eine Handvoll. Aber es reichte aus, um ihren Vater wieder so weit zu beleben, dass er sich etwas aufrichten und mühsam sprechen konnte.
„Was ist mit eurer Mutter und eurer Schwester Inge?“
„Wir haben sie nicht gefunden. Vielleicht waren sie noch im Haus, als es verbrannte“, sagte Astolf.
„Das Dorf gibt es auch nicht mehr und außer uns hat auch niemand überlebt.“
„Hört zu, ihr beiden.“
Ihr Vater konnte nur noch mühsam sprechen und machte immer wieder längere Pausen.
Gudrun rannte noch einmal los, um ihm etwas Wasser zu holen.
„Ihr habt jetzt nur noch euch. Haltet zusammen!“
Er machte wieder eine Pause.
„Euer Onkel Radolf hat mir bei seinem letzten Besuch bei uns in die Hand versprochen, euch zu sich zu nehmen, wenn eurer Mutter und mir etwas zustoßen sollte. Das ist jetzt der Fall. Versucht zu ihm zu gelangen oder ihm eine Botschaft zu schicken.“
„Wir sollen in die Römerstadt?“ protestierte Astolf.
Es waren zwar Jahrhunderte vergangen, aber bei den Cheruskern waren die Geschichten über die Schlacht im Teutoburger Wald nicht vergessen. Er hatte sie alle oft, und in den unterschiedlichsten Ausschmückungen, während der langen Winterabenden am Feuer in der Halle gehört, und war stolz auf sein Volk und seine eigene Herkunft gewesen.
„Ja, denn er ist jetzt euer nächster lebender Verwandter. Er wird sich um euch kümmern. Hier könnt ihr nicht bleiben.“
Leise stöhnend sank der Vater wieder auf den Boden zurück. Gudrun kniete neben ihm, legte den Kopf auf seine Schulter und weinte leise. Er legte den Arm um sie und hielt sie fest.
„Astolf, gib mir deine Hand“
Seine Worte kamen jetzt nur noch sehr langsam und mit großen Abständen.
Astolf kniete sich ebenfalls neben ihn und ergriff seine Hand.
„Versprich mir, dass du auf deine Schwester aufpassen wirst und dass ihr zu Radolf gehen werdet.“
„Ja Vater, ich verspreche es.“
Astolf war zwar nicht wohl bei dem Gedanken, so weit fort in die Fremde gehen zu müssen, aber er erkannte, dass es der letzte Wunsch seines sterbenden Vaters war. Also gab der sein Versprechen.
Ihr Vater seufzte noch einmal und verlor wieder das Bewusstsein, das er auch nicht wiedererlangte. Kurz nach seinen letzten Worten hörte sein Atmen auf.
Als Astolf sein Ohr an sein Herz legte, konnte er keinen Herzschlag mehr hören.
Ihr Vater war tot.
Sie suchten die Reste des Dorfes nach Dingen ab, die sie vielleicht gebrauchen konnten.
Am Bach fanden sie in einem Brenneselbusch neben dem toten Körper von Gudruns bester Freundin Astrid einen kleinen Kupferkessel. Sie war wohl Wasser holen gewesen, als die Fremden sie gesehen und mit Pfeilen getötet hatten.
Neben dem Backhaus fanden sie einen geplatzten Sack mit Gerstenkörnern und etwas verstreutes Mehl. Sie sammelten die Gerstenkörner in Gudruns Korb und das Mehl in ein Leinentuch, das Astolf aus dem Hemd eines der Toten geschnitten hatte. Es war zwar etwas mit Sand vermischt, aber besser als gar nichts.
Gudrun nahm Astrids Rehlederumhang an sich und Astolf den Hirschlederumhang eines anderen Toten. Sonst gab es nichts mehr im Dorf, was ihnen nützlich sein konnte. Alles, was irgendwie brauchbar war, hatten die Fremden entweder mitgenommen oder es war verbrannt.
„Wir können die Toten doch nicht hier so liegenlassen“, jammerte Gudrun.
„Wir haben nichts gefunden, womit wir sie beerdigen könnten“.
Astolf hatte eine Idee. Er war an den Winterabenden, wenn alle zusammensaßen und sich Geschichten aus der Vergangenheit erzählten, immer ein aufmerksamer Zuhörer gewesen und hatte besonders Erzählungen aus der Vergangenheit geradezu in sich aufgesogen.
„Heute beerdigen wir unsere Toten, aber unsere Vorfahren haben vor Hunderten von Jahren ihre Toten verbrannt. Holz liegt hier genug herum. Wir bauen einen Scheiterhaufen, legen so viele der Toten darauf, wie wir können, und verbrennen sie, damit keine wilden Tiere ihre Körper fressen können.“
Es wurde eine anstrengende Arbeit. Erst trugen sie Brennholz zusammen und schichteten es auf einen sehr großen Haufen, dann zerrten sie so viele der Toten hinauf, wie sie drauflegen konnten. Vor allen Dingen ihren Vater, ihren Nachbarn und Gudruns Freundin Astrid.
Als Astolf mit einem brennenden Scheit von einem der immer noch schwelenden Häuser den Holzstoß anzünden wollte, unterbrach ihn Gudrun:
„Was ist, wenn die Fremden den Rauch des Feuers sehen und zurückkommen?“
Astolf deutete in die Runde und nach oben: „Die Häuser qualmen immer noch und über unserem Dorf steht eine gewaltige Qualm Wolke. Ich glaube nicht, dass sie den Rauch dieses Feuers von dem anderen unterscheiden werden.“
Sie verbrannten so viele der Toten, wie sie konnten. Die anderen legten sie, soweit sie diese überhaupt finden konnten, in einer Reihe neben das Feuer. Dann bleiben sie eine Weile neben dem brennenden Feuer mit gesenkten Köpfen stehen und nahmen Abschied. Gudrun weinte wieder und Astolf stand mit grimmigem Gesicht neben ihr. Anschließend verließen sie den Ort, der einmal ihr Zuhause gewesen war.
Die Nacht verbrachten sie, ohne etwas zu essen, in ihrer kleinen Höhle im Windbruch. Hunger verspürte keiner von beiden. Auch schlafen konnten sie nicht. Astolf hatte seinen ersten Menschen getötet und ihm war bei der Erinnerung übel. Auch wenn er ein Feind gewesen war, spürte er doch ein Würgen in der Kehle. Die Gedanken abschütteln und an etwas Anderes denken konnte er aber auch nicht. Ständig sah er den toten Fremden mit dem Pfeil im Nacken vor seinem geistigen Auge.
Auch Gudrun war von den Ereignissen im Dorf und unter der Eiche völlig verstört und wimmerte ständig leise vor sich hin. Sie hatten sich aneinander festgehalten und waren irgendwann in einen kurzen unruhigen schlafähnlichen Dämmerzustand gefallen.
Am Morgen hatten sie die beiden kleinen Brote mit einigen Blaubeeren hinuntergewürgt. Gudrun weinte unentwegt, bis sie keine Tränen mehr hatte.
„Wie sollen wir in die Römerstadt kommen?“, fragte sie schließlich, als die Weinkrämpfe nachließen, ihren Bruder.
„Vater hat mir, als Onkel Radolf im vorigen Jahr zu Besuch gekommen war, gesagt, dass sie weit im Westen an einem sehr großen Fluss liegt. Wir müssen zuerst nach Süden gehen, bis wir an einen Fluss kommen und dem Verlauf dieses Flusses dann flussabwärts folgen, bis wir zu seiner Mündung in den großen Fluss kommen. Dort soll irgendwo die Römerstadt sein, in der unser Onkel lebt. Aber wir werden wohl einige Wochen brauchen, um sie zu erreichen.“
„Und was sollen wir essen? Mutter hat mir zwar einige essbare Waldpflanzen gezeigt, aber von denen allein werden wir nicht leben können.“
„Als ich im letzten Herbst mit Vater auf der Jagd war, hat er mir auch viele Pflanzen gezeigt, die man essen kann. Einige weiß ich noch. Und obendrein“
– und hier warf er sich stolz in die Brust –
„werde ich für uns jagen. Ich hoffe aber, dass wir unterwegs auf andere Dörfer unseres Stammes treffen. Nicht weit von hier soll Gernot leben, ein weit entfernter Vetter unseres Vaters. Ich habe aber keine Ahnung, wo sein Dorf liegt und wie wir es finden sollen.“
Sie wanderten weiter durch den Wald über Stock und Stein. Einen Weg oder Pfad gab es nicht. Sie orientierten sich nach dem Stand der Sonne, die sie durch das Laub der Bäume als Lichtschein erkennen konnten.
„Ich habe einen solchen Durst“, sagte Gudrun.
„Wir waren ganz schön dumm. Wir hätten in dem Kupferkessel Wasser mitnehmen sollen. Lass und weitergehen. Hoffentlich finden wir bald irgendwo einen Bach oder eine Quelle.“
Am frühen Nachmittag fanden sie einen Wildpfad, der in etwa in der groben Richtung verlief, in die sie wollten. Er war kaum zu erkennen und nicht viel mehr als eine Spur zwischen den Büschen und Sträuchern.
Doch sie folgten ihm, weil sie jetzt etwas schneller gehen konnten, und kamen - die Sonne stand bereits weit im Westen - auf eine große, von der Sonne beschienene Lichtung und eine Wiese, auf der jetzt im Frühsommer viele Wildblumen blühten.
Nach Westen und Norden war die Lichtung von Felsen begrenzt, die stellenweise eine zwei bis vier Meter hohe Steilwand bildeten. In dieser Felsformation entsprang auf einem kleinen erhöhten Absatz eine Quelle und schlängelte sich als Bächlein durch die Wiese. Auf der Lichtung verteilt standen mehrere große Himbeerbüsche. Auch Brombeeren sahen sie und in der Nähe des Waldrandes Blaubeeren.
In der Felsformation fanden sie in nahe der Quelle einen idealen Lagerplatz. Etwas höher gelegen als die Wiese gab es eine flache Kuhle unter einem Felsüberhang. Hier legten sie ihre wenigen Sachen ab und löschten zuerst ihren Durst mit dem frischen Quellwasser.
Dann meldete sich bei ihnen beiden der Magen.
„Los, nichts wie rein in die Himbeeren!“
Sie liefen zum nächstgelegenen Himbeergebüsch und begannen die reifen Beeren zu pflücken und sich in den Mund zu stecken.
„Habe ich einen Hunger“, murmelte Astolf mit vollem Mund und schob sich die nächste Hand voll Himbeeren hinein. Gudrun sagte gar nichts, sie kaute nur noch.